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DEPRESSIONEN - BLEIBT WIRKLICH NICHTS ZURÜCK?

Wahrscheinlich drohen vor allem kognitive Rest-Störungen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis), besonders im höheren Lebensalter

Depressionen gehören zu den gefürchtetsten, weil quälendsten und auch selbsttötungs-gefährlichsten seelischen Störungen. Doch ein Trost blieb immer: Depressionen vergehen - und es bleibt nichts zurück, nichts im seelischen, geistigen, körperlichen und - hoffentlich - auch zwischenmenschlichen Bereich. Doch das ist zumindest für die geistige Leistungsfähigkeit in Einzelfällen nicht (mehr) zu halten. Immer mehr Untersuchungen legen den Verdacht nahe, dass vor allem kognitive Defizite, also Störungen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis fortbestehen können, allerdings nicht müssen. Nachweisbar ist das zumeist testpsychologisch, wobei sich diese Erkenntnisse sowohl neuro-endokrinologisch (z. B. Neurotransmitter = Botenstoffe im Gehirn), als auch durch bildgebende Verfahren wie Computer- und Kernspintomographie untermauern lässt. Ein solch weiterbestehendes Residual- oder Rest-Syndrom betrifft vor allem ältere Patienten. Auf sie sollte besonders geachtet werden. Denn die geistige Leistungsfähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Rehabilitation und gelungene familiäre und berufliche Reintegration. Dabei sollte man auch Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine und die antipsychotisch wirkenden Neuroleptika zurückhaltender verordnen, denn sie können die geistigen Einbußen verstärken. Für die Basis-Medikation einer Depression, die stimmungsaufhellenden Antidepressiva gilt dies glücklicherweise nicht. Sie beeinflussen die geistige Leistungsfähigkeit offenbar nicht so negativ.

Depressionen - häufig und gefürchtet

Depressive Störungen zählen weltweit zu den häufigsten Erkrankungen. Trotz unterschiedlicher Zahlenangaben spricht man heute von einer sogenannten Lebenszeitprävalenz (das Risiko, mindestens einmal im Leben zu erkranken) von 7 bis 18 %, am häufigsten auf 15 % geschätzt. Geschlechtsspezifisch sollen 5 bis 12 % der Männer und 10 bis 25 % der Frauen irgendwann im Verlaufe ihres Lebens unter einer depressiven Episode zu leiden haben. Die Punktprävalenz für depressive Störungen (Anzahl der für einen bestimmten Zeitpunkt als krank, in diesem Fall depressiv angetroffenen Personen) lag nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) früher zwischen 3 und 5 % der Weltbevölkerung, heute bei über 10 %.

Nun gehört die Depression zwar zu den quälendsten und selbst in der Allgemeinbevölkerung und ohne eigene Erfahrung zu den gefürchtetsten seelischen Störungen. Dafür darf man bei der ja meist phasenhaft verlaufenden Gemütsstörung Depression in der Regel mit einer vollständigen Wiederherstellung der seelischen, geistigen und psychosozialen Gesundheit rechnen (Fachausdruck: vollständige Remission oder Vollremission). Tatsächlich können Arzt und Angehörige, Freunde, Nachbarn und Mitarbeiter diesen günstigen Krankheitsausgang immer wieder bestätigen, weshalb der tröstliche Satz gilt:

Depressionen vergehen wieder und es bleibt nichts zurück.

Allerdings wurde diese Erkenntnis aus Fachkreisen schon vor Jahrzehnten in Frage gestellt. Schon um die Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieb man sogenannte "zyklothyme Residualsyndrome", also fortdauernde Rest-Beeinträchtigungen. Und dies sowohl bei der "klassischen Melancholie", als auch bei manisch-depressiven Erkrankungen mit abwechselnden Stimmungstiefs und -hochs. Das ließ sich auch bei späteren Nachuntersuchungen immer wieder bestätigen. Neben der in der Tat erfreulichen vollständigen Genesung wurde immer wieder von sogenannten "asthenischen Residualsyndromen" (Zustand einer Art "Rest-Schwäche") und "symptomarmen blanden Chronifizierungen" (sich langsam entwickelnder Langzeitverlauf) berichtet, bei denen zwar auch nicht allzu viel zurückblieb, aber auch nicht mehr alles so war wie früher.

Dies lag nicht zuletzt daran, dass man früher in der Psychiatrie, sei es im klinischen Alltag oder in der Wissenschaft, vor allem von den schizophrenen Psychosen (siehe die ausführlichen Kapitel) fasziniert war. Und die können im Negativ-Fall in der Tat durch fortlaufende seelische, geistige, psychosomatische (seelische Störungen, die sich körperlich äußern) und damit psychosoziale Beeinträchtigungen belasten. Von dort stammen dann auch zahlreiche Fachbegriffe wie das schizophrene Residuum (schizophrener Residual- oder Restzustand), das in der Tat eine unglückliche Ausgangslage für die so wichtige gesellschaftliche, berufliche und partnerschaftliche Wiedereingliederung sein kann (wie man in den "chronischen Stationen" der psychiatrischen Krankenhäuser, vermehrt auch in entsprechenden Heimen und anderen Betreuungseinrichtungen sehen kann).

Die sogenannte depressive Pseudodemenz

Über mögliche Restzustände affektiver (Gemüts-)Störungen wie bei der Depression gab es hingegen wenig zu erfahren, bis vor einigen Jahrzehnten. Dann aber kam ein eigenartiger Begriff auf, nämlich der der "depressiven Pseudodemenz".

Demenz kommt vom lateinischen: de = Wortteil mit der Bedeutung von: weg, ab, herab sowie mens = Denkvermögen, Verstand, Vernunft. Gemeint ist also jemand ohne Verstand und Vernunft, ein Sammelbegriff für den erworbenen Abbau intellektueller Funktionen oder Leistungen (Intelligenzminderung, volkstümlich: "Verblödung"). Verbunden ist damit eine sich in der Regel schleichend entwickelnde Wesensänderung: Nachlassen von Gedächtnis und Erlebnisfähigkeit, Vergröberung entsprechender Charaktereigenschaften, Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Einengung des Interessenkreises, Gefühlslabilität, Kritikschwäche usw. Im Endzustand auch einschneidende körperliche Behinderungen, z. B. Verlust der Kontrolle über Blasen- und Mastdarmfunktion, neurologische Ausfälle u. a.

Nun wird eine Demenz meistens mit einem hohen Alter verbunden (Stichwort: Demenz vom Alzheimer-Typ, Alzheimer-Demenz). Doch das muss nicht sein. Demenzen können durch vielerlei Ursachen ausgelöst werden. Das geht vom Kopfunfall über Stoffwechselstörungen oder andere internistische Leiden bis zu Hirntumoren und arteriosklerotischen Altersfolgen, wobei auch hier verschiedene Arten von Demenzen zu unterscheiden sind.

Und selbst Depressionen machen während ihrer schwersten Zeit mitunter einen geradezu dementen Eindruck. In den Schilderungen ist dann meist "nur" von Denk- und Konzentrationsstörungen die Rede. Doch neben dieser "Gedächtnisschwäche" findet sich auch ein eigenartig langsames, umständliches, zähflüssiges und mühsames Denken, eine geradezu erschreckende Ideenarmut bis hin zur gefürchteten "Leere im Kopf" (die in der unbegründeten Panik, so bleibt es, jetzt ende man als Alzheimer-Patient, auch zur verzweifelten Selbsttötung führen kann). Die Betroffenen meinen schwachsinnig geworden zu sein und wirken tatsächlich interesselos bis gleichgültig, "fad, öd und leer". Und das, was an geistiger Aktivität noch bleibt, wird oft durch unfruchtbares Gedankenkreisen (Problem-Grübeln), durch eine entscheidungsunfähige, wankelmütige, zwiespältige, hin- und hergerissene, alles bis zum Ende durchdenken wollende und dann von neuem anfangende Einstellung neutralisiert.

Aber so entsetzt die Betroffenen und ihre Angehörigen auch waren bzw. immer noch sind, es wurde und wird stets besser, es blieb und bleibt auch in Zukunft (fast) nichts zurück. Und alle waren und sind letztlich dankbar für diesen Ausgang, zumal ihnen diese am Schluss doch fast unerwartete Genesung schon zuvor von Haus- und Nervenarzt versichert zu werden pflegt.

Doch nicht alle Patienten, alle Angehörigen, Freunde und Mitarbeiter konnten bzw. können der gleichen Meinung sein. Irgendetwas bleibt doch zurück, nicht in jedem Fall, nicht dauernd, vielleicht nur unter Stress oder zusätzlichen Belastungen, aber eigentlich stimmt nicht nur der Satz: "Es bleibt nichts zurück", sondern auch das ungute Gefühl: "Nichts ist mehr so wie es war".

Die Wissenschaft brauchte lange, bis sie dies konkret untersuchte - und bestätigen musste. Besonders in den letzten 20 Jahren wurde klar: Verfeinerte Untersuchungstechniken scheinen zu zeigen, dass die sogenannte depressive Pseudodemenz bzw. das dementielle Syndrom der affektiven Störungen (vor allem die Schwermut) nicht in allen Fällen auszuschließen ist. Allerdings geht es hier um ein breites Spektrum von "fast nichts feststellbar" bis zu "schwereren kognitiven Einbußen".

Was heißt kognitive Defizite?

Der Begriff Kognition, vom lateinischen cognoscere = erkennen bzw. cognitio = Kennenlernen, Erkennen, ist eine Sammelbezeichnung für alle Prozesse und Strukturen, die mit dem Wahrnehmen und Erkennen zusammenhängen. Zu den kognitiven Leistungen gehören aber auch Vorstellen, Wissen, Denken, Kommunikation und Handlungsplanung.

Wie lassen sich nun entsprechende Defizite objektivieren?

Als erstes denkt man an sogenannte neurobiologische Auffälligkeiten, wie sie schon bei den Schizophrenien, später auch - wenn auch nicht so ausgeprägt - bei Depressionen, manischen Hochstimmungen und manisch-depressiven Erkrankungen festgestellt wurden, allerdings ohne die Bedeutung der einzelnen Veränderungen konkret zu erfassen. Vor allem ist es schwer zu deuten, welche organischen Anomalien im Gehirn tatsächlich (siehe unten) ursächlich an der Entstehung beispielsweise einer Gemütskrankheit beteiligt sind und welche vielleicht nur eine Reaktion auf das Leiden darstellen.

Neurobiologische Auffälligkeiten bei Depression und Manie finden sich auf neuroendokrinologischem Gebiet (z. B. Kortikoide, Schilddrüsen- und Wachstumshormone) und bei den Neurotransmittern, den Botenstoffen, die die Funktionen des Gehirns sichern (z. B. Serotonin, Noradrenalin, Dopamin, Gamma-Aminobuttersäure, Acetylcholin u. a.). Neurobiologische Veränderungen sind aber auch objektivierbar durch sogenannte bildgebende Verfahren wie Computer- und Kernspintomographie: tendenzielle Erweiterungen der Seitenventrikel (Hirnkammern) und der Gehirnfurchen, Dichte-Veränderungen der Gehirnrinde, vor allem im Bereich des Stirnhirns und der Scheitellappen, wobei Veränderungen an der linken Hirnhälfte eher zu depressiven und solche der rechten eher zu manischen Syndromen führen sollen.

Funktionelle bildgebende Verfahren wie PET und SPECT, mit denen man die regionale Hirndurchblutung bzw. den regionalen Glucosestoffwechsel des Gehirns prüfen kann, zeigen bei Depressionen eine Verminderung von Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel in ganz bestimmten Hirnregionen, die mit bestimmten Symptomen einer Gemütsstörung in Verbindung gebracht werden (also z. B. vordere Gehirnrinde). Inzwischen gibt es bestimmte Hypothesen und Modelle, bei denen eine solche Dysregulation (Störung der Gehirnfunktionen) in bestimmten Gehirnregionen für bestimmte Symptome einer Gemütsstörung angenommen wird (also z. B. Aufmerksamkeit auf der einen sowie vegetative Funktionen wie Schlaf, Appetit u. a. auf der anderen Seite).

Kognitive Leistung und neuropsychologische Tests

Kognitive Funktionsstörungen lassen sich aber auch durch neuropsychologische Testung erfassen. Dabei geht es vor allem um Aufmerksamkeit, Gedächtnis und problemlösendes Denken. Allerdings lassen sich die ja eng miteinander verbundenen Funktionsbereiche kaum exakt trennen, so wie dies im Alltag ja auch nicht möglich ist. Dabei handelt es sich um mehr oder weniger strukturierte Interviews, aber auch um computerisierte Verfahren mit zum Teil hoch-komplizierten Techniken. Dazu zählen nicht nur die allgemein bekannten Intelligenztests, sondern inzwischen eine große Zahl von speziellen Methoden, die spezifische Gehirnfunktionen prüfen können.

Depression und kognitive Langzeitfolgen - Ergebnisse

Sicher ist, dass die depressionsbedingten Einbußen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis von verschiedenen Faktoren abhängen, wobei einer besonders einleuchtet: der Schweregrad des Leidens. Entsprechende Untersuchungen bei stationär behandlungsbedürftigen (und damit schwereren) Depressionen in einer Fachklinik ergaben folgende Ergebnisse (C. Bullacher, 2000):

Bei vielen depressiven Patienten - und zwar unabhängig von der Art der affektiven (Gemüts-)Störung - finden sich deutliche kognitive Defizite, vor allem in puncto Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Die bisher vorliegende Literatur bestätigt dies, wobei allerdings die prozentualen Angaben - je nach Klientel und methodischem Aufwand - weit streuen. In der Regel schaffen es aber nur wenige krankenhausbedürftige depressiv Kranke in den herkömmlichen Tests durchweg unauffällige Ergebnisse zu erzielen, vor allem was Korrektheit und Schnelligkeit ihrer Leistungen anbelangt. Ohne jetzt auf fachspezifische Einzelheiten einzugehen, seien doch einige Stichworte genannt, die die psychopathologische (seelisch-krankhafte) Entwicklung im Rahmen einer Depression charakterisieren sollen: verminderte Aufmerksamkeitsleistung bei Dauerbelastung, verlängerte Lösungszeit, reduzierte Geschwindigkeit bei entsprechenden Tests, verlängerte kognitive (geistige) Verarbeitungs- bzw. Entscheidungszeiten, psychomotorische (seelisch-körperliche) Verlangsamung, schlechtere Ergebnisse im Wort-Wiedererkennungstest (verminderte Lösungsgüte), Gedächtnisstörungen (wobei jedoch nicht alle Gedächtnisfunktionen betroffen sein sollen), Wiedererkennungsstörungen (kontrovers diskutiert) u. a.

Wichtig für den Alltag aber sind die äußeren Aspekte oder konkret: Was beeinträchtigt außer der Depression als Krankheit sonst noch? Dazu einige Ergebnisse in Stichworten:

Schweregrad der affektiven Störung

Dass der Schweregrad der Depression eine Rolle spielt, ist nachvollziehbar. Sonderbarerweise gibt es aber auch hier uneinheitliche Ergebnisse. So lässt sich keine einfache Korrelation (statistische Verbindung) zwischen Schweregrad der Erkrankung und kognitiven Leistungsdefiziten objektivieren. Manchmal zeigen sogar schwer depressive Patienten geringere Einbußen als leicht Erkrankte. Und solche mitten in der Depression weniger ausgeprägt als jene Patienten, die sich bereits im fortgeschrittenen Genesungszustand befinden.

Vor allem aber scheint sich eines zu bewahrheiten: Kognitive Störungen finden sich nicht nur während oder kurz nach einer Depression. Sie können auch längere Zeit (oder gar lebenslang?) belasten, wenngleich sicher geringer ausgeprägt als im schweren depressiven Tief. In der Fachsprache heißt dies, dass nur mit einer "partiellen Rückbildung der kognitiven Störungen nach Ende der depressiven Phase" gerechnet werden darf. So werden beispielsweise die Depressiven wieder so flexibel wie früher, doch kann es trotzdem Rest-Einbußen bei Reaktionsgeschwindigkeit, Neu-, Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, bei Wahlreaktionen u. a. geben (wie die entsprechenden Fachbegriffe lauten).

Woher das kommt, bleibt bisher unklar. Das kann auf der biologischen Seite eine irreversible (nicht mehr normalisierbare) neuronale Veränderung der Gehirnstrukturen sein. Das können auch Medikamenteneffekte sein (viele Patienten erhalten sinnvollerweise ihre Medikamente noch weit über die Depression hinaus, bis sich wieder "alles stabilisiert" hat). Das kann eine fortbestehende "subklinische Depression" sein, also eine leichtergradige Verstimmung, die noch eine Weile "nachhängt". Und das können strukturelle Veränderungen des Gehirns sein (z. B. Erweiterung der Ventrikel (Hirnkammern) und Dichte-Veränderungen der weißen Hirnsubstanz), wie bei zumindest einem Teil der Betroffenen diskutiert wird.

Für den Praxisalltag aber ergibt sich folgende Erkenntnis: Kognitive Defizite bei affektiven Störungen (Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen bei Depressionen) hängen zwar eng mit dem Schweregrad des Leidens zusammen, doch lässt sich dies nicht durchgehend feststellen. Und manche Einbußen können auch die depressive Phase überdauern bzw. länger bestehen bleiben (wie lange? lebensbegleitend?).

Diese Erkenntnis steht jedenfalls im Widerspruch zu der früheren und natürlich auch tröstlichen Vorstellung von den Depressionen, die restlos ausheilen sollen.

Kognitive Störungen und Zahl der depressiven Phasen

Bei den schizophrenen Psychosen zeigt sich häufig ein Zusammenhang zwischen Anzahl der Krankheitsepisoden und zunehmendem Rest-Beschwerdebild, oder kurz: je häufiger schizophrene Episoden, desto nachhaltiger und ausgeprägter die seelischen, geistigen, körperlichen und damit psychosozialen Langzeit-Konsequenzen. Da zumindest ein Teil der Rest-Symptome, nämlich die sogenannten asthenischen Residualsyndrome (also die Einbußen von Spannkraft, Ausdauer und Leistungsfähigkeit, d. h. oft erschöpft, müde, erholungsbedürftig, dazu empfindlich, ängstlich und verstimmt einschließlich vegetativer, insbesondere Schlafstörungen u. a.) bei Schizophrenen und Depressionen sehr ähnlich ausfallen, ging man von der Überlegung aus: Auch bei den Depressionen nehmen kognitive Störungen mit der Zahl der Erkrankungsphasen und vor allem wachsender Erkrankungsdauer zu. Doch obgleich dies auch für Depressionen einsichtig und nachvollziehbar ist, lässt sich das offenbar bisher nicht bestätigen (wobei man auch bei schizophrenen Psychosen inzwischen die gleiche Ansicht diskutiert).

Bisher ist also nicht bewiesen, dass die Zahl der depressiven Phasen und damit die Erkrankungsdauer Aufmerksamkeit und Gedächtnis zunehmend beeinträchtigen. Wer also immer wieder krank wird, ist in diesem Falle nicht unbedingt schlechter dran (ganz abgesehen davon, dass er die Rückfälle mit den heutigen Behandlungsmöglichkeiten reduzieren bzw. völlig ausschalten kann).

Geschlecht und kognitive Leistungsfähigkeit

Bezüglich des Geschlechts lassen sich keine Unterschiede feststellen. Eine Ausnahme zeigen lediglich Reaktionszeit und Dauer der Aufmerksamkeit, was aber weniger mit der Krankheit, mehr mit dem spezifischen Geschlechtsunterschied auch Gesunder zusammenhängt (Frauen zeigen hier eine größere Streubreite der Untersuchungsergebnisse als Männer, also von "optimal bis ganz schlecht"). Die depressionsbedingten kognitiven Leistungsdefizite hängen also offensichtlich nicht mit dem Geschlecht zusammen.

Kognitive Leistungsfähigkeit und Alter

Dagegen finden sich auch bei den früheren Untersuchungsergebnissen schlechtere kognitive Leistungen mit zunehmendem Lebensalter. Dies betrifft vor allem die sogenannte Lösungsgüte aber - überraschend - weniger die Schnelligkeit in den verschiedenen Tests. Und besonders (in Fachbegriffen) die Bereiche selektive Aufmerksamkeit und episodisches Gedächtnis, weniger die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit.

Nun wurde schon früher diskutiert, ob es einen Zusammenhang zwischen depressiven Störungen und dem späteren Auftreten einer Demenz bei älteren Patienten gibt. Als mögliche Ursachen erörtert man einerseits für depressiv Erkrankte eine Prädisposition (Neigung) zu einer späteren dementiellen Entwicklung. Zum anderen könnte eine depressive Verstimmung im höheren Lebensalter das erste Symptom einer dementiellen Störung sein. Und drittens fällt ja bei alten Menschen beides gar nicht so selten zusammen (siehe die beiden ausführlichen Kapitel Depression und Alzheimer Demenz).

Eine allseits befriedigende Erklärung ist bis heute nicht möglich. Deshalb sollte man auch obige Theorie nicht überbewerten. Dass bestimmte kognitive Leistungen im Alter ohnehin und im Rahmen einer Depression noch ausgeprägter abnehmen, vielleicht auch länger fortbestehen, ist nachvollziehbar und kein Grund zur Besorgnis. Es bleibt aber die Erkenntnis: Je älter der Depressive, desto eher ist mit nachweisbaren geistigen Leistungseinbußen zu rechnen.

Medikamentöse Behandlung

Depressionen brauchen stimmungsaufhellende Antidepressiva. Nun können Psychopharmaka im allgemeinen und antipsychotische Neuroleptika im speziellen, aber auch (bestimmte) Antidepressiva die kognitive Leistungsfähigkeit durchaus beeinträchtigen. Diese Erkenntnis ist so alt wie die Psychopharmaka.

· Bei den (vor allem älteren, d. h. trizyklischen und tetrazyklischen) Antidepressiva mit anticholinerger und antihistaminerger Wirkkomponente können im Experiment schon durch die einmalige Gabe solcher Arzneimittel negative Einflüsse auf verschiedene Teilbereiche der kognitiven Leistungsfähigkeit nachgewiesen werden. Doch hier handelt es sich in der Regel um gesunde Probanden (Versuchspersonen). Bei den Depressiven mit ohnehin beeinträchtigter geistiger Leistungsfähigkeit spielt dies erst einmal keine Rolle und führt im weiteren Verlauf der Depressions-Behandlung ja zu deutlicher Milderung und Verkürzung des Leidens, einschließlich kognitiver Defizite. Mit anderen Worten: Selbst die ältere Generation der Antidepressiva ist unersetzlich und mögliche medikamenten-bedingte Einbußen stehen in keinem Verhältnis zu ihrem Wirkerfolg, vom positiven Endergebnis ganz abgesehen.

Die neue Generation von Antidepressiva, vor allem die Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zeigen ohnehin keine negativen Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit.

Etwas schwieriger wird es im höheren Lebensalter. Hier sind besonders die älteren Antidepressiva mit ihren anticholinergen und antihistaminergen Effekten im Vergleich zu anderen (insbesondere neueren) Antidepressiva im Nachteil. Deshalb bevorzugt man zunehmend und trotz Kostendruck die neuere Antidepressiva-Generation generell und im höheren Lebensalter ohnehin.

· Die sogenannten Phasen-Prophylaktika, also Lithiumsalze, Carbamazepin und Valproinsäure, scheinen kontroverser diskutiert zu werden, zumindest was das Lithium anbelangt (siehe auch die entsprechenden Kapitel). Doch sind auch hier die Vorteile gegenüber den möglicherweise dezenten geistigen Einbußen durch diese Arzneimittel unübersehbar. Auch wenn es sich oft um eine "lebensbegleitende" Behandlung handelt, die ihre eigenen Probleme aufwirft.

· Bezüglich der - allerdings bei Depressionen nur selten eingesetzten - antipsychotischen Neuroleptika (siehe das ausführliche Kapitel Neuroleptika) werden ebenfalls unterschiedliche Einflüsse diskutiert. Im Experiment an gesunden Probanden sind die Folgen deutlicher als bei ohnehin beeinträchtigten seelisch Kranken (vor allem Schizophrenen und Depressiven). Doch auch hier gilt es zu bedenken: Mögliche Nebenwirkungen auf kognitiver Ebene sind nicht auszuschließen, gemessen am Endresultat (nämlich der Eindämmung des Beschwerdebildes einschließlich Rückfall-Vorbeugung) aber eigentlich zweitrangig. Und: Auch bei den Neuroleptika (Antipsychotika) gibt es ältere (mitunter schwerer belastende) und neuere (sogenannte atypische) Neuroleptika, die weniger beeinträchtigen, auch auf kognitiver Ebene.

· Etwas anderes ist es bei den Sedativa oder Tranquilizern (Beruhigungsmitteln) und Hypnotika (Schlafmitteln). Hier ist die kognitive Beeinträchtigung eine alte Erkenntnis, die auch durch neuere Studien immer wieder bestätigt wird (z. B. Lösungszeit und Lösungsgüte in entsprechenden Tests). Die dafür zumeist genutzten Benzodiazepine beeinträchtigen vor allem die Gedächtnisfunktionen. Dabei spielt die Höhe der Dosis, die Dauer und möglicherweise auch die Art des Benzodiazepins eine Rolle.

Schlussfolgerung

Kognitive Defizite, vor allem in Bezug auf Aufmerksamkeit und Gedächtnis, sind häufige Symptome bei affektiven Störungen, vor allem im Akut-Stadium und auch im weiteren Verlauf. Dies lässt sich z. B. bei Depressionen in sogenannten funktionellen und strukturellen bildgebenden Verfahren nachweisen. Allerdings hängt es vom Schweregrad des depressiven Zustandsbildes und der kognitiven Leistungsfähigkeit in gesunden Tagen ab. Bisher war man jedoch der Meinung, dass eine vollständige Remission, d. h. Wiederherstellung aller seelischen, körperlichen, geistigen, körperlichen und psychosozialen Funktionen einschließlich krankheitsbedingter kognitiver Defizite die Regel sei.

Inzwischen wird ein Restzustand diskutiert, den man als depressives Residualsyndrom bezeichnen würde. Damit wäre auch die Depression im ungünstigsten Falle keine restlos ausheilende Erkrankung.

Dies betrifft vor allem Depressionen im höheren Lebensalter. Hier scheinen die Defizite am beharrlichsten fortzubestehen. Deshalb wird auch die Frage erörtert: Können Depressionen im höheren Lebensalter eine spätere dementielle Entwicklung bahnen?

Ob auch die eingesetzten Medikamente die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis beeinträchtigen, über die krankheitsbedingten Defizite hinaus, ist umstritten. Beruhigungs- und Schlafmittel spielen in der Tat eine Rolle, sind aber gerade bei Depressionen nur zusätzliche und meist zeitlich begrenzte medikamentöse Maßnahmen. Auch Neuroleptika können hier einen gewissen Einfluß ausüben, wenn auch weit geringer. Sie werden aber bei Depressionen immer seltener genutzt (entweder als Zusatz-Medikation zu den Antidepressiva bei ausgesprochen unruhig-gespannten Depressiven (niederpotente Neuroleptika) oder bei wahnhaften Depressionen: zusätzlich hochpotente Neuroleptika).

Antidepressiva hingegen, seien es die klassischen tri- und tetrazyklischen und schon gar nicht die neuere Generation, haben offenbar keinen nachhaltigen negativen Einfluß auf die geistige Leistungsfähigkeit.

LITERATUR

Sehr spezielles, wenngleich wichtiges Thema, das immer gründlicher wissenschaftlich bearbeitet und inzwischen auch in Klinik und Praxis berücksichtigt wird, vor allem was die Rehabilitation anbelangt. Allgemeinverständliche Beiträge hingegen sind noch selten.

Grundlage vorliegender Zusammenfassung ist die Doktorarbeit

C. Bullacher: Kognitive Störungen bei depressiven Patienten. Zusammenhänge mit klinischen und demographischen Parametern. Dissertation an der Universität Ulm, 2000

Weitere Fachbücher:

APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-IV. Hogrefe-Verlag, Göttingen-Bern-Toronto 1996

Cramon, D. Y. v. und Mitarb.: Neuropsychologische Diagnostik. VHC-Verlagsgesellschaft, Weinheim 1993

Schulte, W., W. Mendel (Hrsg.): Melancholie in Forschung, Klinik und Behandlung. Thieme, Stuttgart 1969

Huber, G.: Psychiatrie. Schattauer-Verlag, Stuttgart - New York 1999

LeDoux, J.: Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. Carl Hanser-Verlag, München-Wien 1998

Markowitch, H. J.: Neuropsychologie des Gedächtnisses. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Toronto-Zürich 1992

Marneros, A. und Mitarb.: Affektive, schizoaffektive und schizophrene Psychosen. Springer-Verlag, Heidelberg 1991

Marneros, A.: Handbuch der unipolaren und bipolaren Erkrankungen. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 1991

Dudel, J. und Mitarb. (Hrsg.): Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 1996

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