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Bettina von Jagow, F. Steger (Hrsg.):
LITERATUR UND MEDIZIN
Ein Lexikon
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005. 183 S., € 59,00.
ISBN 3-525-21018-3

Die Mediziner und Psychologen Karl Jaspers, Viktor Emil von Gebsattel und Sigmund Freud waren beileibe nicht die einzigen ihrer Disziplin, wohl aber die berühmtesten, die auf die fruchtbare Wechselwirkung von Literatur und Medizin hinwiesen. Doch es ist nicht nur die Seelenheilkunde, die in der Literatur eine Rolle spielt (wenngleich wohl überwiegend), es sind alle medizinischen Disziplinen auf der einen Seite und alle Gattungen der Literatur auf der anderen, die dieses spannende Wechselspiel ermöglichen. Dabei erfährt der neugierige Leser bereits im Geleitwort des empfehlenswerten Lexikons Literatur und Medizin, dass es auch spezifische Affinitäten zwischen bestimmten Bereichen der Medizin und verschiedenen literarischen Gattungen gibt:

Die Empfindungen des kranken Menschen werden bevorzugt im Gedicht ihr Medium finden; die Entwicklung des Kranken und seine vielschichtige Abhängigkeit von der Umwelt im Prosawerk; Verhalten und unmittelbare soziale Beziehungen im Drama. Und neue Möglichkeiten eröffnen der Essay, die Satire und das Lehrgedicht, die im Verlauf der neuzeitlichen Entwicklung unterschiedliches Gewicht erlangten (D. v. Engelhard).

Besondere Beachtung verdienen nach Ansicht der Experten die folgenden acht Dimensionen der Darstellung und Deutung der Medizin: Pathophänomenologie (ein in der Psychiatrie nicht (mehr) üblicher Begriff, wobei vor allem K. Jaspers (s. o.) vor rund 100 Jahren allerdings eine "phänomenologische Richtung der Psychiatrie" begründete, die sich um Beschreibung und Klassifikation der pathologischen (krankhaften) psychischen Phänomene bemühte), Ätiologie (Krankheits-Ursache), Diagnose und Therapie, Subjektivität des Kranken, Arztbild, medizinische Institution, soziale Reaktion und Symbol.

Um sich hier aber nicht im Spekulativen zu verlieren, haben Verlag, Herausgeber und Autoren einen sinnvollen Kompromiss gesucht. Praktisch jedes Stichwort von Abtreibung bis Zwang beginnt mit dem Beschreibungs-Inventar der beiden wichtigsten operationalisierten Klassifikationssysteme, nämlich der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem DMS-IV der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA).

Das ist ein guter Einstieg für den Arzt und Psychologen und eine nützliche Hilfe für den interessierten Laien. Im Kernstück der Texte werden dann die Stichwörter (Fachbegriff: Lemmata) aus Literatur, wissenschaftlicher sowie medizin- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive darstellt. Es beginnt mit einer begriffs-, respektive kulturgeschichtlichen Einleitung, die dann in die literarische Repräsentation der europäischen Literatur mündet (vor allem deutschsprachige, englische, französische, italienische, spanische und russische sowie in Einzelfällen auch amerikanische Beispiele). Die Auswahl richtet sich nach dem literarischen Kanon (Gesamtheit der festgelegten Regeln für ein Fachgebiet), aber auch nach Buchmarkt, Film und Theater.

Verlag, Herausgeber und Autoren verstehen ihr Lexikon als einen Beitrag zur human-wissenschaftlichen Grundlagenforschung, die den aktuellen Dialog zwischen Geistes- und empirischen Wissenschaften anregen soll. Die Auswahl der Stichwörter richtet sich nach der gegenseitigen Bedeutsamkeit für Literatur und Medizin.

Das Lexikon ist u. W. ein in dieser Form bisher einmaliges Angebot im deutschsprachigen Raum. Es liegt einerseits in dem positiven Bildungs-Trend, der sich in unserer Zeit und Gesellschaft zunehmend abzuzeichnen beginnt (natürlich gestützt von marktwirtschaftlich orientierten Verlags-Initiativen, was auch völlig akzeptabel ist - wie auch anders). Für die Mediziner (und Psychologen) kommt es allerdings zu ungünstiger Zeit. Warum? Der "Heilstand" wird gerade bürokratisch überflutet und finanziell ausgeblutet. Ob da noch freie Valenzen für die "schönen Künste" übrig bleiben, besonders was die ja bekanntlich anstrengende Literatur anbelangt? Umgekehrt: Vielleicht gerade jetzt, deshalb, trotz allem und Gott-sei-Dank…

Wie auch immer: Das Lexikon Literatur und Medizin ist ein geistiger Gewinn, nicht immer ganz leicht zu lesen, stellenweise (notgedrungen) stark verdichtet, natürlich auch gewisse Bildungs-Voraussetzungen nahe legend, gleichwohl ein empfehlenswertes Werk, das man sich gönnen sollte, auch und gerade in schwerer Zeit. Denn wie sagte Marcel Proust: "Das wahre Leben, das einzige von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur" (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).