Start Psychiatrie heute Seelisch Kranke Impressum

A. Lenz:
KINDER PSYCHISCH KRANKER ELTERN
Hogrefe-Verlag, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle-Oxford-Prag 2005, 227 S., € 29,95
ISBN 3-8017-1872-7

„Patienten haben auch Angehörige“, lautet der bekannte Seufzer – meist unerhört. Denn was soll man tun? Ein wenig Verständnis, Zuwendung, kleine Signale der Unterstützung wären aber schon möglich, trotz der komplizierten Mehrschichtigkeit dieser Situationen. Das setzt allerdings ein gewisses Grundlagen-Wissen voraus. Und dies wiederum konkrete Informationen. Aber woher?

Einzelhinweise finden sich seit jeher, aber breit gestreut – und damit in der Regel unauffindbar, wenn man sie bräuchte. Dies gilt für das Verhältnis „erwachsene Patienten – erwachsene Angehörige“ und noch mehr für die besonders konfliktträchtige Belastung „erwachsene Patienten, die sogar die Eltern sind und ihre Kinder“. Auch darüber gibt es natürlich einzelne Publikationen, Hinweise in Lehrbüchern und entsprechende Kapitel in Sammelbänden. Jetzt liegt auch eine umfassende Monographie zum Thema „Kinder psychisch kranker Eltern“ vor: detailliert, wissenschaftlich fundiert (und damit zugegebenermaßen auch nicht ganz einfach zu lesen) und vor allem mit hilfreichen Betreuungs-, Behandlungs- und Präventions-Anregungen versehen.

Autor ist Dr. phil. Albert Lenz, Prof. für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte (Sozial- und Gemeindepsychiatrie, Beratung und Jugendhilfe, soziale Lebenswerke u.a.) prädestinieren ihn für die vom Lande Nordrhein-Westfalen finanzierte Forschungsaufgabe, die er zusammen mit dem St. Marienhospital Eickel und dem Stadt- und Kreisjugendamt Paderborn durchführte. Was sind seine Ergebnisse?

Zuvor aber ein Überblick über den Stand der Forschung. Dabei lassen sich drei verschiedene Forschungs-Traditionen unterscheiden:

Kinder psychisch kranker Eltern: Risikoforschung – Resilienz- und Bewältigungsforschung – Vulnerabilitätsforschung

Die Risikoforschung bestätigt, was schon jeder ahnt: Kinder, die in Familien aufwachsen, in denen ein Elternteil psychisch krank ist, sind in vielfältiger Weise davon betroffen und stehen unter erhöhtem Risiko, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Zahlreiche Untersuchungen schätzen, dass das kindliche Störungsrisiko um den Faktor zwei bis drei gegenüber einer gesunden Vergleichsgruppe erhöht ist. Auch das bekannte Drei-Drittel-Ergebnis kommt hier offenbar zum Tragen: ein Drittel der untersuchten Kinder weisen keinerlei Beeinträchtigungen auf, ein weiteres Drittel lediglich vorübergehende Auffälligkeiten, beim restlichen Drittel zeigen sich fortdauernde seelische Störungen. Die Kinderpsychiater konnten zeigen, dass ein Drittel der Kinder in stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung mindestens einen psychisch kranken Elternteil haben.

Die Auffälligkeiten betreffen vor allem die sozial-emotionale (also zwischenmenschliche und gemütsmäßige) sowie kognitive (geistig-intellektuelle) Entwicklung. Am häufigsten finden sich depressive Störungen, aber auch aggressive, dissoziale und hyperkinetische („Zappelphilipp“) Verhaltensstörungen.

Bei der Frage nach der Ursache drängt sich natürlich die Schlussfolgerung auf: Hier spielen vor allem genetische Faktoren eine wichtige Rolle. Das stimmt auch, besonders für Kinder von schizophren Erkrankten (während das generelle Lebenszeitrisiko 1% beträgt, liegt die Wahrscheinlichkeit für Kinder schizophrener Eltern bei 10 - 15%, und zwar nicht nur für eine eigene Schizophrenie, auch für andere seelische Störungen). Das Risiko für eine affektive, also Gemütsstörung wie Depression und/oder Manie ist etwa 3- bis 6-mal höher als bei unauffälligen Eltern. Sind beide Elternteile depressiv erkrankt, liegt die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei rund 70%.

Noch problematischer wird es offenbar bei Eltern mit einer Persönlichkeitsstörung, ggf. noch mit einer Suchterkrankung kombiniert. Auch bei Angststörungen liegt das Risiko um das 7-fache über dem Durchschnitt.

Allerdings kommt hier oftmals eines zum anderen: Denn vor allem bei den erwähnten Krankheiten der Eltern drohen die oben dargestellten Defizite zu erheblichen Schwierigkeiten im Verhältnis zu den Kindern auszuwachsen. Oder fachlich gesprochen: „So dringen gerade gestörte Affekte bei Kindern unvermittelt und unsystematisch in das Denken ein und lassen es ungeordnet und irrelevant erscheinen, was zu gravierenden Kommunikationsproblemen und zu erheblichen Unterbrechungen in der Aufmerksamkeits- und Zuwendungshaltung führt. Denkstörungen können zudem starke Ängste und Feindseligkeit auslösen. Häufig beschrieben ist affektive Übererregtheit und eine verringerte verbale Expressivität und Kommunikation.“

Oder kurz: Das Verhalten psychisch erkrankter Eltern, insbesondere mit Schizophrenie, ist schon für Erwachsene kaum nachvollziehbar, um wie viel mehr für (die eigenen) Kinder. Das kann zu depressiven und ängstlich-zurückgezogenen Reaktionen führen, stört Aufmerksamkeit, affektive Kontrolle und soziales Miteinander. Später kommen dazu noch geistige Einbußen und mitunter schwer nachvollziehbare Einstellungen, Überlegungen und Verhaltensweisen hinzu. Ganz zu schweigen von handfesten Problemen im Familien-Alltag: eheliche Konflikte, familiäre Disharmonien, unzureichende soziale Unterstützung, Rückzug, Isolation, eingeschränkte Lebensbedingungen bis hin zu finanziellen Problemen, engen Wohnverhältnissen oder gar Armut.

Dabei muss die alte Erkenntnis in Erinnerung gerufen werden, dass mehrere Risikofaktoren im Rahmen einer kindlichen Entwicklung sich nicht nur einfach addieren, sondern wechselseitig verstärken (potenzieren). Am Schluss steht eine überdurchschnittlich hohe Scheidungsrate, was zum Teil Entlastung bringt, aber auch die bekannten Konsequenzen nach sich zieht.

Interessant auch die Erfahrung, dass es nicht nur die elterliche Diagnose ist, die eine normale kindliche Entwicklung zu ruinieren vermag. Belastende Faktoren sind auch Dauer (je länger, desto schwerwiegender: Chronizitäts-Faktor), Rückfallhäufigkeit, die Zahl und Dauer der symptomfreien Perioden, der Schweregrad der Erkrankung und das gemeinsame Auftreten mehrerer psychosozialer Risikofaktoren.

Außerdem scheint sich eine mütterliche Erkrankung gravierender auf die kindliche Entwicklung auszuwirken als dies schon beim Vater droht (was aber auch ein wissenschaftlicher Selektions-Fehler sein könnte).

  • Interessant auch der Alters- und Geschlechtsfaktor auf Seiten der Kinder: So zeigen zwar Kinder aller Altersstufen ein erhöhtes Risiko für emotionale und Verhaltensprobleme bei elterlicher Erkrankung, doch wird der Zusammenhang zwischen Krankheit und kindlichen Konsequenzen mit zunehmendem Alter immer enger, oder auf Deutsch: Je älter das Kind und je mehr es bewusst „mitbekommt“, desto nachhaltiger die Belastungen und ihre Folgen. Auch sollen Töchter depressiver Mütter möglicherweise verwundbarer sein als Jungen (wobei gemütsmäßig erkrankte Mütter offenbar eine intensivere „Interaktion“ mit ihren Töchtern pflegen – offensichtlich zu deren Lasten).
  • Nun weiß man aus der so genannten Resilienz- und Bewältigungsforschung (s. u.), dass Kinder in schwierigen familiären und sozialen Konstellationen durchaus in der Lage sind, ihr Leben adäquat zu meistern. „Selbst lang dauernde Erziehung durch zwei schizophrene Eltern prädestinieren ein Kind nicht dazu schizophren oder auch abnorm zu werden“ (M. Bleuler, 1972). Natürlich ist eine Gefährdung nicht auszuschließen, das bedeutet aber kein absolutes Hindernis für eine gesunde Entwicklung. Dasselbe gilt auch für Kinder, die in einem manisch-depressiven Milieu aufgewachsen sind. Ziel der Resilienz-Forschung (Resilienz = Spannkraft, Elastizität, Nachgiebigkeit, auch im seelischen und psychosozialen Sinne, fachlich als bio-psycho-soziale Adaption bezeichnet) ist es, die protektiven (Schutz-)Effekte personaler und sozialer Ressourcen zu identifizieren und zu aktivieren.

Was ist – nach den bisherigen Forschungsergebnissen – ein Schutzfaktor gegen das Risiko durch psychisch gestörte Eltern selber seelisch krank zu werden?

  • Beispielsweise ein robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament. Schwieriger wird es, wenn man selber eine „heikle Wesensart“ entwickelt. Dann wird man auch öfter Zielscheibe (elterlicher) Kritik, Reizbarkeit oder gar Feindseligkeit – mit allen Folgen was Konflikte, Überforderung und Verschlechterung der ohnehin belastenden Situationen anbelangt.
  • Ausgeprägte emotionale Einfühlungs- und Ausdrucksfähigkeit sowie gute soziale Problemlösungsfähigkeiten.
  • Was die Frage der Intelligenz betrifft, so ist man sich hier noch nicht sicher. Beide Überlegungen haben etwas für sich: Hohe Intelligenz lässt alles, auch die umgebenden Problembereiche differenzierter wahrnehmen – im Guten wie im Schlechten. Bei niederer Intelligenz ist es gerade umgekehrt: Vielleicht weniger sensibel ansprechend, dafür aber dann die nicht ausreichend realisierten Konsequenzen mit umso größerer Wucht akzeptieren müssen.
  • Eher Selbstvertrauen, ein positives Selbstwertgefühl, überzeugt von der eigenen Selbstwirksamkeit.
Ausreichend alters- und entwicklungsadäquate Aufklärung über die Erkrankung der Eltern und ihre Behandlung.
  • Sichere emotionale Bindung an eine Bezugsperson, z. B. zu dem gesunden Elternteil oder einen sonstigen nahen Verwandten/Bekannten. Hier gilt es dann nur rechtzeitig die Ablöse-Problematik zu beachten.
  • Wichtig ist auch das ganze Erziehungsklima, d. h. empathisch, freundlich, zugewandt, dabei trotzdem feste und klare Verhaltensregeln und viele gemeinsame Aktivitäten.
  • Ein möglichst stabiles Familienklima, vielleicht sogar eine gute Paarbeziehung, trotz aller Belastungen, was auch in schwierigen Situationen Sicherheit und Geborgenheit vermittelt (und in negativer Hinsicht zusätzlich Angst, Unsicherheit und Loyalitätskonflikte aufwirft).
  • Art und Umgang des erkrankten Elternteils mit seinem Leiden: innere Einstellung, aktuelle Bewältigungsform (Verleugnung, Überbewertung, Über- oder Unterforderung – oder ein ausgeglichenes Verhältnis). Außerdem die Einsicht in Krankheit und präventive Maßnahmen zur Rückfallverhinderung (Beruhigung!) sowie gute Kooperation mit den Therapeuten (vor allem medikamentöse Einnahme-Zuverlässigkeit).
  • Wichtig ist auch eine Haltung, die die Krankheit akzeptiert, ohne in eine fatalistische Resignation zu verfallen. Stichwort: hilfreich ausbalancierte Einstellung zur angemessenen Krankheitsbewältigung. Dabei unterstützen vor allem lebenspraktische familiäre Organisationen und Aufgabenverteilung, die Nutzung von informellen Hilfsmöglichkeiten im sozialen Netzwerk, die Anpassung der beruflichen bzw. schulischen Situation an die Erkrankung, die Zusammenarbeit mit der Psychiatrie und anderen medizinisch-therapeutischen Bereichen wie Jugendhilfe u. a.
  • Tatsächlich sind Umfang und Qualität des sozialen Netzwerkes, in das das Kind kranker Eltern eingebunden ist, von hoher Bedeutung für seine Entwicklung. Hier ist auch an Lehrer, Erzieher, Freunde, Nachbarn, ja Schulkameraden zu denken. Sie alle können Rückhalt und Sicherheit bieten und zu einem Puffer in Krisensituationen werden. Sie gehören zu den stillen Grundlagen für ein aktives und konstruktives Bewältigungsverhalten.
  • Das fruchtbarste Bewältigungsverhalten für Kinder und Jugendliche, die trotz Belastungen und Risiken gesund bleiben bzw. sich rasch wieder erholen, zeigt folgende Kennzeichen:
  • aktive, problem-orientierte Strategien
  • direkte Auseinandersetzung mit den Problemen und vor allem wenig Neigung zur Verleugnung oder Verzerrung der Realität
  • die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Bewältigungsstrategien zu wählen und diese je nach Ziel, emotionaler Belastung oder vorhandener Unterstützung flexibel einzusetzen (ganz wichtig für den End-Erfolg!) und
  • die Fähigkeit, ein hilfreiches soziales Netzwerk aufzubauen und dies zur eigenen Unterstützung heran zu ziehen.
  • Die Vulnerabilität (vom lat.: vulnus = Wunde) ist der Gegenpol zur Resilienz. Sie gibt die Verletzbarkeit (hier des Kindes) gegenüber äußeren ungünstigen Einflussfaktoren an. Die Absenkung der individuellen Ertragbarkeits-Schwelle durch bestimmte Reize, die schließlich zu Stressoren werden, ist vor allem durch die Möglichkeit zur Gegenregulation geprägt. Kann man nicht gegenhalten, ist das Gleichgewicht gestört.

Psychiater wie der Schweizer L. Ciompi (1982) betrachten das Modell der Vulnerabilität als wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung akuter schizophrener Episoden bei Erwachsenen. Die Schizophrenie ist nach ihrer Meinung eine Störung der Informationsverarbeitung des Gehirns. Diese Störung wird zum Problem, wenn bei bestimmten Belastungen die Bewältigungsmöglichkeiten des vulnerablen Menschen nicht ausreichen, um die von außen oder innen kommenden Reize aufzunehmen, zu ordnen, zu verstehen und zu bewerten – und vor allem darauf adäquat zu reagieren.

Grund dieser Informations-Verarbeitungsstörung ist ein fehlender Filter im Gehirn, mit dessen Hilfe Wahrnehmungen ausgewählt und nach Bedeutungsgehalt geordnet werden. Der gesunde Mensch registriert, filtert, wählt damit aus was für ihn wichtig und nützlich ist und löscht den (meist großen) Rest. Damit bleibt er gleichsam im Lot und gesund. Das psychisch (schizophren) erkrankte Gehirn hat aber Schwierigkeiten bei der Decodierung der Informationen und vor allem Zuordnung zu bestimmten Erfahrungen (was ist wichtig, was kann entfallen). Je komplexer und gemütsmäßig bedeutsamer die Reizsituation, desto kritischer wird diese Unfähigkeit.

Im heranreifenden Gehirn von Kindern sind diese individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und Abwehrmechanismen noch schneller überfordert. Es kommt in Belastungssituationen zu einer regelrechten Überflutung durch sich von innen und außen aufdrängende Informationen. Das kann auf der seelischen Ebene zu Anspannung, ja zu Angst und tiefgreifenden Erschütterungen des kindlichen Selbst- und Wertverständnisses führen. Im Laufe der reifenden Entwicklung aber lernt der Gesunde damit umzugehen. Das (schizophren) erkrankte Gehirn hingegen muss mit diesem Defizit den Rest des Lebens zurechtkommen.

  • Wie steht es nun mit der Vulnerabilität eines kindlichen Gehirns, wenn es den psychischen Auffälligkeiten von Vater oder Mutter in eigener früher Entwicklung ausgeliefert ist? Diese Entwicklung verläuft ungünstiger als bei Kindern gesunder Eltern.
  • Das kann man bereits im frühen Säuglingsalter nach wenigen Monaten feststellen. Defizite in der sprachlichen und sogar nicht-sprachlichen Entwicklung, vermehrte Aggressivität und Hyperaktivität u. a. Dabei ist die Mutter von größerer Bedeutung als der Vater. Hierbei beeinflusst der psychische Zustand der Mutter nicht nur die Entwicklung des Kindes, sondern auch die mütterliche Erfahrung im Umgang mit dem Kind (also die Mutter-Kind-Beziehung). Das führt zu noch weit reichenderen Konsequenzen (und besagt, dass man bei der Behandlung der Mutter auch das Kind oder die Kinder mit einbeziehen sollte).
  • Die gestörte Mutter-Kind-Beziehung bei depressiven Müttern äußert sich in konkreten Defiziten wie weniger Interesse und gemütsmäßige Beteiligung, weniger einfühlsam, vermehrt negative Gefühle bis hin zur Feindseligkeit, eher passiv, eingeschränkte Fähigkeiten zwischenmenschlicher Kommunikation, häufiger inkonsequent, wenig elterliche Unterstützung für das Kind, sieht die Rolle als Erzieherin weniger positiv, fühlt sich den Ansprüchen nicht gewachsen und als wenig kompetente Eltern, empfindet die Erziehungssituation als schwierig, das Kind als auffällig (obgleich von Außenstehenden nicht bestätigt) u. a.
  • Bei schizophren erkrankten Müttern finden sich ähnliche Defizite: desorganisiert, unsensibel, ja unberechenbar, die Kinder (unbeabsichtigt) vernachlässigend, was vor allem bei denkgestörten Müttern vorkommt. Das äußert sich natürlich nicht nur in einem Mangel an Sensitivität und positiver Emotionalität, sondern auch in weniger spielerischem Kontakt und damit Lernmöglichkeiten für das Kind. Und das ist – leider – selbst nach dem Abklingen der akuten psychotischen Störung noch lange nicht behoben, falls überhaupt.
  • Die Folgen lassen nicht auf sich warten: Diese Kinder sind oftmals außerstande, ihre Aufmerksamkeit zu konzentrieren, Umweltreize zu ordnen und nützlich umzusetzen, in zurückgezogenem Zustand vor allem mit sich selbst beschäftigt, dann aber auch wieder schnell quengelig und unruhig, ja sogar hyperaktiv, wenn man sich schließlich mit ihnen abgibt usw.

Wird das Verhalten der psychisch kranken Mutter als nicht aggressiv, aber (plötzlich) überstimulierend bewertet, reagieren die Kinder meist mit Abwendung und Passivität (was die Mutter als Ablehnung ihrer Bemühungen auffasst und mit noch stärkerer Stimulation zu beantworten sucht – ein Teufelskreis). Ist die Überstimulation aggressiv gefärbt, so reagieren Kinder mit Protest und körperlicher Abwehr bzw. Erstarrung. Im Extremfall können sie – beispielsweise in ein elterliches Wahnsystem eingebunden – die Symptome bzw. krankhaften Reaktionen von Mutter (oder Vater) übernehmen und sich damit in ein regelrechtes Krankheitssystem (meist wahnhafter Natur) verfangen sehen.

„Forschungsprojekt „Kinder als Angehörige – Einbeziehung der Kinder in die Behandlung psychisch kranker Eltern“

Welche Ergebnisse finden sich nun bei dem neuen Forschungsprojekt „Kinder als Angehörige – Einbeziehung der Kinder in die Behandlung psychisch kranker Eltern“, wie sie Prof. Dr. Albert Lenz mit seinem Untersuchungs-Team erarbeitet hat? Dazu einige Vorbemerkungen:

Wenn es auch schon zahlreiche Studien gibt, so fehlen doch wissenschaftliche Daten, um über die Bedeutung und Wertigkeit der einzelnen Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen sowie die Auswirkungen der verschiedenen Belastungs- und Schutzaspekte auf die kindliche Entwicklung konkretere Aussagen machen zu können. Um also einen authentischen Einblick in die Erlebens- und Gefühlswelt so betroffener Kinder zu gewinnen, vor allem ihre Vorstellungen, Gedanken und Wünsche nach Unterstützung, wurde in dieser Untersuchung mehrschichtig vorgegangen. Dabei konnte man sich auf folgende, bereits vorliegende Erkenntnisse stützen:

Die Angaben über den Anteil psychisch kranker Eltern mit minderjährigen Kindern schwanken zwischen 9 und 61% (!). Das liegt daran, dass ganz unterschiedliche Populationen untersucht wurden (entweder nur Frauen oder bestimmte Diagnosegruppen). Zahlen zu Vaterschaft und psychischer Erkrankung liegen bislang kaum vor („Mutterlastigkeit“ entsprechender Studien). Wenn beide Geschlechter erfasst wurden, sind zwei Drittel Frauen und ein Drittel Männer (bei großen Schwankungen, je nach Untersuchung).

Alle Studien gemeinsam ist die Erkenntnis: Psychisch kranke Eltern sind keine Randgruppe. Die Mehrzahl lebt mit ihren Kindern zusammen. Die „Mutterlastigkeit“ geht nicht zuletzt darauf zurück, dass eindeutig mehr psychisch erkrankte Frauen Kinder haben und mit diesen in einem Haushalt wohnen.

Die Statistik leidet auch darunter, dass nicht wenige psychisch kranke Eltern, insbesondere Mütter, gegenüber Hilfsangeboten und professionellen Einrichtungen oftmals sehr reserviert und vorsichtig sind. Sie haben Angst, ihr Sorgerecht zu verlieren. Damit ist auch die statistische Erfassung unzureichend. Auch wissen viele nicht, ob sie überhaupt Hilfe beanspruchen können und wenn, wie diese aussehen soll. Und welche Institutionen als Anlaufstelle dafür zuständig sind.

Dabei ahnen die Betroffenen schon recht gut, wo ihnen geholfen werden könnte. Interessanterweise ist dies vor allem der Wunsch, Unterstützung bei der Aufklärung ihrer Kinder über ihre Krankheit zu bekommen. Eltern mit jüngeren Kindern wünschen sich in erster Linie Unterstützung in der Erziehung und im emotionalen Umgang mit ihren Kindern. Eltern mit älteren Kindern Unterstützung und Anregung zur Aufrechterhaltung der Beziehung zu ihren Kindern.

Konkrete Beeinträchtigungen der Kinder sind vor allem Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsabfall in der Schule, Appetitlosigkeit, soziale Ausgrenzung, Konflikte mit Betreuungspersonen und ängstliches Verhalten. Dem zufolge sieht auch der Wunschkatalog aus: Psychotherapie für die Kinder, Unterstützung in Freizeitaktivitäten, Kontaktmöglichkeiten mit Gleichaltrigen, Hilfen bei Schularbeiten und im Haushalt – und immer wieder: Aufklärung der Kinder (zwei Drittel recht und schlecht, ein Drittel überhaupt nicht aufgeklärt, so vermutet man in einer Studie).

Die häufigsten Symptome, die sich bei den Kindern psychisch kranker Eltern abzuzeichnen pflegen, sind Nägelkauen, aggressive Durchbrüche, Schulschwierigkeiten, Schlafstörungen, Überaktivität, Kontaktprobleme und Einnässen.

Was fand man nun in vorliegender Studie?

Von 808 befragten PatientInnen hatten 27% Kinder unter 18 Jahren. Drei Viertel lebten mit ihren Kindern zusammen (mehr Frauen als Männer).

Diagnostisch fanden sich praktisch alle seelischen Leiden: am häufigsten Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Neurosen und Psychosen.

Wie aber steht es mit der Versorgung der Kinder während des Klinikaufenthaltes? Die meisten Kinder werden im familiären bzw. engeren verwandtschaftlichen Umfeld versorgt. Besuche schauen für die hospitalisierten Patienten allerdings nur selten heraus, obgleich dies positive Auswirkungen auf die Genesung hätte (auch wenn das Klinik-Umfeld manchem Betroffenen dann doch auch Sorgen bereitet).

Den Kindern würden regelmäßige Kontakte mehr Gewissheit über den Zustand des erkrankten Elternteils verschaffen. Sie wären weniger auf Vermutungen und falsche Schlussfolgerungen angewiesen, die sich schnell zu quälenden Überlegungen zuspitzen können. Dann wäre auch der dringende Informations- und Aufklärungsbedarf konkreter abdeckbar.

Das hätte auch für die Kinder Bedeutung, und zwar in eigener Sache. Denn rund ein Viertel der Patienten beiderlei Geschlechts (und hier vor allem depressiv Erkrankte) schätzen ihre Kinder als auffällig bzw. im Grenzbereich zwischen auffällig und unauffällig ein. Oder konkret:

Jedes vierte Kind wird von einem psychisch erkrankten Elternteil als selber nicht (mehr) „gesund“ bezeichnet.

Die häufigsten Probleme sind sozialer Rückzug, körperliche Beschwerden, Ängstlichkeit, Depression, dissoziales oder gar aggressives Verhalten, zwanghaft, wenn nicht gar schizoid u. a.

Wie sehen es aber die betroffenen Kinder selber? Auch dazu gibt es neue Untersuchungserkenntnisse von A. Lenz:

Die Ergebnisse dieser Studie, in der die betroffenen Kinder eines erkrankten Elternteils ihre Gedanken, Gefühle, ihr Handeln und ihre Unterstützungswünsche zum Ausdruck bringen konnten, sprechen Bände:

  • Zum einen das Alter, von dem man annimmt, dass es erst bei Jugendlichen zu kritischen Überlegungen befähigt. Das ist ein Irrtum. Bereits Kinder zwischen 7 und 13 Jahren sind durchaus in der Lage, eine eigenständige, kritische und von der Erwachsenenperspektive abweichende Sichtweise zu äußern bzw. Position einzunehmen.

Diese Erkenntnis steht im Gegensatz zu den Einschränkungen, die häufig im Zusammenhang mit Kinderbefragungen beschrieben werden. Danach tendieren Kinder in ihren Antworten stark zur Harmonisierung und sozialer Erwünschtheit, pflegen auf entsprechende Fragen möglichst positiv zu reagieren und dabei insbesondere Eltern und andere nahestehende Erwachsene oder Freunde zu idealisieren. Wunsch und Realität würden in den Selbstauskünften dieser Altersstufen nicht selten ineinander fließen.

Das mag dann zutreffen, wenn solche Fragen außerhalb des kindlichen Erfahrungswissens liegen. Berühren die Themenkreise hingegen ihre konkreten Belange, die sich auf unmittelbare Erfahrung beziehen, können auch Kinder sehr wohl eigenständige Auskünfte geben. Zum Beispiel:

  • Kinder sind durchaus sensible Beobachter ihrer erkrankten Eltern. Sie kennen und benennen eine Reihe von Frühwarnzeichen, an denen sich eine Verschlechterung des psychischen Zustandes ihrer Mutter oder ihres Vaters festzumachen pflegt.
  • Die Gemütslage von Kindern ist gekennzeichnet durch Trennungsängste, Furcht vor Verschlimmerung der Krankheit oder gar einem möglichen Suizid des betroffenen Elternteils, ferner von Resignation und Hoffnungslosigkeit und ggf. von Wut, weil sie sich vernachlässigt, ungerecht behandelt oder ungeliebt fühlen.
  • Bei den Jugendlichen stehen Ängste vor einer möglichen eigenen Erkrankung, Schuldgefühle nach teilweise vehementen Distanzierungs- und Abgrenzungsversuchen von der Familie, starkes Verantwortungsgefühl und Trauer über den Verlust einer elterlichen Identifikationsfigur im Vordergrund.
  • Die zunehmende Verschlechterung des Gesundheitszustandes, evtl. die krisenhafte Entwicklung mit Suiziddrohungen und verschärften elterlichen Konflikten kennzeichnen das Familienleben vor der Klinikeinweisung. In dieser Phase geraten die Kinder immer mehr in Auseinandersetzungen der Eltern hinein und damit in massive Loyalitätskonflikte. Mit dieser Belastungssituation müssen sie fast ausnahmslos alleine fertig werden.
Da sie meist keine verständnisvollen Bezugspersonen haben, nehmen insbesondere während des Klinikaufenthaltes der Mutter Gefühle der Leere und des Alleinseins zu. Teilweise sind sie mit gravierenden Veränderungen im Familienleben konfrontiert, was zusätzliche Aufgaben bringt (z. B. den Vater im Haushalt zu entlasten).
  • Die Zeit nach dem Klinikaufenthalt ist durch eine Atmosphäre der Vorsicht, der Rücksichtnahme und Schonung geprägt, aber auch von der Angst vor einem erneuten Rückfall. Die Kinder richten sich danach (Tagesablauf, eigene und fremde Bedürfnisse).
  • Bei Jugendlichen kommt es häufig zu einer Rollen-Umkehr, vor allem wenn sie spezifische Aufträge im Rahmen von Klinikaufenthalt und Funktionsaufteilung übernehmen müssen. Dies betrifft meist Haushaltsführung oder Erziehung der jüngeren Geschwister. Tun sie das nicht, geraten sie in heftige Schuldgefühle.
  • Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen führt die Erkrankung des Elternteils auf psychosoziale Belastung, vor allem Überforderung, Stress und bestimmte Lebensereignisse zurück.
  • Jugendliche beschäftigt aber auch bereits die Frage nach möglichen Vererbungs-Risiken. Auch werden schon biologische oder organische Aspekte diskutiert, seltener belastende Kindheitserfahrungen und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale.
  • Bei Jugendlichen und vor allem Kindern sind die Besuche in der Klinik zumindest in der Anfangsphase mit vielen Vorbehalten und Ängsten verbunden, die sich aus den stereotypen Bildern über die Psychiatrie und ihre Kranken ergeben, aber auch aus den räumlichen und baulichen Gegebenheiten auf der Station. Deshalb ist nicht nur ein regelmäßiger, sondern auch intensiver und vor allem informations-dichter Kontakt mit dem Pflegepersonal von großer Bedeutung. (Was auch für den Therapeuten gilt, zu dem aber gerade Kinder und Jugendliche nur selten vorstoßen können.)
  • Die entscheidende Informationsquelle ist und bleibt deshalb der erkrankte Elternteil, während der Gesunde mehr zu Umschreibungen, Umdeutungen, Hypothesen im eigenen Sinne u. a. neigt. Einige Jugendliche beschaffen sich aber auch ein relativ differenziertes Wissen, an dem sich dann bei gezielter Vorsprache, Zeit und gutem Willen die psychiatrischen und psychologischen Experten beteiligen können. Hier geht es dann meist um die Frage, wie man sich gegenüber dem erkrankten Elternteil verhalten soll und wie er nach Entlassung zu unterstützen ist.
  • Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen neigt aber auch zu defensiv-vermeidenden Bewältigungsstrategien, zieht sich zurück oder flieht in eine Phantasiewelt. Wird Hilfe gesucht, dann vor allem bei Großeltern und Gleichaltrigen mit einem ähnlichen Erfahrungshintergrund.
  • Als besonders wichtige Form der Unterstützung bezeichnen Kinder und Jugendliche ehrliche und offene Antworten auf ihre Fragen. Sie wollen nicht geschont werden, sondern die Wahrheit hören. Jugendliche wünschen sich darüber hinaus eine aktive Einbeziehung in die Behandlung ihres erkrankten Elternteils. Kontakt- und Austauschmöglichkeiten in Gruppen und eine gezielte Aufklärung der Öffentlichkeit über psychische Krankheiten sind in ihren Augen weitere wichtige Unterstützungsangebote.

Das alles legt folgende Konsequenzen nahe, wie Prof. Dr. A. Lenz in diesem wichtigen Kapitel zusammenfasst:

1.Informationsvermittlung und Aufklärung als übergreifendes Hilfsangebot: erkennen, anerkennen und unterstützen.

2.Altersadäquate Formen entwickeln, konsequent anbieten und nachhaltig empfehlen, die die Kinder und Jugendlichen in die Behandlung des erkrankten Elternteils einbeziehen.

3.Die Möglichkeiten soziale Ressourcen (z. B. Hilfe durch Selbsthilfe) zu fördern und zu stärken, und zwar über den stationären Aufenthalt hinaus.

Mit anderen Worten: Patienten haben auch Angehörige – nicht zuletzt Kinder. Das sollte man nicht vergessen und danach handeln (VF.).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).