Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
WAS IST EIN WAHN?Der Wahn: das komplexeste Phänomen seelischer Störungen
Obgleich ein Wahn meist rasch erkennbar und relativ sicher von anderen Symptomen zu unterscheiden ist, gibt es nicht einmal eine allgemein anerkannte Definition. Am besten nachvollziehbar heißt es: · Wahn ist die krankhaft entstandene Fehlbeurteilung der Realität. An dieser Fehlbeurteilung wird mit absoluter Gewissheit und unkorrigierbar festgehalten, selbst wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit, zur eigenen Lebenserfahrung und zum Urteil gesunder Mitmenschen steht. Häufig will der Wahnkranke seine wahnhafte Überzeugung gar nicht korrigieren. Für ihn ist sie unerschütterlich und unanfechtbar. In seinem übrigen Denken vermag er dabei sogar folgerichtig zu urteilen. So ist der Wahn nicht nur eine Störung des Denkens oder Urteilens. Er ist auch Ausdruck einer veränderten Umweltbeziehung. Und vor allem ist der Betroffene unfähig, dieses subjektive Bezugssystem, eigentlich ein "Wahn-Gefängnis" zu wechseln, seinen Wahn-Symptomen also zu entrinnen. Komplex ist der Wahn schon deshalb, weil es verschiedene Formen des Wahnerlebens gibt. Dazu gehören Wahnstimmung, Wahneinfall, Wahngedanken, Wahnwahrnehmungen, Wahnarbeit, Wahnerinnerungen, schließlich sogar ein Wahnsystem (siehe Text-Kasten).
Die wichtigste Hilfe zum Verständnis eines Wahns für den ratlosen Gesunden im Umfeld eines solchen Kranken ist die Erkenntnis: Die Wahnwirklichkeit ist die einzige Wirklichkeit für den Betroffenen. Er ist völlig in seiner Wahnwelt gefangen. Manchmal mag er noch teilweise an der Realität der Gesunden teilnehmen. Doch sein Wahn ist, selbst wenn ihn das Erleben nicht völlig dominiert, der wichtigere Teil seines Lebens geworden. Das ist eine überaus schwierige Situation für alle Beteiligten. Manchmal können sogar Wahn und Realität nebeneinander bestehen, ohne sich dabei zu stören. Damit lebt der Betroffene in zwei Welten: seiner Wahnwelt und der Wirklichkeit. Manchmal fließt auch alles ineinander. Das ist noch quälender. Denn jetzt muss der Kranke ständig um seine bzw. die allgemeingültige Realität ringen. Kein Wunder, dass er von Ratlosigkeit, Verwirrung, Angst und Panik heimgesucht wird und vielleicht sogar zu allseits schockierenden Reaktionen Zuflucht sucht (z. B. mit dem Kopf gegen die Wand: "Es schmerzt, also bin ich noch ein normal empfindender Mensch"). Den Wahn in wenigen Sätzen zu erklären ist unmöglich. Dafür sorgen schon die zahlreichen Erscheinungsformen des Wahns: Beziehungswahn, Beeinträchtigungswahn, Verfolgungswahn, Liebeswahn, Eifersuchtswahn, Größenwahn, Kleinheitswahn, Schuldwahn, Verarmungswahn u. a. (weitere Einzelheiten siehe Text- Kasten).
Wichtig aber ist zu wissen: Der Wahn ist nicht nur ein Phänomen schizophrener Erkrankung. Er kann auch Patienten mit einer endogenen Depression heimsuchen. Dort ist der Wahn allerdings depressiv getönt, der Betroffene fühlt sich vor allem selber schuldig. Beispiele: Verarmungswahn, hypochondrischer Wahn (z. B. körperliche Beschwerden), Schuld- und Versündigungswahn u. a. Der gemütsmäßige Gegenpol, die Manie, die krankhafte Hochstimmung, leidet zwar weniger - scheinbar, dafür pflegt der dort mögliche Größenwahn zwischenmenschlich und gesellschaftlich unangenehmere Konsequenzen nach sich zu ziehen, vor allem langfristig. Beim Schädel-Hirn-Unfall und bei einer Vergiftung kann es ebenfalls zu psychotischen Folgen mit Wahnzuständen kommen, allerdings kurzfristig und nicht so ausgeprägt. Ähnliches gilt für weitere wahnhafte Störungen, die man dann besser als wahn-motivierende Situationen bezeichnet: Solche Beispiele finden sich bei der altersbedingten Geistesschwäche (Stichwort: Alzheimer-Demenz z. B. mit einem Bestehlungswahn), beim Eifersuchtswahn im Rahmen des Alkoholismus, bei Intoxikation durch bestimmte Rauschdrogen (z. B. Haschisch, LSD, Kokain), gelegentlich auch im Rahmen politischer Verfolgung und vor allem (Einzel-)Haft u. a. Was kann man tun? Kein Wunder, dass man beim Umgang mit Wahn-Kranken viele Fehler machen kann, handelt es sich hier doch um eine schier unfassbare Situation mit der Möglichkeit überraschender Reaktionen seitens des Kranken, bis hin zum abrupten Abbruch des Kontaktes. Hier gilt es vor allem eines zu berücksichtigen: Aufmerksam zuhören, nicht werten, kein Befremden erkennen lassen oder gar schroffe Ablehnung signalisieren. Vor allem nicht lächerlich machen (auch nicht in Form eines abwertenden Schmunzelns). Für den Betroffenen ist sein Wahn Realität. Ggf. belastende, ängstigende, schreckliche Realität, aber eben seine Wirklichkeit. Die beste Einstellung ist deshalb das interessierte, neutrale Zuhören, das weder bestätigt noch in Abrede stellt. Ernstnehmen heißt noch lange nicht zustimmen. Doch wer den anderen - in welcher Form auch immer - unmöglich macht, indem er seine subjektive Realität in Frage stellt, kann auch nicht helfen. Fühlt sich der Betroffene aber verstanden und damit gut aufgehoben, kann man ihn durchaus führen. Und vor allem für eine medikamentöse Therapie gewinnen, die zwar von vielen abgelehnt wird, jedoch einen entscheidenden, wahrscheinlich den entscheidenden antipsychotischen Behandlungsbeitrag leistet. Und damit das möglichst rasche Wieder-Auftauchen aus der irrealen Welt des subjektiven Wahns in die allgemein gültige Wirklichkeit, die den Betroffenen dann auch (hoffentlich) wieder rasch zwischenmenschlich, vor allem gesellschaftlich und beruflich integriert sein lässt (Prof. Dr. med. Volker Faust). |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |