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SCHICKSALSSCHLAG UND DEPRESSIVE REAKTION

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Wir kämpfen täglich mit Problemen, aber manchmal ist die (vor allem plötzliche) Belastung so groß, dass wir darunter zusammenzubrechen drohen. Ursachen gibt es viele: Partnerschaft, Angehörige, Freunde, Beruf, Gesundheit u.a. Und wenn ein solcher Schicksalsschlag, wie man es gerne in der Allgemeinheit umschreibt, völlig niederdrückt, dann nannte man dies früher eine depressive Reaktion oder reaktive Depression. Und man glaubte herausgefunden zu haben, dass sich hier ganz bestimmte Konstellationen abzeichnen, was Alter, Geschlecht, Leidensbild, Dauer, Ursachen und Krankheitsverlauf, ja sogar die zugrunde liegende Wesensart des Betroffenen anbelangt.

Nachfolgend eine kurze Übersicht, wie die Ärzte das früher sahen und unter Hinweis auf ein Kapitel, wie das die moderne Wissenschaft heute interpretiert.

Für manche Menschen vergeht kein Tag, an dem sie nicht mit Sorgen, Kümmernissen, Enttäuschungen, ja Demütigungen, Kränkungen usw. zu kämpfen haben. Und diejenigen, die sich glücklicher stellen, sei es auf Grund ihrer Wesensart oder besserer Bedingungen in Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft oder Beruf können auch nicht sicher sein, dass sich das auch weiterhin so günstig dahin zieht. Das Leben ist ein ständiges Auf und Ab und die Gemütsverfassung ist entsprechend.

Glücklicherweise schaffen es in der Tat die meisten, damit recht und schlecht fertig zu werden. Kommt zuviel auf einmal, pflegt es aber oftmals enger zu werden, was die psychische Stabilität und seelisch-körperliche und damit psychosoziale Widerstandskraft im Alltag anbelangt. (Manchmal glaubt man, man sei ein "Pechvogel", doch dies ist das ungeschriebene Gesetz der Kumulation im Guten wie im Schlechten, denn wenn man genau nachforscht, häufen sich nicht nur Nachteile und größere und kleinere Schicksalsschläge, sondern auch erfreuliche Ereignisse, die man dann allerdings auch gerne einfach als gegeben hinnimmt.)

Solche Reaktionen auf Belastungen des Alltags betreffen beide Geschlechter gleich (wobei Frauen vielleicht etwas öfter darüber reden, was ihrer "Psychohygiene", also innerseelischen "Reinigung" und damit Stabilisierung nur nützen kann), alle sozialen Schichten und jedes Alter. Und hier nicht zuletzt in den mittleren, den "besten" Lebensjahren" und natürlich im höheren Lebensalter, obgleich man doch meinen müsste, im Laufe der Jahrzehnte einiges dazu gelernt, ja regelrecht "weg-trainiert" zu haben. Aber das ist ein anderes Thema.

In der Internet-Serie Psychiatrie heute beschäftigt sich ein Kapitel mit den so genannten Anpassungsstörungen, also entsprechenden Reaktionen auf belastende Lebensereignisse. Das ist eine neue Definition für die Folgen einschneidender Lebensveränderungen, gleichgültig, ob zwischenmenschlich, beruflich, gesundheitlich oder wie auch immer.

Und dort wird auch in einer Tabelle von einem Krankheitsbild gesprochen, das Hausärzte und Psychiater früher relativ häufig diagnostizierten, nämlich die depressive Reaktion oder reaktive Depression auf einen Schicksalsschlag hin, der nicht mehr mit einer (normalen) Trauerreaktion verarbeitet werden konnte, sondern gleichsam in eine (krankhafte) Depression "abgestürzt" ist.

Heute findet man diese Diagnose nur noch selten. Die weltweit tonangebenden Institutionen wie Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) definieren und klassifizieren anders (siehe eben dieses Kapitel über Anpassungsstörungen). Und doch wird immer wieder danach gefragt, nämlich: Was heißt reaktive Depression, wie entsteht sie und was kann man dagegen tun? Denn das Leid, d.h. seine Ursachen, Folgen und auch die Behandlungsmöglichkeiten bleiben für die Betroffenen gleich, unabhängig davon, welche wissenschaftliche Einteilung gerade bevorzugt wird.

Nachfolgend deshalb eine kurze Übersicht zum Thema reaktive Depression, und zwar in Stichworten, so wie sie vor mehr als drei Jahrzehnten lebensnah und alltagstypisch geschildert wurde (nach dem Baseler Professor P. Kielholz: Diagnose und Therapie der Depressionen für den Praktiker. Lehmanns-Verlag, München 1971 - als Buch längst vergriffen):

Reaktive Depression - Eine Übersicht in Stichworten

- Bedeutungsgleiche Begriffe: depressive Reaktion, psychoreaktive Depression, depressive Erlebnisreaktion, abnorme depressive Belastungssituation u.a.

- Definition: depressiver Zustand, ausgelöst durch ein äußerliches schmerzliches Ereignis, vom Inhalt her stets um dieses Erlebnis zentriert.

- Alters- und Geschlechtsverteilung: vor allem zwischen Pubertät und mittleren Lebensjahren. Beim weiblichen Geschlecht zudem gehäuft im Präklimakterium (Zeit vor den Wechseljahren), beim Mann oft in den letzten Jahren vor Abschluss der beruflichen Laufbahn.

- Dauer: im Allgemeinen zwischen einigen Tagen und mehreren Wochen. Im höheren Lebensalter jedoch auch länger. Insbesondere ältere Männer scheinen bisweilen zu verlängerten traurigen Verstimmungen zu neigen. Problematisch ist die Abgrenzung zu einer endogenen (biologisch begründeten) depressiven Phase, die durch ein äußerliches Ereignis (allerdings nur Auslöser) angestoßen wurde.

- Ursachen und Krankheitsverlauf: vielfältig; geschlechtsspezifisch unterscheidet man beim

- - weiblichen Geschlecht: eher Partner-, Ehe- und Liebesenttäuschungen, Untreue, eheliche Zerwürfnisse usw. Bei Ledigen und Verwitweten und Geschiedenen nicht selten die Angst vor Vereinsamung und Isolierung.

- - Beim männlichen Geschlecht: mehr berufliche Probleme wie ausgebliebene Beförderung, Konkurrenzsituation, erschwerte Aufstiegsmöglichkeiten, unbefriedigende Arbeitslage, ggf. Arbeitslosigkeit, finanzielle Sorgen, aber auch familiäre Schwierigkeiten im weitesten Sinne.

- Beschwerdebild und Verlauf: Die meisten Betroffenen fühlen sich nicht krank, eher in verzweifelter Einengung durch ihren Schicksalsschlag erdrückt. Mitunter kommt es nach dem belastenden Erlebnis zu einer Art innerer Erstarrung. Diese Reaktion dauert Stunden bis wenige Tage.

Dann kann sie einer ausgeprägten Niedergeschlagenheit, Hilflosigkeit, ja Apathie (Teilnahmslosigkeit, stumpfe Gleichgültigkeit) weichen. Seltsamerweise beginnt in dieser Situation das eigentliche Unglück fast zu verblassen. Interesselosigkeit, innere Leere, Verlorenheit usw. gewinnen an Bedeutung.

Zum anderen kann es jedoch auch zu einem Verzweiflungsausbruch kommen: Unruhe, Fahrigkeit, Nervosität, Gespanntheit, barsche Abwehr gegen jede Hilfestellung, trotzige Weinkrämpfe, ja Gemütsausbrüche und aggressive Durchbrüche.

Das Beschwerdebild ist nicht ganz so vielfältig wie bei einer schweren endogenen (biologischen) Depression. Vor allem spielen individuelle sowie alters- und geschlechtsspezifische Faktoren eine Rolle. Falls Tagesschwankungen auftreten, kommt es eher zu einem Stimmungstief am Abend als zu einem Morgentief (wie bei der endogenen Depression).

Häufig sind vegetative Symptome und funktionelle Organbeschwerden, also vor allem psychosomatisch interpretierbare und Befindlichkeitsstörungen. Beispiele: Ein- und Durchschlafstörungen, Appetitlosigkeit, Magen-Darm-Beschwerden, Kopfdruck, Kloß im Hals, Atemenge, Herzstechen oder -klopfen, Flimmern vor den Augen, muskuläre Verspannungen, Harndrang, wandernde Missempfindungen, Hitzewallungen, Kälteschauer, erhöhte Temperaturempfindlichkeit, Schweißausbrüche, sexuelle Freudlosigkeit u.a.

Jüngere im Allgemeinen und einfach strukturierte Charaktere im Besonderen scheinen eher zu kurzen, nach außen gerichteten, trotzigen und aggressiven Reaktionen zu neigen. Ältere und differenziertere Menschen zeigen häufiger eine stille, zurückgezogene, gehemmte und leidvoll-duldende Reaktionsweise.

- Persönlichkeitsstruktur: nicht selten selbstunsicher, übergewissenhaft, mitunter auch passiv. Häufig nur begrenzte Möglichkeiten, Probleme und Schwierigkeiten offen auszudrücken und damit zu neutralisieren.

Meist ist es nicht nur ein einzelner Beweggrund, sondern ein ganzes Bündel vielfältiger Motive, das dann als letzter Anlass auf eine besondere Empfindsamkeit oder ein geschwächtes Reaktionsvermögen trifft. Bisweilen jedoch auch eher temperamentvolle oder gar leicht antriebsgesteigerte (Fachbegriff: submanische, maniforme) Wesensarten. Das schließt eine gewisse Neigung zum Umschlagen in das andere Extrem nicht aus.

- Psychoreaktive Verstimmungen im höheren Lebensalter gehen oft weniger auf einen umschriebenen und nachfüllbaren Schicksalsschlag, mehr auf eine Vielzahl meist situationsgebundener Ursachen zurück.

Beispiele: überwiegend Verlustprobleme jeglicher Art im Bereich von Gesundheit und Leistungsfähigkeit, aber auch erzwungene Untätigkeit, das Selbständigwerden der Kinder (erwünscht, aber jetzt als schmerzliche Einbuße interpretiert), Auseinandersetzungen mit Angehörigen und Nachbarn, Vereinsamung, materielle Not, Ortswechsel (Gefahr der Entwurzelung: ("Entwurzelungsdepression", "Umzugsdepressionen") usw.

- Therapie: Krisenintervention, Gesprächspsychotherapie (viel reden lassen), soziotherapeutische Maßnahmen (Schwerpunkt: auslösender Faktor, vordergründige Probleme nicht immer allein entscheidend).

Ggf. kurzfristig medikamentös (Benzodiazepin-Tranquilizer in niedrigster Dosierung, am besten Tropfenform; Schlafmittel bei Bedarf).

Viel körperliche Aktivität: z. B. Täglicher "Gesundmarsch" bei Tageslicht, da angstlösend und antidepressiv, auch vorbeugend (moderne Begriffe: Stick oder Nordic Walking, also mit zwei Teleskop-Wanderstöcken, da dadurch körperliche Aktivität und damit erwünschte seelisch-körperliche Stabilisierung noch effektiver möglich sind). Ggf. Jogging sowie Fahrrad fahren und die gemütsmäßig ohnehin ausgleichende Gartenarbeit. Später, wenn sich das Beschwerdebild gelegt hat und der Patient wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist, auf jeden Fall Entspannungsverfahren lernen (Autogenes Training, Yoga, progressive Muskelrelaxation nach Jacobson), da vor allem stress-mindernd, gleichgültig, ob psychosozialer, körperlicher oder rein seelischer Stress. Ggf. mittelfristige psychotherapeutische Behandlung um einer Rückfallgefahr entgegenzuwirken.

Schlussfolgerung

Depressive Reaktionen auf einen Schicksalsschlag hin sind so alt wie die Menschheit. Sie pflegen uns zu begleiten bis ans Ende unserer Tage. Wie man sie wissenschaftlich bezeichnet, definiert und einteilt, mag bedeutsam sein für Forschung und Lehre sowie für die Ärzte und Psychologen in Klinik und Praxis, doch entscheidend für die Betroffenen, ihre Angehörigen, Freunde, Nachbarn und Berufskollegen ist vor allem die Kenntnis um Ursachen und Beschwerdebild dieses doch relativ häufigen Leidens, auch wenn es selten zum Arzt führt und noch seltener adäquat behandelt wird.

Manche Opfer zerbrechen auch an einer depressiven Reaktion, selbst wenn sie kürzer sein mag als andere Formen der Schwermut. Und hier wäre es ein Segen, wenn das Umfeld möglichst rasch erkennen würde, was sich hier abspielt, zuerst die Leistung, später auch die gesamte Lebensqualität mindernd, wenn nicht gar zermürbend bis qualvoll oder gefährlich (Selbsttötung?). Und wie man - nachdem man nun mehr über dieses Phänomen weiß -, das Ganze nicht nur schneller erkennen, sondern auch eher akzeptieren, vielleicht sogar im zwischenmenschlichen, persönlichen Kontakt lindernd abmildern könnte.

Denn wer weiß schon, wer der Nächste ist (Prof. Dr. med. Volker Faust).

Weitere Informationen siehe die Internet-Serie Psychiatrie heute und hier insbesondere das Kapitel Anpassungsstörungen.

http://www.volker-faust.de/psychiatrie

Der Schicksalsschlag im Spiegel der Sinnsprüche

Dunkel sind die Wege, die das Schicksal geht (Euripides).

Stärker quälen Schicksalsschläge Menschen ohne Erfahrung (Seneca).

Wir werden eher durch das Schicksal, als durch unsere Vernunft gebessert (F. de La Rochefoucauld).

Tiefe Wunden schlägt das Schicksal, aber oft heilbare (J.W. von Goethe)

Ich glaube, je älter ich werde, an Schicksal, nicht an Zufälle (Heinz Rühmann).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).