Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
VON DER PSYCHOPATHIE ZUR PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGWie sah man sie früher, wie sieht man sie heute, die abnormen Persönlichkeiten?
Was ein Psychopath ist, glauben die meisten zu kennen - bis sie aufgefordert werden dieses Krankheitsbild näher zu erläutern. Dann wird es schon enger: „Irgendetwas Negatives, fast schon ein Schimpfwort“.“ Auf jeden Fall ein belastender, wenn nicht gar bedrohlicher Charakter. Das ist nicht falsch, aber auch nur die halbe Wahrheit - wie so oft bei seelischen Störungen. Allerdings kann man sich in der Allgemeinheit damit trösten, dass sich auch die Medizin, ja sogar die Psychiater und Psychologen über die Psychopathien nie einig waren, selbst heute noch nicht. Auch wenn man den Begriff „Psychopathie“ inzwischen zu löschen und durch Persönlichkeitsstörungen zu ersetzen versucht. Außerdem gibt es nicht nur dominant-herrschsüchtige bis moralisch grenzwertige Naturen, denen vor allem der frühere Psychopathie-Vorwurf angehängt wurde, sondern auch passive, asthenische (kraftlose), ja selbstunsichere, alles vermeidende, hilflose bis abhängig wirkende Menschen, die ebenfalls unter diese Gruppierung fallen. Noch schwieriger wird es, wenn man die Biographien der Großen dieser Welt aus Politik, Wirtschaft und Militär, ja Kunst und Wissenschaft durchforstet. Das liest sich stellenweise wie die reine „Psychopathologie“, also die Lehre von den krankhaften Veränderungen des Seelenlebens. Sind also psychopathische Züge nur lästig, negativ, „minderwertig“? Erwachsen daraus nur missgestimmte, unbeherrschte, leicht erregbare, geltungssüchtige, gemütlose, fanatische, querulatorische oder wahnhafte Krankheitszüge? Oder sind die Psychopathen tatsächlich das „Salz der Erde“? Kurz: Ob Psychopathie oder Persönlichkeitsstörung genannt - es handelt sich zwar um ein alltägliches und doch weitgehend unbekanntes Krankheitsbild. Das heißt: So unbekannt nun auch wiederum nicht, denn Persönlichkeitsstörungen sind ja nicht selten. Die Häufigkeit von Personen mit auffälliger Persönlichkeitsstruktur beträgt nach weltweiten Schätzungen knapp 10% (also allein im deutschsprachigen Bereich mehr als 10 Millionen). Das irritiert erst einmal, wird aber dann verständlicher, wenn man auch die nicht-dominanten bis nach außen unauffälligen Beispiele heranzieht (s. o.). Oder mit anderen Worten: Die Persönlichkeitsstörungen dürften jene seelischen Krankheitsbilder sein, die das breiteste Leidensspektrum (und zwar nicht nur für die Betroffenen, auch für ihr näheres und weiteres Umfeld), die erstaunlichste Vielfalt und damit auch die größten Gegensätze in sich vereinen (zumal auch nicht wenige „Erfolgs-Storys“ unter diesen Menschen zu finden sind). Nun soll sich der mangelhafte Kenntnisstand über diesen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung aber ändern. Denn diese „Stör-Bilder“ nehmen nicht nur zu, sie rücken auch ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Warum? Die Probleme, die sich aus den psychosozialen Konsequenzen ergeben (partnerschaftlich, familiär, nachbarschaftlich, Freundeskreis, beruflich, ja wirtschaftlich, politisch, kulturell u. a.) werden auch im Alltag immer bedrängender. Man denke nur an die sich offensichtlich fast epidemisch ausbreitende narzisstische Wesensart (ich - ich - ich), die auch zu einem Anstieg der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (siehe später) zu führen scheint. Deshalb nehmen sich inzwischen auch die weltweit ton-angebenden Institutionen wie die Psychiatrische Amerikanische Vereinigung (APA) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dieses Themas an, sind sich zwar in vielem noch nicht einig, bieten aber doch schon eine erstaunliche Palette klassifikatorischer Empfehlungen an, die auch die Wissenschaft beflügelt. Vieles aber ist nur aus psychiatrie-historischer Sicht zu verstehen. Nachfolgend deshalb einige Erläuterungen dazu. Als Erstes gilt es zu klären: Was versteht man eigentlich unter Persönlichkeit, Temperament, Charakter? Unter einer Persönlichkeit verstehen die Fachleute „die Summe aller psychischen Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften, die dem Einzelnen seine eigentümliche, unverwechselbaren Individualität, d. h. persönliche Eigenart verleihen. Das Temperament beschreibt dafür mehr die Antriebsseite, die vitale Aktivität, was sich dann auch im Bereich des Gefühls-, Willens- und Trieblebens zu äußern pflegt. Der Charakter schließlich deckt vor allem moralisch-ethische Einstellungen, die Bindung an Normen, Gewissensinstanzen und gesellschaftliche Werte sowie die entsprechenden Verhaltensreaktionen ab. Das alles führt dann zur Definition der Persönlichkeit im klassifikatorischen Sinne: die mehr oder weniger stabile und überdauernde Organisation einer Person hinsichtlich Charakter, Temperament, Intellekt und körperlicher Beschaffenheit. Was heißt Persönlichkeitsstörung? Der früherer Begriff Psychopathie und der heutige Fachbegriff Persönlichkeitsstörung dient also als neutraler Oberbegriff für alle behandlungsbedürftigen Abweichungen der Persönlichkeitsentwicklung mit fließenden Grenzen zur seelischen Gesundheit einerseits und den geistig-seelischen Erkrankungen andererseits. Oder auf den Alltag bezogen (Zusammenfassung verschiedener Definitionsvorschläge):
Obwohl gerade auf diesem Gebiet nach wie vor alles im Fluss ist, legte man zu jeder Zeit besonderen Wert auf die Feststellung, dass die Grenzen zwischen Persönlichkeitsstörung und noch als gesund zu bewertender Persönlichkeitsstruktur („grenzwertige Persönlichkeit“, „akzentuierte Persönlichkeit“) fließend seien. Ursächlich diskutierte man sowohl erbliche als auch hirnorganische Beeinträchtigungen (Entzündungen oder Verletzungen des Zentralen Nervensystems) sowie psychosoziale Faktoren: zwischenmenschlich, Erziehung, spätere ungünstige Einflussnahme u. a. Fachbegriff: „mehrschichtige Entstehungsweise“, wobei die „biologische Basis“ wohl den größten Einfluss hat (Erbanlage, Disposition). Was den Verlauf anbelangt, so tritt die Persönlichkeitsstörung meist erst in der Jugend auf und verblasst im mittleren und höheren Lebensalter oft (aber nicht immer) wieder. Manche werden tatsächlich „ruhiger“ (im Erwartungs-Sinne der Umgebung), was aber auch soviel heißt wie Vitalitätseinbuße und psychosoziale Einengung (Rückzug, Isolationsneigung). Andere sind unverändert ausgeprägt oder werden gar noch „akzentuierter“, d. h. lästiger bis unerträglicher, wenn nicht gar riskant bis gefährlich. Nachfolgend zuerst aber einmal zum besseren Verständnis ein historischer Rückblick auf den Fachbegriff Psychopathie und damit ein Leiden, das früher die Psychiatrie teilweise mehr beschäftigt hat als die Schizophrenien, von den damals eher randständig interessierenden Depressionen und Angststörungen ganz zu schweigen (die Neurosen galten als eigene Klientel, deren Psychotherapeuten sich ja von der Psychiatrie weitgehend absetzten). Dabei soll erneut die Komplexität allein des Persönlichkeitsbegriffes und die Fülle der Daten (und damit Persönlichkeits-Charakteristika) mit dem Hinweis verdeutlicht werden, dass es früher über 1.000 Begriffe zum Thema Persönlichkeit und Persönlichkeitszüge gab. Das hat sich inzwischen zwar geändert, beginnt sich aber wieder heimlich auszuweiten. Nichts ist offenbar so vielschichtig wie Persönlichkeit, Charakter, Temperament, Intellekt und die zugrunde liegenden körperlichen und neuro-endokrinen Aspekte des Zentralen Nervensystems. Wie sah man nun die Psychopathie früher und welches waren ihre wichtigsten Formen? Die Psychopathien früher Der Fachbegriff Psychopathie (vom griechischen: psyche = Seele und pathein = leiden) ist von der Wortverbindung her das Leiden der Seele oder das Leiden an einer seelischen Störung. Die frühere Definition, die lange Zeit gängig, aber schon damals nicht unumstritten war, lautete:
Die Abnormität der Persönlichkeit, also eine von der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Norm abweichende Variante, soll beim Psychopathen angeboren bzw. auf der Grundlage einer abnormen Anlage lebensgeschichtlich entstanden sein. Das ist nebenbei noch heute gültig. Meist äußert sich dies im Sinne einer „charakterlichen Abweichung“, was sich dann auch störend auf das soziale Leben des Betroffenen und seines Umfeldes auswirkt. Es wurde aber schon früher darauf hingewiesen, dass das Abnorme der abnormen Persönlichkeit bzw. Psychopathie gerade darin besteht, dass der Psychopath unter seiner eigenen Charakterstruktur nicht (zumindest nicht sonderlich) zu leiden pflegt, dafür aber die Schuld überwiegend bei anderen sucht. Das Leidens-Potential der Umwelt in einer Auseinandersetzung mit einem Psychopathen allerdings war und bleibt unbestritten. Psychopathen (oder heute die Persönlichkeitsstörungen) sind in der Mehrzahl der Fälle eine Last für die anderen. (Interessant in diesem Zusammenhang der bildhafte Vergleich vom „Zeiger der Schuld“: Er weist beim Psychopathen in der Regel auf die anderen, im Gegensatz beispielsweise zum Depressiven, der die Schuld zumeist bei sich selber sucht.) Was waren bzw. sind nun die wichtigsten Beschwerde-Charakteristika (in diesem Fall nicht zuletzt für das leidende Umfeld)? Das Beschwerdebild der Psychopathien Was die Psychopathologie der Psychopathen anbelangt (Psychopathologie: Lehre von den krankhaften Veränderungen des Seelenlebens), so fanden sich schon früher folgende beschreibende Charakter-Merkmale:
Obgleich schon früh deutlich wurde, dass keine klaren nosologischen Abgrenzungen (Nosologie = Krankheitslehre, systematische Beschreibung der Krankheiten) möglich sind, fanden doch zahlreiche (meist klinische bzw. gutachterliche) Einteilungsversuche in die praktische Alltags-Arbeit Eingang, meist unterteilt nach den am deutlichsten hervortretenden Charakterzügen. Dazu einige Beispiele aus früheren Lehrbüchern:
Spätere Unterteilungen bevorzugten Wesensmerkmale wie nervös, ängstlich, empfindsam, zwanghaft, erregbar, triebhaft, sexuell pervers, hysterisch, verbohrt, verschroben u. a., was dann als zwanghafte, triebhafte, hysterische Psychopathie usw. diagnostiziert wurde. Bedeutungsgleiche (Ersatz-)Begriffe Schließlich war man um verschiedene neue Fachbegriffe bemüht, vor allem um einer Stigmatisierungs-Gefahr durch den abwertenden Begriff Psychopathie zuvor zu kommen. Auf diese Weise bürgerten sich dann Fachbezeichnungen ein wie abnorme Persönlichkeit, abnorme Persönlichkeitsentwicklung, dissoziale Persönlichkeit, Soziopathie, Charakterneurose bzw. die heute gängige Persönlichkeitsstörung. Allerdings waren diese Begriffe untereinander nicht immer bedeutungsgleich, was die jeweilige Definition anbelangt, aber immerhin meist „bedeutungs-ähnlich“. Welche Persönlichkeitsstörungen werden heute diagnostiziert? Inzwischen hat sich die randständige (und etwas anrüchige?) Position der früheren Psychopathien und heutigen Persönlichkeitsstörungen gründlich geändert. Die Neurosen, eine Krankheits-Gruppe, die früher einen großen Teil der medizinischen Psychologie und Psychiatrie dominierte, wurde förmlich getilgt, findet sich jedenfalls nicht mehr in den weltweit ton-angebenden Klassifikationen von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA). Es wurden neue Begriffe, Definitionen und Klassifikationen etabliert (auch wenn sie sich nur langsam durchsetzen, einige schneller, anderen fast gar nicht, jedenfalls bis jetzt); die Therapie (Psycho-, Sozio- und Pharmako-Therapie) ist dafür weitgehend gleich geblieben, wenn auch in vielen Fällen deutlich fortschrittlicher und erfolgreicher. Die Persönlichkeitsstörungen haben aber inzwischen eine Stellung eingenommen, die früher undenkbar gewesen wäre. Die Unterteilung wurde gestrafft, es gibt laut Entscheidung der Experten weltweit nur noch einige wenige Krankheitsbilder, die in absehbarer Zeit noch etwas Zuwachs bekommen dürften, aber das bedarf noch so mancher Consensus-Konferenz (weltweite Experten-Verständigung mit Kompromissen und schließlich bindender Übereinkunft). Nachfolgend nun die wichtigsten Unterteilungen der heute gängigen Persönlichkeitsstörungen, wie sie WHO und APA (die US-Amerikaner sind auch auf diesem Gebiet nicht zu übergehen...) entweder gemeinsam oder in langsamer Annäherung empfehlen. Im Einzelnen:
1. Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (auch als reizbare, explosive oder aggressive Persönlichkeitsstörung bezeichnet, nicht zu verwechseln mit der erwähnten dissozialen Persönlichkeitsstörung - s. o.). 2. Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus (gigantische Fachliteratur in den letzten Jahrzehnten, trotzdem erhebliche Meinungsverschiedenheiten in den zuständigen Institutionen; nachfolgend deshalb nur eine Symptom-Auswahl): stimmungslabil, d. h. missgestimmt, reizbar, ängstlich, auf jeden Fall unbeständige und unberechenbare Stimmungslage, Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder gar Gewalt (unfähig, explosives Verhalten zu steuern); durch diese Impulsivität ständig Konflikte, Auseinandersetzungen, Streitereien (besonders bei Korrekturversuchen oder Tadel der Umgebung), kurzsichtige Handlungsweisen (eher von Belohnung abhängig, nicht die Konsequenzen bedenkend), Tendenz zu selbstschädigendem Verhalten (Geldausgaben, Sexualität, Alkohol-, Rauschdrogen- und Nikotin-Abhängigkeit, Spielsucht, rücksichtsloses Fahren, „Fressanfälle“); dabei mangelhaftes Selbstwertgefühl, Unsicherheit, so genannte Identitätsstörungen (instabiles Selbstbild, negative Selbstwahrnehmung), dauerhaft peinigendes Gefühl innerer Leere, Neigung, sich in zwar kurzfristig intensive, aber letztlich instabile Beziehungen einzulassen, dann krisenhafte Auseinandersetzungen (zuvor Idealisierung oder Entwertung des anderen), Angst, verlassen zu werden, überzogene Reaktionen dagegen, einschließlich Selbstmord-Andeutungen, -drohungen oder -handlungen (z.B. Selbstverletzung) u. a.
„Akzentuiert“ heißt eigentlich nur betont, hervorgehoben, in diesem Fall negativ gemeint. „Akzentuierte Persönlichkeiten“ sind jedenfalls nicht so selten, wie jeder in seinem Umfeld feststellen kann.
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |