Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
MISSMUTIG, FREUDLOS UND VERSTIMMT ...Die depressive Dauer-Verstimmung: so alt wie die Menschheit und belastend Tag für TagDie Dauer-Verstimmung gehört zu den größten zwischenmenschlichen Belastungen im Alltag: Partner, Familie, Freunde, Nachbarn, Berufskollegen u. a.: freudlos, abgeschlagen, missgestimmt, unruhig, nervös, gespannt, reizbar, ja aggressiv oder überempfindlich mit Rückzug, wenn nicht gar Lebensmüdigkeit reagierend. Dazu vermindert belastbar und verstärkt anfällig für seelische und psychosoziale Beeinträchtigungen sowie körperliche Störungen. Und das meist beginnend in jungen Jahren und schließlich ein Leben lang, ohne Hoffnung auf Milderung oder gar Genesung, dafür mit entsprechenden Reaktionen des Umfelds - ein Teufelskreis. Wie stellte man sich früher die chronische depressive Verstimmung vor und was versteht man heute unter einer Dysthymie? Und vor allem, wie äußert sie sich in den verschiedenen Lebensphasen? Und kann man etwas dagegen tun? Wer kennt ihn nicht, den unscheinbaren, aber doch so treffenden Zweizeiler, den man auch so melodisch als Kanon in Gruppen singen kann: Froh zu sein bedarf es wenig, doch wer froh ist, ist ein König. Das heißt aber auch: Wer immer heiter, vergnügt, zufrieden und ausgeglichen sein darf, "der wurde auch einer seltenen Gnade teilhaftig", um es einmal biblisch auszudrücken. Oder mit anderen Worten: Das ist nun wirklich selten - und vielleicht nicht einmal "normal", d. h. üblich. Hochs und Tiefs gehören zum alltäglichen Menschenleben und sind sogar sinnvoll, unerlässlich. Denn die Natur kennt kein starres Schema, nur das schicksals-gegebene Auf und Ab. Doch weil es tatsächlich Menschen gibt, die den größeren Teil ihres Lebens "über dem Strich" postiert sind, was also nicht in das allgemeine Schema menschlicher Stimmungsschwankungen passt, hat man sogar einen psychiatrischen Fachausdruck dafür, d. h. man hält sie nicht unbedingt für krank, aber auch nicht für gesund. So etwas nennt man einen "Hyperthymiker". Der Begriff ist allerdings veraltet, wird kaum mehr gebraucht. Warum? Solche Menschenkinder sind selten und ihre - wenn auch erfreulich auffällige - Wesensart hat dann wohl auch irgendeinen Grund, seelisch, psychosozial oder organisch. Umgekehrt liegen die Dinge schon einfacher, wenn auch belastender: Die depressive Dauer-Verstimmung ist nicht so selten und war schon immer ein missliches Alltags-Phänomen - und scheint in unserer Zeit und Gesellschaft eher zuzunehmen. Nachfolgend deshalb eine Kurzfassung für diejenigen, die sich zu diesem Thema rasch informieren wollen. Wer es ausführlicher will, der sei auf das größere Kapitel "Dysthymie: chronische depressive Verstimmung" in dieser Internet-Serie hingewiesen. Dort heißt es in der Einleitung: Jeder kennt solche Mitmenschen und spürt die Last für sich selber und andere, die von ihnen ausgeht. Einerseits tun sie einem fast leid, anderseits ist es ungemein schwer, sie zu ertragen - je länger und vor allem je näher, desto mehr. Gewiss: Die meisten von ihnen kennen durchaus zusammenhängende Zeiten von Tagen oder gar Wochen, in denen sie ihre Stimmung als halbwegs befriedigend beschreiben. Aber in der Regel fühlen sie sich müde, matt, antriebslos und damit leistungsschwach, kämpfen mit Schuldgefühlen (mit oder ohne Grund), grübeln über sich, ihr Umfeld, die Vergangenheit, die Gegenwart und Zukunft, sind unfähig zu genießen, dafür oft ärgerlich, reizbar oder gar aggressiv - kurz: "das ist kein Leben". Und vor allem: "Das war schon immer so, so bin ich eben". Dabei kommen diese Menschen mit ihrem Leben eigentlich ganz gut zurecht, auch wenn sie sich ständig unzulänglich fühlen und deshalb mit Minderwertigkeitsgefühlen kämpfen. Im Grunde würden sie gar nicht auffallen (und wollen das auch keinesfalls), wenn nicht von ihrer dauerhaft herabgestimmten und unkorrigierbaren Negativ-Befindlichkeit eine belastende Atmosphäre ausginge, die auch andere in ihrer Stimmung herabzieht, ja selber pessimistisch, unzufrieden, reizbar und aggressiv machen kann. Also meidet man sie - und der Teufelskreis schließt sich. Die depressive Dauerstimmung - so alt wie die Menschheit Nichts ist neu unter der Sonne, heißt der bekannte Lehrsatz. Und das betrifft nicht zuletzt die Stimmung. Das wusste man schon vor 2.500 Jahren im antiken Griechenland. Dort prägte man auch den Begriff Dysthymia (aus dem griechischen: schlechte Laune). In den kommenden Jahrhunderten gab es dazu nichts Neues. Die "schlechte Laune" gehörte dazu, wurde akzeptiert und war kein Thema in Kunst, Wissenschaft und Medizin. Im 19. Jahrhundert begann man aber die Geistesstörungen genauer zu erforschen, vor allem in Frankreich und später auch in Deutschland und England. Und deshalb tauchte auch wieder die "dysthymia" auf, d. h. die Störungen des Gemüts. Dabei unterteilte man in heiter, veränderlich oder willenlos. Nach dem Verlauf in plötzlich, anhaltend, nachfolgend und teilweise. Die häufigsten Krankheitszeichen waren schon damals eine missmutig-gereizte (Dauer-) Verstimmung mit Angst, Denkhemmung und hypochondrisch-neurasthenischen Leibbeschwerden (volkstümlich: "klagsam und nervenschwach"). Vor rund hundert Jahren kam dann eines der bedeutendsten Lehrbücher der Psychiatrie heraus, das eine erste konkrete Beschreibung bot, die hier verkürzt wiedergegeben wird: Es beginnt schon bei jungen Erwachsenen. Sie zeigen eine bestimmte Empfindlichkeit gegenüber den Sorgen, Enttäuschungen und Bürden des Lebens. Alles belastet sie. Ihr ganzes Leben ist durch dieses Leiden beeinflusst. Sie fühlen sich schwach und ohne Energie. Sie haben ein großes Bedürfnis zu schlafen, schlafen aber erst sehr spät ein. Morgens fühlen sie sich nicht erfrischt, sondern müde. Erst während des Tages erreichen sie einen angemessenen Zustand. Das alles bleibt unverändert während des ganzen Lebens so. Spätere Psychiater meinten, diese Gemütslage hänge auch von ihrer Konstitution ab, worauf eine ganze Typenlehre aufgebaut wurde (die sich aber nicht bestätigte). Andere rechneten diese Menschen sogar den Psychopathen zu, also den abnormalen Persönlichkeiten, die man heute als Persönlichkeitsstörungen bezeichnet. Depressiv gefärbte Erschöpfungszustände Konkret wurde es erst wieder in den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts. Manchmal möchte man meinen, die depressive Dauerverstimmung habe in Zeiten von Krieg und wirtschaftlichem Niedergang keinen besonderen Stellenwert, zumindest nicht auffällig oder zahlenmäßig von Bedeutung. Erst wenn es wieder aufwärts und den meisten gut geht (jedenfalls objektiv gesehen, subjektiv findet ja jeder "ein Haar in seiner Suppe"), also wenn es wieder aufwärts geht, dann macht offenbar auch die Dysthymie wieder von sich reden. Uns so liest man in der psychiatrischen Fachliteratur, umstritten zwar, aber sich dann doch wissenschaftlich und klinisch weitgehend durchsetzend, folgende Beschreibung: Es handelt sich um depressiv gefärbte Erschöpfungszustände, und zwar um solche, die weder mit einem Schicksalsschlag u. ä. zu erklären wären (Fachbegriff: psychoreaktiv), noch durch ein körperliches Leiden mit entsprechenden seelischen Folgen. Auch sind es keine "echten" Depressionen, damals als endogene Depressionen (nur depressive Phasen) oder manisch-depressive Psychosen bezeichnet (Hochstimmung mit Depressionen abwechselnd). Trotzdem ist eine biologische, zumeist erbliche Komponente am Werk, so die Experten damals. Man bezeichnete das Phänomen deshalb auch als "endo-reaktive Dysthymie", also eine Mischung aus biologischer Grundlage und äußeren Verstärkermechanismen, die dann zu der erwähnten Dauerverstimmung führten. Als wichtigste Ursachen nannte man lange dauernde Entbehrungs-Situationen, die Einbuße von Heimat und Geborgenheit, Misserfolge im Beruf und Beeinträchtigungen im näheren und weiteren Umfeld, dazu den Verlust geliebter Angehöriger u. a. Es könne aber auch vorkommen, dass sich kein exakter Grund finden lasse. Als konkretes Beschwerdebild belasten nach früherer Ansicht der Psychiater vor allem Störungen von Verdauung, Herz-Kreislauf, meist aber Schwindel, Kopfschmerzen u.a. Diese Menschen fühlten sich ständig "krank", schwach, antriebslos, von hypochondrischen (Erkrankungs-)Befürchtungen und Ängsten gepeinigt. Und das über einen langen Zeitraum ihres Lebens und oftmals ohne wieder völlig auf die Füße zu kommen. Zur gleichen Zeit etwa entwickelte sich aber auch eine mehr psychologisch orientierte Richtung bei den Psychiatern und Psychologen mit psychotherapeutischen Aufgaben. Und die bezeichneten die Dysthymie neben der Hysterie als eine der wichtigsten neurotischen Entwicklungen. Einzelheiten zur Neurose, wie sie früher gesehen wurde (und inzwischen heute gleichsam fallen gelassen wird, nichts ist beständiger als der Wandel ...) finden sich in dem entsprechenden Kapitel in dieser Internet-Serie. Auf jeden Fall wurde jetzt die Dysthymie auch als neurotische Depression bezeichnet. Doch die Forschung bleibt nicht stehen, und was fand sie? Die Neurosen im Allgemeinen und die neurotische Depression im speziellen sind gar keine einheitlichen Leidens- oder gar konkrete Krankheitsbilder. Sie sind so "heterogen" (uneinheitlich), dass eine gemeinsame Krankheitsbezeichnung damit nicht mehr zu rechtfertigen schien. Wieder einmal herrschten in Wissenschaft und klinischem Alltag "Klarheit und Ratlosigkeit gemeinsam". Was tun, denn die Patienten bleiben ja übrig, auch wenn ihre Krankheit oder zumindest der Krankheitsbegriff plötzlich in Frage gestellt sind. Man musste sich also etwas Neues einfallen lassen, und da Neues sehr schwer, die Wiederbelebung von Altem aber üblich und bequemer ist, griff man erneut auf den antiken Begriff der "dysthymia" zurück und nannte das Phänomen jetzt Dysthymie. Natürlich folgten jetzt nach und nach die "klassifikatorischen, definitorischen und damit terminologischen Verfeinerungen", oder auf Deutsch: Jetzt gab es wieder viele Subtypen (Untergruppierungen) und Krankheits-Aufteilungen sowie selbstredend neue Fachbegriffe unter dem neuen Dach. Das Ganze ist allerdings noch nicht ausdiskutiert, doch haben sich immerhin die zwei weltweit ton-angebenden Institutionen halbwegs geeinigt, nämlich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA), die die entscheidenden Kriterien, nach denen jetzt weltweit diagnostiziert wird, auch (derzeit) allgemein verbindlich vorgeben. Was heißt das konkret? Moderne Klassifikationen nach WHO und APA - Die WHO definiert die "Dysthymia" als chronische depressive Verstimmung. Der Unterschied zur leichten oder gar mittelgradigen und immer wieder auftretenden (ernsteren) depressiven Störung liege im geringeren Schweregrad. Die Betroffenen fühlten sich oft monatelang müde und depressiv, könnten aber auch zusammenhängende Perioden von Tagen oder Wochen beschreiben, in denen es ihnen gut geht. Vor allem sind sie trotz bestehender subjektiv empfundener Unzulänglichkeit, trotz Schlafstörungen, Lustlosigkeit, Freudlosigkeit und dem Gefühl, das Leben nur mit hoher Anstrengung bewältigen zu können, durchaus in der Lage, den wichtigsten Anforderungen des Alltags gut zu entsprechen. Das Leiden beginne schon früh im Erwachsenenalter oder gar in der Jugend und könne mehrere Jahre oder auch einmal lebenslang belasten. - Die APA sieht das ähnlich (mit einigen Einwänden, Korrekturen und Ergänzungen) und betont vor allem die Symptome Appetitlosigkeit oder übermäßiges Bedürfnis zu essen, Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafbedürfnis (also das extreme "entweder-oder") sowie Energiemangel oder Erschöpfung, geringes Selbstwertgefühl, Konzentrationsstörungen und Entscheidungserschwernis - sowie nicht zuletzt das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Die APA unterscheidet dabei eine subaffektive Form (früher Beginn und gutes Ansprechen auf Psychopharmaka) und eine so genannte Charakter-Spektrum-Dysthymie (die eher in Richtung der Persönlichkeitsstörungen geht, siehe das entsprechende Kapitel). Ko-Morbidität: Wenn eine Krankheit zur anderen kommt Eine in der Tat große Schwierigkeit bei der Dysthymie ist die so genannte Ko-Morbidität, also das mögliche gemeinsame Vorkommen verschiedener seelischer Störungen. Das scheint überhaupt das "Krankheitsbild der Zukunft" zu sein, d. h. ein Leiden allein reicht nicht, es sind mehrere, was die Belastung natürlich noch erheblich verstärkt (und die Diagnose erschwert). Ganz ungewöhnlich ist das aber nicht, denn im Körperlichen ist das ohnehin fast schon die Regel (Beispiele: Herz-Kreislauf, Wirbelsäule und Gelenke, Stoffwechselstörungen, Magen-Darm u. a.). So finden sich auch bei der Dysthymie nicht selten Verbindungen mit hysterischen, narzisstischen, selbstunsicheren oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Und natürlich mit Suchtkrankheiten jeglicher Art (meist als verunglückter Selbstbehandlungs-Versuch). Auf jeden Fall ist die Dysthymie - beginnend mit der Antike und endend mit den heutigen Definitionen und Klassifikationen - ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein seelischer Notzustand über Jahrtausende hinweg halten kann, ganz gleich, wie man ihn (wissenschaftlich) benennt, einstuft oder schwerpunktmäßig zu behandeln versucht. Das seelische Leid an sich ist offensichtlich der wichtigste Bestimmungsfaktor. Um nun aber doch etwas tiefer in das Leiden einzudringen, findet sich nachfolgend der Versuch einer alltags-brauchbaren Übersicht zum Thema, einschließlich therapeutischer Überlegungen. Die Dysthymie, wie man sie heute sieht Seelische Störungen sind häufig, viel häufiger als man sich vorzustellen wagt. Und sie nehmen zu. Vor drei Jahrzehnten sprach die Psychiatrie-Enquête von jedem Vierten. Inzwischen betrifft es wohl ein Drittel der Bevölkerung. Manche Experten meinen allerdings, dass mehr als zwei Drittel aller Menschen in der westlichen Welt aus eigener, bitterer Erfahrung wissen, was eine seelische Störung ist (auch wenn sie keine detaillierten Fachkenntnisse haben oder nicht einmal das Krankheitsbild richtig beschreiben können, geschweige denn die Diagnose kennen). Hier sind im Übrigen auch viele Krankheitsbilder verborgen, die früheren Generationen eher fremd oder unbekannt waren und die erst jetzt seelische, psychosoziale und sogar körperliche Probleme bereiten (z. B. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung = "Zappelphilipp" oder Burnout: erschöpft, verbittert, ausgebrannt). Die Dysthymie gehört dazu. Ihre Häufigkeit über den gesamten Lebensraum hinweg wird mit 6% angegeben, wobei eine hohe Dunkelziffer eingerechnet werden muss. Das sind alleine im deutschsprachigen Bereich mehrere Millionen Betroffene. Frauen sind zwei bis drei Mal häufiger befallen und sollen auch in der Regel früher erkranken. Der Verlauf ist abhängig von Umwelt und Lebensereignissen. Charakteristisch ist jedenfalls ein früher Beginn und eine lange Leidensdauer. Auch scheint eine hohe familiäre Belastung aufzufallen, vor allem mit Gemütsstörungen im Sinne von immer wiederkehrenden Depressionen im näheren und weiteren Umfeld der Verwandten. Besonders belastend sind die Zeit der Pubertät, das frühe Erwachsenen-Alter und das höhere Lebensalter. Das nimmt nicht Wunder. Denn in diese Lebensphasen treffen sowohl Aufbau- als auch Rückbildungsvorgänge, und zwar nicht nur seelisch und körperlich, sondern auch psychosozial, zwischenmenschlich, lebensgeschichtlich. Wie sieht das die Wissenschaft heute im Einzelnen? Die chronische depressive Verstimmung Die chronische depressive Verstimmung in der Kindheit ist offenbar nicht so selten, wie die eher dürftige wissenschaftliche Beweislage vermuten lässt. Die für diese Altersgruppe charakteristischen Krankheitszeichen sind vor allem körperliche Klagen, die in der Mehrzahl nicht so recht fassbar sind. Beispiele: Unklares Missbehagen, Appetitlosigkeit u. a. in seelischer Hinsicht vor allem Freudlosigkeit, im Leistungsbereich Einbußen bei den Schulaufgaben bis hin zum Vorwurf von Faulheit und damit Gefahr von Schulversagen. Und zwischenmenschlich ein unerklärlicher Kontaktverlust zu Eltern, Geschwistern, Freunden und Mitschülern. Das sind aber auch die Symptome leichterer Depressionen in diesem Alter, die sich später zu einer ernsteren Schwermut auswachsen würden und dann keine Dysthymie mehr wären. Es ist und bleibt also schwer, die chronische depressive Verstimmung von der sich auch oder vor allem im Kinderalter gefährlichen seelischen Krankheit Depression abzugrenzen. Deshalb sollte auf jeden Fall ein Kinder- und Jugendpsychiater herangezogen werden. Und der wird die Diagnose auch nicht sofort stellen wollen, sondern sich auf eine Verlaufs-Beobachtung stützen. In dem großen Kapitel über Dysthymie in dieser Internet-Serie findet sich übrigens eine ausführliche Darstellung der wichtigsten depressiven Krankheitszeichen im Kindes- und Jugendalter. Treten solche Störungen jedenfalls schon in der Kindheit auf, dann belasten sie in der Regel bereits das erste Lebensjahrzehnt. Die Geschlechtsverteilung ist hier noch ausgeglichen, die erhöhte Beeinträchtigung des weiblichen Geschlechts beginnt erst später. Besonders problematisch ist diese frühe Belastung wegen der schulischen Leistungseinbrüche und der Störung des Sozialverhaltens, mit allen Folgen: Eltern, Geschwister, Freunde, Schulkameraden, Nachbarn, Lehrer u. a. Besonders folgenschwer wird es, wenn die Dysthymie mit (meist auch noch unerkannten) Angststörungen oder einer "richtigen" Depression zusammenfällt (was die Experten dann eine doppelte Depression nennen, englisch: double depression). Und zwischenmenschlich noch schwieriger wird die Kombination aus Dysthymie und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), dem "Zappelphilipp".
Die Dysthymie beim Heranwachsenden nach der Pubertät und im Übergang zum jungen Erwachsenen ist eine noch kritischere seelisch-körperliche "Umbau-Phase". Auch ohne krankhafte Beeinträchtigung sind hier Gemütsänderungen, meist Deprimiertheit (was noch keine Depression bedeuten muss) und (Ver-)Ängstigung an der Tagesordnung. Die klassischen Dysthymie-Symptome gelten jetzt fast schon als Regel: freudlos, lustlos, abgeschlagen, reizbar, missmutig, nervös, gespannt, aggressiv, Kontaktstörungen, Überempfindlichkeit, Isolations- und Rückzugsgefahr, verminderte Belastbarkeit, besondere Anfälligkeit für seelische und psychosoziale Verwundungen oder zusätzliche Leiden u.a. Außerdem sind diese früh mit einer Dysthymie belasteten jungen Menschen später auch noch vermehrt bedroht von schweren Depressionen, Angststörungen, Ess- und Persönlichkeitsstörungen. Selbst die missbräuchliche Verwendung von Rauschdrogen und Arzneimitteln ist bei ihnen im späteren Laufe des Lebens öfter registrierbar. Ein breites Feld der meist folgenschweren und langfristigen Beeinträchtigung ist der psychosoziale Bereich. Es fängt an mit Problemen mit den Eltern, mit dem anderen Geschlecht, in der Schule und am Lehrplatz und steigert sich dann zu konkreten Identifikations- und Anpassungs-Schwierigkeiten, wie die Experten es nennen, zu Fremd-Aggressionen (bis hin zu scheinbar kriminellen Auswüchsen) und Selbst-Aggressionen (suizidale Impulse). Über-Reaktionen sind jedenfalls häufig und selbst unbedeutende Belastungen können zu (lebens-)entscheidenden Kurzschlüssen führen. Beispiele: Rauschdrogenkonsum, kriminelle Gruppierungen, sexuelle Fehltritte, mit den heutigen Möglichkeiten sogar Flucht in ferne Regionen u.a. Kurz: Die Dysthymie in dieser Lebensphase ist sorgfältig im Auge zu behalten.
Wenn es der junge Mensch dann zum Erwachsenen gebracht hat, ist die Dysthymie-Gefahr aber noch lange nicht vorbei, im Gegenteil. Denn inzwischen gehören die so genannten "besten Jahre" zu den in vielen Fällen "kritischsten Lebensphasen", jedenfalls was seelische und psychosoziale Belastungen anbelangt. An Beispielen mangelt es nicht: Trennung, Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes u.a. Diejenigen, die "erst" im Erwachsenenalter an einer Dysthymie erkranken, also nach dem 21. Lebensjahr, zeigen nach Ansicht der Experten folgende Schwerpunkte: Sie sind häufiger verheiratet, erkranken, wenn überhaupt deutlich später an einer ernsteren Depression, weisen seltener zusätzliche seelische Krankheiten auf (z. B. Persönlichkeitsstörungen und/oder Suchtgefahren) und sind seltener mit Gemütsstörungen in der Vorgeschichte ihrer Angehörigen belastet. Das lässt die Heilungsaussichten insgesamt etwas günstiger erscheinen. Einfach haben es die Betroffenen aber trotz allem nicht. Denn die Umfeld-Belastungen haben ihre eigenen Schwerpunkte - und Konsequenzen. Die Dysthymie-Beschwerden der Erwachsenen sind vor allem geringe Stress-Toleranz, vermehrte innere Unruhe, Nervosität und Anspannung, öfter (und dann zwar nicht massiver, aber natürlich auffälliger, weil man von Erwachsenen dann doch mehr Beherrschung erwarten kann) reizbar, missgestimmt, ja aggressiv. Und das alles dann in der Regel doch mit folgenschwereren Konsequenzen als früher, nämlich Partnerschaft, Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis und vor allem Arbeitsplatz. Dazu ein Beschwerdebild, das sich zumeist körperlich äußert, und dann sehr hartnäckig und ohne Reaktion auf alle Behandlungsmaßnahmen, besonders wenn dazu noch eine Art Doctor-Hopping- oder gar -Shopping kommt, wie das despektierlich, aber nicht ganz unrichtig gegeißelt wird. Am folgenschwersten aber ist die geradezu aufdringliche, dabei aber oft auch recht geschickte Art der Betroffenen, jede seelische oder psychosoziale Ursache für ihre scheinbar organischen Leiden in Abrede zu stellen. Diese bewusst-unbewusste Verheimlichungs-Neigung hat ihren guten Grund. Denn es wird gerade in diesem Alter ("Höhepunkt des Lebens?") und bei entsprechender Position als ehrenrührig, wenn nicht gar "scham-besetzt" angesehen, durch "seelische Beeinträchtigungen in die Knie zu gehen". Ein organisches Leiden, auch wenn es sich nicht nachweisen lässt, hat da schon einen ganz anderen Stellenwert - vor anderen und sich selber. Was hier dann aber doch misstrauisch werden lässt und zwar im positiven Sinne, denn irgendwann muss ja die richtige Diagnose einmal gestellt werden, sind folgende Aspekte: - Zum einen der ständige Wechsel solcher "körperlichen Beschwerden von einem Schwerpunkt zum anderen, manchmal zusammen, manchmal abwechselnd, dann wieder mit Pausen für alle oder einzelne Klagen, kurz: so äußert sich kein rein organisches Leiden. - Der zweite Punkt, der vor allem erfahrene Ärzte misstrauisch werden lässt, ist die Zahl der angeführten Beschwerden. Eine körperliche Krankheit kommt in der Regel mit zwei bis drei, selten mehr konkret geklagten Symptomen aus (z. B. Rötung, Schwellung, Schmerz, ggf. Funktionsbeeinträchtigung). Bei Verdacht auf seelische Ursachen sind es in der Regel deutlich mehr, die zudem - wie erwähnt - noch öfter wechseln und außerdem fast schon charakteristisch unklar bis verschwommen geschildert werden. Mit anderen Worten: Die mehr organisch betonte Dysthymie des mittleren Lebensalters hat ihr eigenes Gesicht: Es dauert aber lange, bis man dahinter kommt. Und dann hat sich bereits eine ganze Reihe von negativen Folgen aufgebaut.
Sogar eine ausgeprägte Depression im höheren Lebensalter macht diagnostische Schwierigkeiten, obgleich man - irrtümlich - meint, bei den Älteren sei die Depression fast schon zu Hause. Das stimmt nicht. Es gibt aber tatsächlich charakteristische Eigenheiten, die die Melancholie des älteren Menschen von anderen Depressions-Zuständen unterscheidet - und auch schwerer fassbar macht, besonders rechtzeitig. Einzelheiten dazu siehe das ausführliche Kapitel über Dysthymie mit gezielten Hinweisen einschließlich der üblichen Konsequenzen (z. B. "Endlos-Untersuchung"). Auf jeden Fall findet man im höheren Lebensalter bei den chronischen depressiven Verstimmungszuständen wieder ein ausgeglichenes Geschlechts-Verhältnis von Männern und Frauen. Auch ist im Gegensatz zur Dysthymie in jungen und mittleren Jahren die Belastung durch Umweltfaktoren größer, zumindest aus subjektiver Sicht. Dazu gehören beispielsweise der Tod des Partners oder eines nahen Angehörigen bzw. Freundes, die schwere Erkrankung und/oder Krankenhausaufnahmen selber oder von einem vertrauten Menschen, die Trennung von einer wichtigen Bezugsperson, Ruhestand, Heimaufnahme u. a.
Kennzeichnend für die Dysthymie, wenn sie erst im höheren Lebensalter ausgebrochen sein soll, ist der Umstand, dass so etwas früher nie beobachtet werden musste, auch nicht bei Eltern, Großeltern oder sonstigen nahen Verwandten. Auch die sonst fast schon übliche Ko-Morbidität von mehreren seelischen Krankheiten auf einmal ist eher selten. Und das Beschwerdebild hat - wie immer im Alter - seine eigenen Schwerpunkte, die durch alters-bedingte Defizite noch verstärkt oder überhaupt erst deutlich werden. An erster Stelle stehen Merk- und Konzentrationsstörungen, verminderte Aufmerksamkeit und peinliche Vergesslichkeit. Danach folgen vor allem so genannte vegetative Beeinträchtigungen, insbesondere Appetitlosigkeit mit Gewichtsabfall, Schlafstörungen u. a. Bedeutsam ist auch der Umstand, dass beim älteren Menschen Belastungen jeder Art nicht nur länger und intensiver nachwirken, sondern sich auch noch unglücklich summieren können. Das heißt alte Enttäuschungen oder Verluste (real oder nur eingebildet), neue Schicksalsschläge und Erkrankungen und "überhaupt alles" formieren sich dann zu einer schwer durchschaubaren und vor allem nachhaltig beeinträchtigenden Belastung. Und diese hat ihre eigene Gefahr, nämlich die Lebensmüdigkeit. Das geht von Suizidphantasien bis hin zu konkreten Planungen. Wenn es geschieht, dann in der Regel nicht nur konsequenter, manchmal geradezu schockierend hart geplant und ausgeführt, sondern auch noch folgenschwerer, falls doch noch Rettung möglich gewesen wäre, weil der alternde Organismus rein biologisch damit schlechter fertig wird (z. B. Selbst-Vergiftung mit Medikamenten). Die Dysthymie des älteren Menschen ist also besonders schwer zu durchschauen, ja rechtzeitig zu erkennen und auch erfolgreich zu behandeln. Die Zahl der belastenden Einfluss-Faktoren ist größer, ob das dem jüngeren Umfeld einleuchtet oder nicht. Entscheidend ist nicht das Urteil der Umgebung, sondern die subjektiv empfundene (und nicht mehr ertragbare) Sicht der jeweiligen Belastung. Was kann man tun? Wer diesen Ausführungen bis hierher gefolgt ist, dürfte gespannt sein, wie man ein so reichlich komplexes und leider auch unscharfes Krankheitsbild gezielt und vor allem erfolgreich behandeln soll. Recht hat er, denn die Wissenschaft hat hier (noch) nicht viel Erfolgreiches zu bieten. Aber ganz hilflos sind wir auch nicht. Denn die Kenntnis der Früh-, Warn- oder gar Alarmsymptome und dies noch in einem Alter, in dem man erst einmal nicht an so etwas denkt, diese Kenntnis ist ein großer, vielleicht sogar entscheidender Teil des Behandlungs-Erfolges. Je früher diagnostiziert, je rascher und konsequenter gezielt behandelt, desto besser die Heilungsaussichten, wer würde das bezweifeln. Und was steht zur Diskussion? 1. Wie fast immer im seelischen Bereich die Pharmakotherapie mit psychotropen, d. h. auf das Seelenleben wirkenden Arzneimitteln, meist Psychopharmaka. 2. Die soziotherapeutischen Bemühungen im gesamten Umfeld und 3. die gezielte Psychotherapie, d. h. die Behandlung mit seelischen Mitteln, wenn sie sich als notwendig erweisen sollte (und ein Therapieplatz gefunden werden konnte, denn das wird immer schwerer). - Die Pharmakotherapie wird gerne verteufelt ("Chemie", "Pillekeule" u. a.). Das behaupten vor allem diejenigen, die 1. nur wenig Ahnung haben oder sehr einseitig informiert sind und 2. die nicht die Verantwortung für eine erfolgreiche Behandlung tragen (und noch nicht einmal die Belastungen des engeren Umfeldes des Patienten ertragen müssen). Die Dysthymie ist aber - zumindest zu einem erheblichen Teil - eine biologische Krankheit mit entsprechenden Veränderungen im Gehirnstoffwechsel. Dass sich der Teufelskreis dann aus schicksalhaften Zusatz-Verstrickungen entwickelt, versteht sich von selber. Die Grundlage aber wird von den Experten erst einmal biologisch gesehen. Und eine biologisch ausgelöste sowie unterhaltene Erkrankung sollte auch erst einmal biologisch behandelt werden. Und das sind und bleiben Medikamente. Von den heute zur Verfügung stehenden Psychopharmaka konnten die früheren Ärzte-Generationen nur träumen. Dies betrifft vor allem die Antidepressiva, die Arzneimittel mit Wirkung auf Stimmung und Antrieb. Hier vor allem die so genannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), die zwar auch nicht ohne jegliche Nebenwirkungen zu haben sind, gemessen an früher, aber doch spektakuläre Fortschritte erhoffen lassen. Das gleiche gilt für alle anderen neueren Antidepressiva und auch eine Reihe der älteren Generation, die in der Regel die gleiche Wirksamkeit entwickeln, nur eben mit etwas mehr unerwünschten Begleiterscheinungen behaftet. Einzelheiten dazu sie das entsprechende ausführliche Dysthymie-Kapitel. Nur eines noch zum Abschluss: Wenn es ohne Antidepressiva gehen sollte, dann gerne. Wenn nicht, dann ist vor allem auf Dauer schwer zu begründen (und letztlich zu verstehen), warum man nicht diese Möglichkeit wenigstens einmal versucht hat. Patienten mit einer Dysthymie sind nicht gerade die einfachsten Mitmenschen, außerdem skeptisch, ja misstrauisch und nicht sehr kooperativ, was vor allem eine psychiatrisch-orientierte Behandlung anbelangt. Sie sollten sich aber gut überlegen, ob ihnen diese Einstellung nicht noch mehr Leid verursacht - und ob sich nicht wenigstens ein Versuch lohnen dürfte. - Die Psychotherapie ist bei Dysthymie eigentlich unverzichtbar. Leider kommt es nur selten dazu, sagen die Experten. Es fehlt an Psychotherapeuten. Und es gilt auch ein durchaus folgenreiches psychodynamisches Problem zu berücksichtigen: Menschen, die an einer chronischen depressiven Verstimmung leiden, sind oft über Jahre hinweg in einem verhängnisvollen Selbstbild gefangen. Sie blicken in eine pessimistisch gefärbte Zukunft und neigen dazu, bereits gemachte Erfahrungen auch rückwirkend negativ zu interpretieren. Positive Eindrücke dringen gar nicht mehr durch. Das führt dazu, dass auch neue Erkenntnisse und Erfahrungen meist "tragisch" in diesem schwarzseherischen, trübsinnigen, ja trostlosen und schließlich sogar selbstverneinenden Sinne verarbeitet werden. Ihr Denken kreist um abwertende, griesgrämige, ja unheilvolle Schlussfolgerungen. Die Sichtweise ist geprägt durch eine sich selbst erfüllende Negativ-Prophezeiung. Das ist übrigens nicht nur belastend für die Patienten, sondern auch für die Therapeuten. Dysthymie-Betroffene sind nicht ihre Lieblings-Klientel. Trotzdem gibt es eine Reihe von Verfahren, die durchaus erfolgreich sind. Das beginnt mit analytisch orientierter Einzeltherapie, geht über so genannte kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze und Therapien und hört bei der Gruppen- und Familientherapie noch lange nicht auf, im Gegenteil. Gerade die so genannte systemische Familientherapie ist hier durchaus erfolgreich. Denn ein Dysthymie-Patient "belastet sich nur selten allein ..." So gesehen ist die Psychotherapie, vor allem, wenn sie sich mit soziotherapeutischen Bemühungen gezielt verbinden lässt, eine nicht nur nützliche, sondern auch wirkungsvolle und durchaus erfolgreiche Behandlungsmaßnahme. Dabei sind viele Experten nach entsprechender Erfahrung der Meinung, die Kombination aus antidepressiven Arzneimitteln und einer mittel- bis langfristigen psychotherapeutischen Spezialbehandlung sei am erfolgreichsten. Und was kann man den Betroffenen einschließlich ihrer Angehörigen, Freunde, Mitarbeiter und Nachbarn mehr wünschen. Denn eine depressive Dauerverstimmung zieht alle herunter - früher oder später. Das gilt es frühzeitig zu verhindern.
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |