Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
Über das Älterwerden heute (1)Was fällt am ehesten auf? Und ist eigentlich alles nur negativ?
„Alle wollen es werden, keiner will es sein: alt“. Das sagte einer, der es wissen musste, nämlich Cato der Ältere, Staatsmann und Philosoph im Alten Rom. Er wurde dreimal so alt wie es der Durchschnittsbürger seiner Zeit erhoffen konnte. Das war spektakulär - damals. Heute würden seine 94 Lebensjahre niemand mehr beeindrucken. Heute „wird man alt“. Tatsächlich stieg die mittlere Lebensdauer in den letzten 100 Jahren in einmaligem Ausmaß. Zwar hat sich die Lebensspanne, d. h. die maximale Überlebenszeit des Menschen nicht verlängert. Sie liegt nach wie vor zwischen 110 und 115 Jahren, mehr ist nicht drin. Gewachsen ist aber dafür die Lebenserwartung, d. h. die durchschnittliche Zahl von Jahren, die dem Menschen bei Geburt statistisch(!) zustehen. Allein in Deutschland beträgt sie inzwischen für Männer 76 und für Frauen 81 Jahre. Vielleicht lässt sie sich tatsächlich noch etwas erhöhen. Doch daran beginnen die Fachleute langsam zu zweifeln. Denn die jetzige, so erfreuliche Lebenserwartung geht auf eine Generation zurück, die noch eine „vernünftige“ Lebensweise pflegte (bzw. pflegen musste: man denke an die Notzeiten von zwei Weltkriegen und den Jahren dazwischen, die auch nicht gerade als Wirtschaftswunder bezeichnet werden konnten). Dagegen ist die heutige Generation, auf die sich die zukünftige Statistik stützt von wachsenden Zivilisationskrankheiten bedrängt, die sie nebenbei auch noch zum Teil selber wesentlich bahnt (man denke nur an den unfassbaren Nikotinkonsum der jungen Menschen, vor allem weiblichen Geschlechts, an Alkohol, Rauschdrogen, aber auch Stress, Hektik, Lärm, Umweltverschmutzung, die Macht der elektronischen Medien (TV, PC) und vieles andere mehr, was unsere Zukunft und damit Gesundheit und Lebenserwartung belastet). Mit anderen Worten: Wir könnten älter werden, aber wir bremsen uns selber aus. Da stellt sich aber auch die Frage: Wie verändern wir uns eigentlich im Alter? Das ist den wenigsten übrigens so richtig klar, dieses „langsame Älterwerden“. Im Grunde kennen wir nur die beiden Pole: „jung und gesund“ und „alt und krank“. Jung und gesund sind wir alle oder halten uns dafür, alt und krank ist jenes Bevölkerungs-Segment, das wir pflegen und versorgen müssen. Was aber geschieht dazwischen, gleichsam an der Schwelle zum Älterwerden? Das ist - wie gesagt - den wenigsten bewusst. Das Beschwerdebild, das jeder durchmachen muss Nun ist die Alters-Persönlichkeit und ihre spezifischen Reaktionsweisen das Ergebnis einer Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender Faktoren: Gesundheit/Krankheit, Schicksalsschläge, seelische Narben, Rest- und Folgezustände vorangegangener psychischer und körperlicher Leiden, die finanzielle bzw. wirtschaftliche Absicherung u. a. Allerdings zeichnet sich mehr oder weniger bei jedem ein Nachlassen von Vitalität (Lebensschwung), Kraft, Ausdauer, Antrieb, von Leistungs- und Reaktionsfähigkeit auf allen Gebieten ab. Die seelischen Folgen verdichten sich insbesondere im Vorfeld des Rückbildungsalters bei Konzentration, Gedächtnis, Lernvermögen und intellektueller Leistungsfähigkeit. Dazu vermehrte seelische Rigidität („Altersstarrsinn“) und das Erlahmen der Umstellungsfähigkeit. Auch größere Vorsicht und Ängstlichkeit gilt es einzuplanen. Und eine wachsende Abneigung gegen alles Neue. Je nach Wesensart machen sich auch eine immer ausgeprägtere Ich-Bezogenheit bemerkbar und die Karikierung (also groteske Verzerrung) gewisser Charakterzüge, die bereits früher auffielen, jedoch weniger störten oder besser kompensiert werden konnten. Und nicht zu vergessen eine erhöhte psychische Labilität, also Unsicherheit, Beeinflussbarkeit, vermischt mit der Tendenz zu Reizbarkeit, zu Verstimmungen, wenn nicht gar zu deprimiert-hypochondrischen (also krankheits-ängstlichen) Zügen. Was heißt das konkret? Die typische Neigung zur Somatisierung („Verkörperlichung“) seelischer Störungen führt zur Erweiterung der Leidenspalette über die bereits bestehenden körperlichen Beeinträchtigungen hinaus, die jedes Leben begleiten, je nach individuellem Schwachpunkt (genetisch Erblast, Unfall- und Krankheitsfolgen usw.). Da sich das Interesse von der Außenwelt abzuwenden und auf die Intimsphäre einzukreisen beginnt, fällt den nun ohnehin funktionsgestörten körperlichen Abläufen eine verstärkte Beachtung zu. Der Körper wird gleichsam zum Zentrum, manchmal sogar zum Krisenbereich (wie dies schon früher ein- bis zweimal im Leben registriert werden kann, nämlich zum einen während der Pubertät und zum anderen in den Wechseljahren). Das muss noch nicht hypochondrisch ausufern, aber in versteckter Form beginnt es das Leben zu dominieren (man achte einfach mal auf die Gesprächsthemen, die im „dritten Lebensalter“ vorherrschen, das ist vor allem die Gesundheit oder konkreter: Krankheiten, Arztbesuche, Medikamente und sonstige Heilmaßnahmen...). Mit zunehmendem geistigen Rückgang kommt es auch zur „progressiven Destrukturierung für so genannte höhere integrative Leistungen“, wie die Fachbegriffe lauten. Oder allgemein verständlich: zur Abnahme der Urteils- und Kritikfähigkeit, zur gestörten Orientierung in Raum und Zeit (und schließlich gar zur eigenen Person) und zu vermehrten Erinnerungslücken (die gerne verneint, beschönigt oder „weg-geschwindelt“ werden). Das Denken erstarrt in unflexiblen Gedankengängen, man wird starr, ichbezogen, unbeweglich. Oder wie heißt der treffende Sinnspruch: „Das Alter gräbt uns mehr Falten in den Geist als in das Gesicht“. Auf gemütsmäßigem Gebiet finden sich ängstliche Unsicherheit und Gemütslabilität bis hin zur vermehrten Weinerlichkeit. Manchmal auch eine etwas „flache Euphorie“, also ein inhaltsloses, wenn auch nur kurzfristiges Wohl- oder gar Glückgefühl mit Witzelsucht und Distanzlosigkeit. Das allerdings ist dann - nebenbei auch abhängig von der charakterlichen Ausgangslage - schon ein fortgeschrittenes Stadium. Daneben lässt sich auch die schon einmal erwähnte überzogene Steigerung früher mehr oder weniger deutlicher Eigenarten registrieren (auch wenn man das nicht verallgemeinern sollte, aber wer mit wachen Augen selbstkritisch beobachtet, findet das schon in vielen Fällen bestätigt): Der Vorsichtige wird zurückhaltender, ängstlicher, der Sparsame geizig, der Extravertierte (schon immer nach außen gewandte und zwischenmenschlich aktive) ggf. etwas aufdringlich, schwatzhaft, distanzlos. Nachfolgend im Kasten noch einmal eine komprimierte Übersicht:
Ist das alles nur negativ? Das alles hört sich erst einmal ausschließlich negativ an, doch es gilt auch seine Vorteile zu sehen. Denn es werden nicht nur vorbestehende Schwächen in der Persönlichkeitsstruktur (oder seelische Störungen bzw. Krankheiten) durch das Alter verschärft, sie können auch zurückgehen oder ganz verschwinden. Nicht wenige Beschwerdebilder werden im Alter blasser, eintöniger, profilloser, ihre Stör-Wirkung lässt nach (nicht zu vergessen: ein kennzeichnendes Merkmal des Krankheitsbegriffes in der Allgemeinheit lautet: seelisch krank ist, wen die Allgemeinheit für seelisch krank hält, und das ist meist wer die anderen in irgendeiner Form belastet). Die intellektuellen Einbußen wird man wohl schon überwiegend als negative Konsequenzen des Älterwerdens bezeichnen müssen, gleichsam der Preis für ein Alter, von dem unsere Vorfahren allerdings nicht zu träumen wagten. Andere Entwicklungen hingegen haben einen durchaus sinnvollen Hintergrund: So muss die zunehmende seelische, geistige und körperliche Schwäche ggf. durch einen vermehrten Egoismus ausgeglichen werden, sonst gerät man als alter Mensch „noch schneller unter die Räder“. Das gilt auch für die Starrheit persönlicher Ansichten und vor allem die Ritualisierung, das Festhalten am Gewohnten. Denn wer täglich das Gleiche machen kann, der schont seine Reserven und ordnet inhaltlich und rhythmisch den sonst entleerten Tagesablauf. Wenn eine solche starr gefügte Zeit-Strukturierung geändert wird, droht die Dekompensation. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Änderung von Wohnung und Wohnort, ganz zu schweigen vom Wegfall zwischenmenschlicher Beziehungen (Umzug oder gar Tod naher Bezugspersonen). Und dass übertriebene Vorsicht bei schwindenden Kräften zukunftsträchtiger ist als allzu forsches Auftreten, versteht sich von selber. Kurz: Alle diese Phänomene haben nicht nur negative Konsequenzen, auch wenn es dem ungeduldigen Umfeld so erscheinen mag. Der alte Mensch muss (wie zu jeder Zeit und heute mehr denn je) alleine durchs Leben kommen. Und an der Schwelle zum Alter wird dies erstmals so richtig deutlich. Deshalb hat sich die Evolution, also hier die stammesgeschichtliche Entwicklung des menschlichen Lebewesens schon früh, und zwar seelisch, geistig und körperlich auf diese Überlebens-Strategien eingestellt - ob das dem (jungen) Umfeld gefällt oder nicht. Dabei gibt es allerdings einen Satz, den man sich schon rechtzeitig merken sollte: „Man altert, wie man gelebt hat“. |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |