Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
ZÄHNE UND SEELISCHE STÖRUNGPsychologische Aspekte der Zahnmedizin
Über die Bedeutung der Mundregion, insbesondere Lippen, Kiefer, Zähne, Zunge usw. sind sich alle im Klaren. Ohne gesunde Kauwerkzeuge im weitesten Sinne ist jedes Lebewesen beeinträchtigt. Doch der Mund hat noch eine andere Aufgabe, eine psychologische. Auch dies ist den meisten bewusst, selbst wenn man sich darüber keine ernsteren Gedanken macht. Denn der Mund ist bereits in einer frühen Entwicklungsphase des Menschen so wichtig, dass man diesen Zeitabschnitt als die „orale Entwicklungsphase“ bezeichnet (vom lateinischen: os, oris = Mund). Die Mundregion ist der erste Körperbereich, durch den zwischenmenschliche Beziehungen hergestellt werden, z. B. durch das Stillen des Kleinkindes. Wer in dieser frühen Phase mit Problemen von Mensch zu Mensch zu kämpfen hatte, dem kann das auch im weiteren Leben entsprechende Schwierigkeiten bereiten. Außerdem ist der Mund nicht nur ein zentraler Bereich des Kopfes und damit des menschlichen Zentrums schlechthin, sondern auch durch eine Vielzahl von Nerven durchzogen, die diese Region überaus sensibel machen (im Positiven, z. B. im zärtlichen Körperkontakt wie im Negativen, d. h. bei Beschwerden - siehe später). Lippen, Mundschleimhaut, Kaumuskulatur, Zunge, Rachen und Schlund sind mit einem dichten Nervennetz versehen und machen diese Körperregion extrem empfindlich gegenüber allem, was nicht funktioniert und damit stört, und zwar gleichgültig ob durch eine organische Beeinträchtigung oder psychosomatisch (d. h. Seelisches, das sich - unverarbeitet - schließlich körperlich äußert). Nicht zuletzt ist die Mundregion auch Ausführungsorgan einer Reihe von biologischen Aktivitäten, auf die niemand verzichten kann: Das beginnt mit dem Saugen und geht über das Kauen, Beißen, Schmecken bis zum Sprechen sowie auf psychologischer Ebene Lächeln, Küssen, Missbilligung zeigen, Drohen usw. Alle diese Funktionen, besonders aber die psychologisch bedeutsamen, sind direkt gekoppelt mit der so genannten affektiven Seite, also der Gemütslage, insbesondere der Stimmung. Und natürlich mit körperlichen, d. h. endokrinen, vegetativen und motorischen Abläufen. Schließlich ist die Mundregion sogar in weiteren Entwicklungsphasen bedeutsam, und zwar nicht nur beim Lippensaugen, sondern auch Daumenlutschen (zumindest wenn es längere Zeit anhält), beim Nägelbeißen, zuletzt bis ins Erwachsenenalter hinein beim Zähne- und Zungenpressen, beim Zähneknirschen, Wangensaugen u. a.
Psychosomatische Störungen sind also körperliche Beeinträchtigungen ohne organischen Befund, die auf unverarbeitete seelische oder psychosoziale Ursache zurückgehen. Dass dabei auch der Mundbereich im weitesten Sinne eine große Rolle spielt, ist eine alte Erkenntnis. Was gibt es hier für Schmerzbilder und Funktionsstörungen? Das orofaziale Schmerz-Dysfunktions-Syndrom und der atypische Gesichtsschmerz Am häufigsten findet sich das orofaziale Schmerz-Dysfunktions-Syndrom, auch Myoarthropathie genannt. Beide Begriffe werden gerne bedeutungsgleich verwendet, sind es aber ursächlich nicht. Daneben gibt es noch zahlreiche Synonyme, was auf die Komplexität des Leidens verweist. Auf jeden Fall handelt es sich um Schmerzen im Bereich der Kau- und Gesichtsmuskulatur, also Mund, Zähne, Kiefergelenke, ja sogar umliegende Gesichtspartien (z. B. Kaumuskulatur, Schläfenmuskulatur, bisweilen sogar Schmerzen „wie hinter dem Auge“), die bis in die seitlichen Nackenregionen ausstrahlen können. Mitunter finden sich Muskelverspannungen und Druckpunkte (z. B. bei den beidseitigen Kaumuskeln). Außerdem häufig Knacken im Kiefergelenk sowie Einschränkungen der Unterkiefer-Beweglichkeit mit entsprechenden Beeinträchtigungen. Daneben geben nicht wenige - vor allem auf gezieltes Befragen - so genannte Begleit-Symptome an: schwindelige Benommenheit, depressive Verstimmungen, Angstgefühle, Bruxismus (also vor allem nächtliches Zähneknirschen und damit Schlafstörungen mit Erholungsdefizit) sowie ggf. weitere Muskelspasmen bis in die Wirbelsäule und die Schulter-Arm-Region. Betroffenen sind die „besten Lebensjahre“, aber auch das Rückbildungsalter, Frauen häufiger. Wenn man konkret nachfasst ist fast immer ein seelisch bedeutsamer Hintergrund im Spiel, sei es als Ursache, sei es als Reaktion auf das zermürbende Schmerzbild, sei es im Verlaufe des Leidens beides. Spezifische Persönlichkeitsfaktoren gibt es offenbar nicht, allerdings bestimmte Häufungen: angepasst-unauffällig, verantwortungsbewusst, durchaus geschäftstüchtig, dabei aber gefühlsmäßig kontrolliert, ggf. aggressionsgehemmt, leicht kränkbar bis ängstlich und unsicher. Außerdem neigen die Betroffenen zur Verleugnung jeglicher persönlicher Probleme. Wenn so etwas vorkommt, wird es gerne auf erzieherische Strenge oder Verlust eines Elternteils zurückgeführt. Dadurch fühlen sie sich belastenden Lebensereignissen weniger gewachsen, was sie dann in ständige Anspannungen führe, die sich insbesondere über die Kaumuskulatur äußere. Tatsächlich dürften vor allem so genannte abgewehrte aggressive Impulse eine Rolle spielen, und damit Pressen, Mahlen und Knirschen sowie Verspannungen in der Mund- und Kieferregion. Auch scheinen sich bei diesen Patienten schon früher ähnliche Muskelverspannungen bemerkbar gemacht zu haben, z. B. Kloß im Hals sowie häufige („unklare“) Bauchschmerzen. Dentale Parafunktionen: Knirschen, Zähnepressen, Zungepressen Dieses Knirschen, Pressen, Mahlen mit Zähnen und Zunge nennt man dentale Parafunktionen. Ursache ist in der Regel zuerst ein Biss, der nicht optimal abgestimmt ist. Das ist allerdings keine Besonderheit. Je nach Untersuchung nimmt man an, dass zwischen 15 und 80% aller Menschen keine optimalen Gebissbedingungen (Fachausdruck: okklusale Disharmonien), also einen anatomisch-physiologisch problematischen Biss aufweisen. Doch das Wichtigste: Die meisten haben keinerlei Beschwerden, geschweige denn Schmerzen und beklagen sich nicht. Und wenn sie Beschwerden haben, dann wechseln diese häufig und verschwinden nicht selten auch ohne zahnärztliche Behandlung. Aber auch das Gegenteil gibt zu denken, und zwar noch eindrucksvoller: Diejenigen, die sich hier irritiert bis belastet sehen, bringen selbst nach optimaler zahnärztlicher oder kieferorthopädischer Behandlung ihre Beschwerden nicht weg. Man kommt also um den psychologischen Hintergrund nicht herum. Solche dentalen Parafunktionen sind also ein psychosomatisch besetztes Funktionsproblem in der ohnehin heiklen Mundregion. Je nach unverarbeiteten Belastungen und damit beispielsweise Stimmungszustand kommt es zu unbewussten oder auch teilbewussten Bewegungsmustern wie Knirschen und Pressen mit den Zähnen, Einsaugen der Wangen zwischen die Zähne und Tasten und Drücken der Zunge gegen die eigenen Zähne oder Teile eines Zahnersatzes. Als Erstes zeigen sich dadurch deutliche Schliff-Facetten auf den Zähnen. Dann folgen Störungen der Kiefergelenksbewegung, meist Seitenabweichungen, erschwertes Mundöffnen oder bestimmte Geräusche. Typisch ist auch eine Druckschmerzhaftigkeit der zuständigen Kaumuskeln. Dann stellt der Zahnarzt Fehl- und Frühkontakte einzelner Zähne fest oder vielleicht sogar eine ungünstige Position des Unterkiefers bzw. der Kiefergelenke. Das erklärt durchaus das Schmerzbild an sich. Und es zieht natürlich ganz bestimmte zahnärztliche Konsequenzen nach sich, die alle ihre Richtigkeit haben: Aufbiss-Schienen, Einschleiftherapie, Onlays, Kronen, d. h. eine spezielle Gestaltung der Höcker und Gruben und der Führungsflächen der entsprechenden Zähne. Damit erreicht man erst einmal eine stabile Kiefer-Abstützung, doch nicht in jedem Fall ein befriedigendes Langzeit-Ergebnis. Denn manche dieser dentalen Parafunktionen können als unbewusste Selbstverletzungen gedeutet werden. Und die haben - zumindest zu Beginn - sogar eine Art psychohygienischen Wert. Ähnlich wie bei jenen seelisch Gestörten, die sich ritzen oder gar schneiden, löst sich beim Pressen, Knirschen und Zungenpressen eine innere Anspannung. Belastende Gefühle werden unbewusst artikuliert und durch die Mund- und Zungenbewegungen gelöst. Dies betrifft nicht zuletzt das offenbar noch viel häufigere (und natürlich schwerer kontrollierbare) nächtliche und auch tagsüber genauso häufige Knirschen und Pressen. Wenn die Betroffenen ihre innere Anspannung auf diese Weise während des Schlafes zu neutralisieren vermögen, können sie sich - psychohygienisch gesehen - damit Luft verschaffen und brauchen später nicht mehr zu knirschen. Interessanterweise fühlen sich Patienten, die nachts mit den Zähnen knirschen und z. B. durch eine Aufbiss-Schiene daran gehindert werden, tagsüber unruhiger, angespannter, irgendwie negativer. Das nächtliche Ventil konnte seiner Entlastungsfunktion nicht gerecht werden. Jetzt muss der Patient tagsüber dafür „bezahlen“. Denn die Folgen lassen nicht auf sich warten. Ein solch mittelfristiges bis dauerhaftes Knirschen (bis zu 40 Minuten und 70 kp Belastung) muss irgendwann einmal die verschiedenen Gewebe beeinträchtigen, verletzten, zerstören. Am Schluss werden sogar die Zahnhartsubstanz und - noch wichtiger - der Zahnhalteapparat kontinuierlich reduziert. Dadurch kommt es zu bisweilen extremen Schmerzen und zu dem verständlichen Wunsch, durch zahnmedizinische Eingriffe wie okklusale Korrekturen, ja sogar Extraktion der belasteten Zähne oder Korrekturen am Zahnersatz (meist Druckstellen) Linderung zu verschaffen. Das funktioniert – in der Regel aber nur kurzfristig. Denn so lange diese Patienten mit ihrem Knirschen und Pressen (Fachausdruck: parafunktionieren) weitermachen, werden sie einen Schmerz-Teufelskreis einleiten, den sie immer wieder von selber anstoßen.
Eine solche „psychosomatische Zahn-Karriere“, wie sie oben geschildert wurde, ist mit vielen Schmerzen, zahlreichen frustrierten Zahnärzten, mit Enttäuschungen auf allen Seiten, mit Resignation, Groll und ohnmächtigem Zorn verbunden und hält die Patienten dabei noch von der bewussten und vor allem konkreten Auseinandersetzung mit ihren Problemen, Lebenszielen und Konflikten ab. Sie verlieren nicht nur die Wahrnehmungsfähigkeit für den „richtigen Biss“ im eigentlichen Sinne, sie verlieren auch nach und nach ihre realitätsgerechte Einschätzung zum Leben generell. Sie werden immer sensibler, und zwar nicht nur auf ihre Zähne fixiert, sie werden auch sensibler für alles, was mit ihrem Umfeld zusammenhängt. Dazu kommt noch ein weiteres Hindernis: Gerade solche Patienten sind psychologischen Überlegungen gegenüber besonders negativ und ablehnend eingestellt. Manchmal reagieren sie geradezu feindselig, wenn sich der Therapeut um psychosoziale Ursachen und Hintergründe zu bemühen beginnt. Dabei fiel schon früh eine Diskrepanz zwischen dem Idealbild und Selbstbild der Betroffenen auf, d. h. dem, was sie gerne sein möchten und dem, wie sie sich wirklich sehen. Tatsächlich erscheinen Patienten mit solchen „orofazialen Schmerz-Dysfunktions-Syndromen“ im Vergleich zu solchen mit anderen psychosomatischen Störungen zwar als vertrauensvoller im zwischenmenschlichen Kontakt, aber auch als schneller zu Resignation, ja depressiven Verstimmungen neigend. Und - vor allem in belastenden Situationen - zu so genannten infantilen Riesen-Ansprüchen neigend (Fachausdruck für kindlich anmutende und vor allem unrealistische Forderungen im zwischenmenschlichen Alltag). Und zu Wunschphantasien, die sich natürlich nur selten realisieren lassen. Einerseits sind sie voller Minderwertigkeitsgefühle und opfern sich auch gerne für andere auf, andererseits konkurrieren sie stärker als der Durchschnitt mit ihrem Umfeld. Dabei sind sie - trotz überzogener Selbstkritik - irgendwie ungeduldiger und auch weniger durchsetzungsfähig als der Durchschnitt.
Ein Zahnverlust der zweiten Zähne ist immer negativ und wird als körperlicher Niedergang empfunden, als Zeichen beginnender Hinfälligkeit, im ursprünglichsten Sinne als regelrechte „Entwaffnung“. Deshalb wird von der zahnärztlich-prothetischen Kunst die Wiederherstellung einer Normalität erwartet, wie sie nachvollziehbarer Weise nicht geleistet werden kann. Manche überziehen sogar noch ihre Wünsche und wollen nicht nur die Beseitigung des Übels, sondern die Verwirklichung phantasierter Idealvorstellungen. Bis hin zu einem „jugendlich-strahlenden Gebiss“, dessen Künstlichkeit geradezu ins Auge springen muss.
So kommt es immer wieder vor, dass selbst eine perfekte zahnprothetische Restauration vom Patienten abgelehnt wird - nicht um sich halsstarrig zu behaupten, Ärger zu machen oder gar aus Böswilligkeit, sondern aus psychologischen Gründen. Was fällt dabei auf?
Im Unterschied zu den reinen funktionellen Beschwerden (d. h. nur die Funktion ist gestört, es gibt keine organischen Ursachen, das Leiden ist psychosomatisch zu verstehen) kommt beim Zahnersatz oft ein zusätzliches Problem hinzu. Bei nicht wenigen Prothesen finden sich tatsächlich Mängel, aber nicht durch mangelhaften Zahnersatz, sondern durch den Patienten selber entstanden (wobei es natürlich auch reine Prothesen-Probleme gibt, die sich dann aber in der Regel befriedigender korrigieren lassen). Was heißt das? Dentale Parafunktionen und Zahnersatz: Einzelheiten über das Pressen, Knirschen, Zungenpressen u. a. siehe oben. Manchmal kommt es auf dieser Schiene sogar zum fortlaufenden Zahnverlust: extreme Schmerzen -> keine dauerhafte Besserung durch entsprechende Korrekturen -> Forderung nach immer mehr zahnmedizinischen Eingriffen bis hin zur Extraktion der scheinbar belasteten Zähne und am Schluss zum Teil-Zahnersatz. Doch selbst die eingegliederten Brücken machen bald neue Probleme: Die okklusale Verzahnung gibt Anlass zu Unzufriedenheit, weil die Betreffenden ihren „Biss“ nicht mehr finden, die Zähne kontinuierlich übereinander bewegen, die Verzahnung dauernd kontrollieren, sich dadurch verspannen und schließlich Schmerzen provozieren. Das regelmäßige Nachschleifen und Unterfüttern aber bringt keine Lösung, sondern bietet nur den ständigen Anhaltspunkt für neue Klagen. Ein Teufelskreis beginnt. Viele Menschen knirschen ohnehin schon mit den eigenen Zähnen, wobei die Situation durch Zahnersatz schließlich so eskaliert, dass überhaupt nichts mehr hält. Das sind dann jene Patienten, die bereits durch ihre seelische Vorbelastung mit Konzentration ihrer Probleme auf das Gebiss eine unglückselige Schmerz-Karriere ansteuern. Aber auch wenn der Zahnersatz vorher halbwegs toleriert wurde, können Veränderungen in der Lebenssituation dazu führen, dass lange Zeit problemlos getragene Prothesen plötzlich Schwierigkeiten bereiten. Die innere Unausgeglichenheit zentriert sich auf die Gebissfunktion und ruiniert mit den jetzt ungewöhnlichen Bewegungen eine bisher gute Prothesenlösung. Besonders bei totalem Zahnersatz können manche Patienten – unbewusst – mit entsprechenden Zungenbewegungen, ja durch ihre Gesichtsmuskulatur (Mimik) die Prothese im Mund derart verschieben oder gar abhebeln, dass die Betroffenen nicht nur subjektive Probleme, sondern nach und nach auch objektive Veränderungen bieten. Selbständige Korrekturversuche: In extremen Fällen vergehen sich die Patienten sogar selber an ihrer Prothese mit Schere, Nagelfeile, ja Schleifgeräten u. a. Natürlich sucht ein solcher Patient mit einer derart malträtierten Prothese nicht seinen ursprünglichen Zahnarzt auf, der diese „Zerstörung“ sofort registrieren würde. Er geht zu einem anderen und der findet natürlich einen Anlass zur Korrektur oder zur Anfertigung einer neuen Arbeit. Und er verspricht vielleicht, dass sich die beklagten Beschwerden danach geben werden, selbst wenn sie nur bedingt in Zusammenhang mit den zahnärztlichen Befunden liegen. Der Patient schöpft Hoffnung, bringt immer neues Vertrauen und auch finanzielle Opfer in die Behandlung ein - und ist am Schluss doch wieder enttäuscht, weil auch dieser Versuch erfolglos bleiben muss. Schließlich war es ja nicht die Prothese, sondern das innerseelische Problem, das sich lediglich in der Prothesen-Unverträglichkeit äußerte. Dazu kommt ein weiterer Faktor, der die Situation noch komplizierter machen kann: In nicht wenigen Fällen scheint die sensible Wahrnehmung dieser Patienten durch die ständigen Veränderungen tatsächlich immer empfindlicher zu werden. Manchmal sind es sicher auch von Natur aus überempfindliche Menschen. Was gilt es zu beachten? Entsprechende Untersuchungen zeigen, dass im Durchschnitt etwa jeder 10. Patient seine Prothese nicht verträgt. Dabei sind es vor allem drei Aspekte, die die Unzufriedenheit erklären könnten:
Weniger alltags-psychologische, mehr psychiatrische Aspekte und damit Kenntnisse erfordert eine Reihe von seelischen Krankheitsbildern, wie sie nachfolgend kurz umrissen werden sollen:
Noch schwieriger wird es dann, wenn sich die Klagen durchaus nachvollziehbar anhören. Dazu gehören beispielsweise umschriebene Schmerzempfindungen, anfallsweise oder langsam an- und abschwellend, bisweilen wandernd, von jeder Qualität wie Bohren, Reißen, Brennen, Stechen usw. Und hier vor allem im Kopf-, Gesichts- und Mundbereich. Häufig haben diese Patienten aber nicht nur scheinbar klare Schmerz-Hinweise, sondern ebenso klare, vor allem unkorrigierbare eigene Vorstellungen von der Ursache und der notwendigen Therapie. Sie verlangen nach Trepanationen, Resektionen und Extraktionen und können ihre Schmerzen oder Beschwerden so dramatisch schildern, dass sich der Zahnarzt kaum einer gezielten Behandlung entziehen kann. Eine gesicherte Diagnose kann mitunter sogar dem Psychiater schwer fallen. Der Zahnarzt ist natürlich zuerst einmal gehalten, seine eigenen Aufgaben zu bewältigen. Und wenn er Verdacht zu schöpfen beginnt, hat ihn der Patient vielleicht bereits wieder verlassen, besonders wenn er ahnt, dass seinem Zahnarzt Bedenken kommen.
Doch am aufdringlichsten und in der Regel auch am schmerzlichsten empfunden sind die körperlichen Symptome ohne organischen Befund: Schlaf-, Appetit-, Magen-Darm-, Herz-Kreislauf-Störungen, Kopfschmerzen, Schmerzen an Wirbelsäule und Gelenken, Muskulatur u. a. Und Beschwerden im Mund-, Hals- und Rachenbereich: Kloß oder Würgegefühl im Hals sowie Zahnschmerzen trotz unauffälligem Befund. Dabei kann vor allem der Zahnersatz (plötzlich) Probleme bereiten, besonders wenn er schon vorher zu Klagen Anlass gab, die aber einigermaßen tolerierbar waren. Die Depression aber hat die Neigung, Problembereiche des Organismus, vor allem wenn sie bisher nur knapp kompensierbar waren, über die Erträglichkeits-Schwelle zu heben - und zu Beschwerden eigener Art ausufern zu lassen. Dies betrifft praktisch jeden Organbereich: Herz, Kreislauf, Magen-Darm, Atmung, Muskulatur, Skelettsystem, Blase - und vor allem kopf-nahe Schwachpunkte: Kopfschmerzen, plötzlich schlechtes Sehen und Hören, vor allem aber schmerzende Zähne oder die erwähnte, inzwischen besonders schlecht sitzende Prothese ohne nachweisbare Ursache.
Die Folgen sind Erwartungsangst, Vermeidungstendenz mit Rückzugs- und damit Isolationsgefahr. Klassische spezifische Phobien sind die Höhen- und Spinnenangst, die - je nach unterschiedlicher Intensität - recht weit verbreitet sind. Aber auch die krankhafte Furcht vor dem Anblick von Blut, vor Verletzungen, Spritzen oder bestimmten Krankheiten, wozu auch Zahnleiden gehören. Ein Problem eigener Art ist die früher so genannte Klaustrophobie, die krankhafte Furcht vor engen Räumen wie Tunnel, Tiefgaragen, Fahrstühle, Menschenschlangen, aber auch Friseur- oder Zahnarztstuhl. Letzteres ist natürlich ein mehrschichtiges Angst-Phänomen, kann aber im Extremfall soweit gehen, dass der Patient trotz ernster Folgeschäden jeglichen Zahnarztbesuch meidet.
Patienten mit einer körperdysmorphen Störung erleben sich als hässlich, abstoßend, lächerlich, obgleich sie unauffällig aussehen. Oder sie empfinden leichte körperliche („markante“) Veränderungen als Anomalität. Davon lassen sie sich auch nicht abbringen. Die Vorstellung der Hässlichkeit bezieht sich auf alle möglichen Aspekte, vor allem aber auf das Gesicht: Nase (Form und Größe), Mund, Wangen, Kinn, Lippen, Zunge, Kiefer, Ohren (Größe, Symmetrie, Haltung, Form), Gesichtsbehaarung, Bartwuchs, aber auch Schweiß- und Errötungsneigung u. a. Und die Zähne: vor allem Stellung, Form und Farbe. Entscheidend ist jedoch nicht der (z. B. operative) Eingriff des jeweiligen ärztlichen Spezialisten, entscheidend ist eine ausführliche psychiatrische oder psychologische Untersuchung, die die zugrunde liegende seelische Störung erkennt, einordnet und insbesondere für eine adäquate Psychotherapie, wenn nicht gar Psychopharmako-Therapie sorgt. Wenn das nicht der Fall ist (und das ist die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen), droht auch hier eine Arztkonsultation oder ggf. ein Eingriff nach dem anderen - ohne je zu dem gewünschten Erfolg zu führen. Denn, so wurde schon vor über 100 Jahren erkannt: Das subjektive Gefühl der Hässlichkeit oder körperlichen Missgestaltung trotz normalen Aussehens ist durch keinen operativen Eingriffe zu korrigieren. Hier hilft nur eine seelische Betreuung weiter – wenn überhaupt.
Manchmal ist bereits die Leidensschilderung so ungewöhnlich, ja theatralisch, dass der Zahnarzt rechtzeitig Verdacht schöpft: „So „holpert“ oder „trudelt“ die Prothese im Mund, „der Kiefer ist verrutscht“, „der Gaumen brennt fürchterlich und fühlt sich entzündet an“ usw. Bisweilen fragt man sich deshalb auch hier, ob nicht in Wirklichkeit eine schizophrene Psychose dahinter steckt. Dabei waren diese Patienten schon überall, auch bei anderen Fachärzten (z. B. Dermatologie, HNO, Kieferorthopädie - nur nicht bei Psychiatern…) und konnten nie in ihrem Sinne zufriedengestellt werden. Bei der Demonstration der einzelnen Prothesen oder der letzten Ausführung ist dann kaum zu übersehen, dass die Betreffenden aus einer solchen Situation auch ihre Vorzüge ziehen, die ihnen ohne ihre Beschwerden versagt bleiben würden (was z. B. bei schizophrenen Psychosen wieder keine so bedeutsame Rolle spielt). Recht typisch ist auch die (hysterische) Demonstration ihrer prothetischen Korrekturwünsche mit Watte, Papiertaschentüchern, Kaugummis, mit Zirkel und Millimetermaß, mit Spiegel u. a., um besonders glaubhaft zu beweisen, was sie stört und was verändert werden muss. Der erfahrende Zahnarzt ahnt, was ihm droht. Der Patient verlangt eine technische Perfektion, die von seiner kranken Persönlichkeitsstruktur aber grundsätzlich in Frage gestellt werden wird. Die prothetische Unzufriedenheit wird zum Lebensinhalt und ermöglicht es dem Patienten, realen Probleme auszuweichen. Ja, es gibt sie, räumen manche Patienten sogar ein. Aber man wird sie erst konkret angehen können, wenn diese zusätzlichen und vor allem unerträglichen Belastungen im Mund endlich ihr Ende und sie selber ihren gesundheitlichen Frieden gefunden haben. Doch der Patient will den zweiten Schritt vor dem ersten erzwingen - und macht damit eine Lösung von vornherein unmöglich.
Doch der Rückgang ist programmiert, je nach individuellen Bedingungen und vor allem Pflege-Einsatz: erhöhte Anfälligkeit gegenüber Karies durch Nischen, Lücken, Zahnfleischrückgang, Mundtrockenheit, Biss-Senkung, Zahn-Kippung, Abbau des Kieferknochens, Zahnwanderungen und -brüchigkeit u. a. Vor allem und zumeist parallel dazu eine Neigung zur Somatisierung (Verkörperlichung) mit Einengung auf die eigene Intimsphäre, verstärkte (hypochondrische?) Wahrnehmung von Abbau und Funktionsstörung, mangelhafte Umstellungsfähigkeit, größere Vorsicht und Ängstlichkeit, Abneigung gegen alles Neue, ausgeprägtere Ich-Bezogenheit bis hin zu Egoismus, erhöhte psychische Labilität, Unsicherheit, Beeinflussbarkeit, aber auch Reizbarkeit, Verstimmungen u. a. Und das alles - wohl gemerkt - ohne eine dementielle Entwicklung, die - falls zutreffend - das Ganze noch zu verstärken vermag. Das hat vor allem Auswirkungen auf den Zahn-Bereich, denn der liegt praktisch im Zentrum dieser sorgenvoll überzogenen „Innen-Schau“. Sollten noch Alters-Depressionen und Angststörungen, hypochondrische oder gar hysterisch getönte Entwicklungen hinzukommen, von zahn-riskanten körperlichen Krankheiten ganz zu schweigen (z. B. Zuckerkrankheit sowie Störungen von Herz-Kreislaufsystem, Magen-Darm u. a.), drohen besonders viele Unannehmlichkeiten - und zwar nicht nur für den Betroffenen, auch für seine Angehörigen und Betreuer. Deshalb beschäftigt sich die Zahnmedizin zunehmend mit der Aufgabe: zahnmedizinische Pflege im höheren Lebensalter zur rechtzeitigen Vorbeugung eines sonst mehrschichtigen Problems, nämlich Zahn- und alterspsychologische Veränderungen.
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |