Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
Die Weihnachtszeit und ihre psychosozialen FolgenGibt es eine "Weihnachts-Depression"?
Eine Weihnachts-Depression gab und gibt es nicht, also auch keine vermehrten stationären Aufnahmen in (Fach-)Kliniken oder gar Selbsttötungsversuche. Das bestätigt auch die Telefonseelsorge, die ja in der Regel ein guter Gradmesser der jeweiligen Stimmungslage in der Allgemeinheit zu sein pflegt. Auch dort ist vor Weihnachten nicht unbedingt mehr los, eher danach.
Außerdem muss man unterscheiden lernen: Endogene, also biologisch fundierte Depressionen haben ihr Häufigkeits-Maximum in Frühjahr und Herbst. Die Winter- oder Lichtmangel-Depression droht vermehrt in der dunklen Jahreszeit von November bis Februar/März. (siehe die entsprechenden Kapitel). Verstimmungszustände dagegen sind jahreszeitlich unabhängig und meist von äußeren, seelischen, psychosozialen, psychosomatischen und organischen Ursachen abhängig. Das Gleiche gilt für eine gewisse Gefühlslabilität, die jedoch in der Vor-Weihnachtszeit einen Höhepunkt erreichen kann. Eine Depression im krankhaften Sinne ist dies aber nicht. Auf Ältere und Einsame achten Allerdings sollte man das ganze Jahr und während der Weihnachtszeit verstärkt auf Ältere, Alleinstehende, vor allem (noch nicht lange) Verwitwete oder Geschiedene achten sowie auf Kranke ohne Hoffnung, die niemand besucht. Kurz: Vereinsamte, Verlassene, vor allem die Stillen oder still Gewordenen. Gilt Weihnachten aber nicht auch als spezieller "Gemüts-Stress"? Die Weihnachtszeit als psychosoziale Belastung Psychopathologisch, also im seelisch-krankhaften Sinne ist die Weihnachtszeit auch in dieser Hinsicht kein statistisch relevanter Faktor. Doch geht die Weihnachts-Atmosphäre oder das, was man sich darunter vorzustellen pflegt, mit einer eigenen Gemütsbelastung einher, gewollt, wenn nicht gar (werbepsychologisch) gesteuert. Das hat seine guten wie problematischen Seiten. So unterschätzt man gerne die zwischenmenschliche Belastung der Weihnachtszeit. Oft sieht man sich nämlich das ganze Jahr nicht, kommt aber wenigstens an Weihnachten "nach Hause". Und das wird zum Stress eigener Art.
Nach der ersten Euphorie ("wie schön, Dich wieder zu sehen") wird es einerseits räumlich und andererseits "psychologisch" immer enger. Man muss es zwar nicht gleich so hart formulieren wie schon 1911 der amerikanische Zyniker Ambros Bierce in "The Devil's Dictionary":
Oder in noch deftigerer Überarbeitung:
Was aber tatsächlich zum Problem werden kann bzw. oft genug wird: Jetzt kommen alte, in der Regel ungelöste Konflikte wieder zum Vorschein oder brechen gar eruptiv durch. Das wäre an sich nicht falsch, wenn man sie tatsächlich austragen würde, selbst an Weihnachten. Doch jetzt droht das zweite Problem: der weihnachtliche Zwang zum "friedvollen Miteinander", zu Liebe, Freude, Besinnlichkeit, Gemütlichkeit u. a., also eine mehr oder weniger demonstrative Gefühlswelt bzw. Fassade. Manche bezeichnen es sogar als "erzwungenen häuslichen Frieden", wenn nicht gar als "weihnachtlichen Waffenstillstand".
Dazu kommen die sonstigen Stress-Faktoren wie Einkaufen, Geschenke machen und erhalten, die bekannte Extrembelastung der Hausfrau zur Weihnachtszeit u. a. Was macht nun die "Stille Nacht, Heilige Nacht" vielerorts und jedes Jahr wieder zum Krisenfest? Einzelheiten dazu siehe der Kasten mit den wichtigsten Gründen drohender Disharmonie.
Was kann man tun? Was kann man tun? Das ist eine Frage, die sich jede Weihnachten stellt, anschließend wieder in Vergessenheit gerät und zwölf Monate später erneut an Aktualität gewinnt. Dabei ist die Antwort immer gleich:
Für all das gibt es genügend lehrreiche Beispiele, die es einem vormachen - von früher bis heute. Sie drängen sich aber nicht auf, man muss sie wiederentdecken. Wie überhaupt die "neue Innerlichkeit" keine schlechte Idee ist - es sei denn, auch sie wird demnächst systematisch vermarktet. Und vor allem sei noch einmal eines wiederholt: Wer alt, alleinstehend und vereinsamt ist, hat jedes Jahr weniger Chancen auf ein Minimum an Zuwendung, zieht er sich doch schon von selber immer mehr ernüchtert, enttäuscht, desillusioniert, beschämt und schließlich verschüchtert- resigniert zurück. Gibt es denn niemand, lautet die immer wiederkehrende Frage der Betroffenen, "der hier einmal zwischen jung und alt vermitteln, eine Art "Kontaktbörse" organisieren könnte? Wenigstens am "Fest der Liebe"? "Eine Viertelstunde mit jemand reden zu dürfen, das wäre schon ausreichend und das größte Weihnachtsgeschenk seit Jahren...". So oder ähnlich lauten die Seufzer oder Klagen, die man durchaus hören könnte - auch wenn die meisten wegzuhören scheinen. Man tut ja schon allerhand, zur Weihnachtszeit... Doch Spenden geben oder sammeln ist zwar löblich, aber einfacher, als sich persönlich einzubringen. Hier wird man umdenken müssen. Denn die Einsamkeit wird - wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher - eines Tages zum Kernproblem unserer Gesellschaft werden, und zwar für mehr von uns, als wir ahnen. Hier sollte man gegensteuern, so lang noch Zeit ist - für die Gemeinschaft und für jeden Einzelnen von uns. Literatur Faust, V.: Schwermut. Depressionen erkennen und verstehen, betreuen, behandeln und verhindern. S. Hirzel-Verlag, Stuttgart-Leipzig 1999 Faust, V.: Seelische Störungen heute. Verlag C.H. Beck, München 2000 Faust, V.: Depressionsfibel. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-Lübeck-Ulm 1997 Faust, V.: Depressionen. Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1989 |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |