Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
ZÄHNE UND SEELISCHE STÖRUNGPsychologische Aspekte der Zahnmedizin
Über die Bedeutung der Mundregion, insbesondere Lippen, Kiefer, Zähne, Zunge usw. sind sich alle im Klaren. Ohne gesunde Kauwerkzeuge im weitesten Sinne ist jedes Lebewesen beeinträchtigt. Doch der Mund hat noch eine andere Aufgabe, eine psychologische. Auch dies ist den meisten bewusst, selbst wenn man sich darüber keine ernsteren Gedanken macht. Denn der Mund ist bereits in einer frühen Entwicklungsphase des Menschen so wichtig, dass man diesen Zeitabschnitt als die "orale Entwicklungsphase" bezeichnet (vom lateinischen: os, oris = Mund). Die Mundregion ist der erste Körperbereich, durch den zwischenmenschliche Beziehungen hergestellt werden, z.B. durch das Stillen des Kleinkindes. Wer in dieser frühen Phase mit zwischenmenschlichen Problemen zu kämpfen hatte, den kann das auch im weiteren Leben zwischenmenschliche Schwierigkeiten bereiten.
Außerdem ist der Mund nicht nur ein zentraler Bereich des Kopfes und damit des menschlichen Zentrums schlechthin, sondern auch durch eine Vielzahl von Nerven durchzogen, die diese Region überaus sensibel machen (im Positiven, z.B. im zärtlichen Körperkontakt wie im Negativen, d.h. bei Beschwerden - siehe später). Lippen, Mundschleimhaut, Kaumuskulatur, Zunge, Rachen und Schlund sind mit einem dichten Nervennetz versehen und machen diese Körperregion extrem empfindlich gegenüber allem, was nicht funktioniert und damit stört, und zwar gleichgültig ob durch eine organische Beeinträchtigung oder psychosomatisch (d.h. Seelisches, das sich - unverarbeitet - schließlich körperlich äußert). Nicht zuletzt ist die Mundregion auch Ausführungsorgan einer Reihe von biologischen Aktivitäten, auf die niemand verzichten kann: Das beginnt mit dem Saugen und geht über das Kauen, Beißen, Schmecken bis zum Sprechen sowie auf psychologischer Ebene Lächeln, Küssen, Missbilligung zeigen, Drohen usw. Alle diese Funktionen, besonders aber die psychologisch bedeutsamen, sind direkt gekoppelt mit der so genannten affektiven, also Gemütslage, insbesondere der Stimmung. Und natürlich mit körperlichen, d.h. endokrinen, vegetativen und motorischen Abläufen (siehe später). Schließlich ist die Mundregion sogar in weiteren Entwicklungsphasen bedeutsam, und zwar nicht nur beim Lippensaugen, sondern auch Daumenlutschen (zumindest wenn es längere Zeit anhält), beim Nägelbeißen, zuletzt bis ins Erwachsenenalter hinein beim Zähne- und Zungenpressen, beim Zähneknirschen, Wangensaugen u.a.
Welches sind nun die wichtigsten Problemkreise in der Zahn-Mund- und Kieferheilkunde? Nachfolgend eine kurzgefasste Übersicht (nach H.-J. Demmel u. F. Lamprecht aus Th. v. Uexküll: Psychosomatische Medizin, 2003):
Die Angst, konkreter die Furcht (in der Psychiatrie spricht man von "Angst vor ich weiß nicht was" sowie "Furcht vor bestimmten Situationen, Menschen" usw.), also die Furcht vor der zahnärztlichen Behandlungssituation ist weit verbreitet. Fast zwei Drittel aller Patienten geben an, sich beim Zahnarzt unwohl, ja ängstlich zu fühlen. Da die Mundregion, vor allem Lippen und Zunge, aber auch die Wangen mit einem dichten Nervengeflecht versehen sind, das vor allem die warnende Schmerzleitung sicherstellen soll, ist diese Region schon allein physiologisch (von den naturgegebenen Abläufen her) besonders schmerzempfindlich - von den Zähnen ganz zu schweigen. Dazu kommt der psychologische Aspekt dieser Region und der Umstand, dass vor allem die zahnärztliche Tätigkeit mit ausgeprägten Beeinträchtigungen verbunden sein kann, und dies gleichsam mitten im Zentrum des Körpers, ja im Zentrum des Kopfes. Nicht wenige Menschen meiden deshalb den Zahnarzt, obgleich sie wissen, dass sie sich durch die vernachlässigten zahnärztlichen Kontrollen im Laufe der Zeit noch mehr Probleme, vor allem aber Schmerzen einzuhandeln drohen. Und die, die sich zum Zahnarztbesuch überwinden (bzw. durch ihren krankhaften Zahnbefund dazu gezwungen werden), gehen schon verkrampft zum Zahnarzt. So etwas nennt man in der Fachsprache "antizipierte (vorweggenommene) Schmerzbereitschaft", was natürlich einen Angst-Schmerz-Teufelskreis geradezu provoziert. Und die Folgen: unregelmäßige Konsultationen, unentschuldigtes Fernbleiben, überempfindliche Schmerzreaktionen, allergische Reaktionen und Intoleranzen sowie die mangelnde Motivation zur notwendigen Mundhygiene.
Zahnärztliches Verhalten, dass auf diese heikle Situation wenig Rücksicht nimmt, trägt natürlich zur Verstärkung der Schmerzen bei. Besonders negativ wird von den Betroffenen das mitunter unsensible "Hau-Ruck"-Verhalten und der etwas billige Trost ("das tut nicht weh, das haben wir gleich") mancher Zahnärzte beklagt (H.-J. Demmel u. F. Lamprecht). Denn genau das stellt sich sehr rasch als glatte Täuschung heraus, mit allen Konsequenzen für die nachfolgenden Schritte (Vertrauen, Schmerzanfälligkeit, Verspannungen, Verkrampfungen, Angst und Ärger). Unabhängig von der Schmerzanfälligkeit des Patienten und dem psychologischen Geschick des Zahnarztes darf man vor allem nicht vergessen, dass es sich bei dieser Tätigkeit auch um tiefergehende Eingriffe in die so genannte körperliche Integrität handelt, es geht gleichsam "an die Substanz" (im übertragenen, aber auch im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich an die Zahn-Substanz). Die Angst vor Verlust der körperlichen Integrität kann beispielsweise beim Kind soweit gehen, dass es selbst bei routinemäßigen Kontrollen ohne Bohren den Zahnarzt nicht einmal in den Mund sehen lässt. Der Erwachsene ist zwar eher vernunft-gesteuert, aber auch dort drohen allein durch die zahnärztliche Untersuchung "ohne Eingriff" psychologisch begründete Ängste vor Verlust und Trennung. Selbst ohne Zahn-Extraktion kann eine solche Verletzung der körperlichen Integrität sogar als Hinweis für die "Endlichkeit des Lebens" empfunden werden. Beim Verlust eines Zahnes natürlich doppelt. Die subjektiv sicher überzogene, aber vom Patienten eben so empfundene "Bedrohung des Lebens schlechthin" dürfte auch zu der - von den Zahnärzten mit Recht gefürchteten - Kollapsneigung mancher Patienten beitragen (Männer erstaunlicherweise öfter als Frauen). Einzelheiten zum psychologischen Hintergrund dieses kurzen Bewusstseinsverlustes ("Ohnmacht") siehe Kasten.
Diese Erkenntnisse sollte man nicht einfach übergehen, leichtfertig abtun, in Frage stellen oder gar lächerlich machen, was bei nicht wenigen Patienten zu finden ist (vor allem solchen, die sich für besonders robust, stark, aktiv und dynamisch halten - und ihre Ängste damit zu überspielen suchen). Um etwas zu überwinden, muss man es erst einmal erkennen und anschließend anerkennen. Nur so wird man damit fertig und macht sich nicht selber und anderen etwas vor. Denn entscheidend ist in jedem Fall die Psyche des einzelnen Patienten, und die damit verbundenen persönlichen Erfahrungen seit der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Und damit Verunsicherung, Ängste und scheinbar unerklärliche Reaktionen. Die meisten Patienten fügen sich allerdings der Autorität ihres Zahnarztes und sind tapfer. In Fachkreisen nennt man so etwas ein "internalisiertes autoritäres Gewissen", d.h. man fügt sich weil man muss und weil man einsieht, es dient ja auch der Gesundheit. Solche Patienten kommen regelmäßig zur Kontrolle, zeigen die notwendige Einsicht, wünschen aber oft gar keine ausführlichere Erläuterung der einzelnen Therapieschritte. Sie fügen sich widerstandslos und hoffen einfach, es möge bald vorbei sein. Ihre vegetativen Reaktionen, d.h. feuchte Hände, Schweiß auf der Stirn, große Pupillen, belegte Stimme, innerliches Zittern und Beben, verkrampfter Bewegungsablauf, Herzrasen u.a. beweisen aber, wie verspannt und ängstlich sie sind. Manchmal reagieren sie auch missgestimmt, gereizt oder gar aggressiv, einfach aus dem Gefühl der Bedrohung heraus und der Furcht vor körperlichen Folgen. Und durch die Angst die Haltung zu verlieren. Interessanterweise trifft dies eher die Zahnarzthelferin und andere Mitarbeiterinnen, denn der "Doktor" selber wird zum einen meist als zu mächtig erlebt und soll auch möglichst nicht "vom Sockel gestoßen werden", denn man braucht ihn ja noch, und zwar als fachliche Autorität. Außerdem - so manche heimliche Befürchtungen - könnte er sich mit einer groben Behandlung "rächen". In diese Ängste fließen dann auch noch so manche Schulgefühle, bisweilen sogar eine Art Strafbedürfnis ein, und zwar wegen mangelnder Zahnpflege, unregelmäßig wahrgenommener zahnärztlicher Kontrollen u.a. (H.-J. Demmel u. F. Lamprecht). Deshalb sollte der Zahnarzt diese Situation nicht wortlos oder "technisch beschäftigt" und damit rasch übergehen oder gar bagatellisieren, sondern ruhig, freundlich und durchaus detailliert erläutern, was er tut und was er noch vor hat - und zwar gleichgültig, ob der Patient dies will oder nicht. Wissen ist Macht, Macht zu helfen (Arzt und Helferinnen) - und Macht zu überstehen (Patient).
Psychosomatische Störungen sind körperliche Beeinträchtigungen ohne organischen Befund, die auf unverarbeitete seelische oder psychosoziale Ursache zurückgehen. Dass dabei auch der Mundbereich im weitesten Sinne eine große Rolle spielt, ist eine alte Erkenntnis. Was gibt es hier für Schmerzbilder und Funktionsstörungen? Das orofaziale Schmerz-Dysfunktions-Syndrom und der atypische Gesichtsschmerz Am häufigsten findet sich das, was man in der Fachsprache der HNO-Ärzte das orofaziale Schmerz-Dysfunktions-Syndrom und bei den Zahnmedizinern die Myoarthropathie nennt. Beide Begriffe werden gerne bedeutungsgleich verwendet, sind es aber ursächlich nicht. Daneben gibt es noch zahlreiche Synonyme, was auf die Komplexität des Leidens verweist. Auf jeden Fall handelt es sich um Schmerzen im Bereich der Kau- und Gesichtsmuskulatur, also Mund, Zähne, Kiefergelenke, ja sogar umliegende Gesichtspartien (z.B. Kaumuskulatur, Schläfenmuskulatur, bisweilen sogar Schmerzen "wie hinter dem Auge"), die bis in die seitlichen Nackenregionen ausstrahlen können. Mitunter finden sich Muskelverspannungen und Druckpunkte (z.B. bei den beidseitigen Kaumuskeln). Außerdem häufig Knacken im Kiefergelenk sowie Einschränkungen der Unterkiefer-Beweglichkeit mit entsprechenden Beeinträchtigungen. Daneben geben nicht wenige - vor allem auf gezieltes Befragen - so genannte Begleit-Symptome an: schwindelige Benommenheit, depressive Verstimmungen, Angstgefühle, Bruxismus (also vor allem nächtliches Zähneknirschen und damit Schlafstörungen mit Erholungsdefizit) sowie ggf. weitere Muskelspasmen bis in die Wirbelsäule und die Schulter-Arm-Region. Betroffenen sind die besten Lebensjahre, aber auch das Rückbildungsalter, Frauen häufiger. Wenn man konkret nachfasst, und das ist leider nur selten der Fall, ist fast immer ein seelisch bedeutsamer Hintergrund im Spiel, sei es als Ursache, sei es als Reaktion auf das zermürbende Schmerzbild, sei es im Verlaufe des Leidens beides. Doch wenn der Betroffene mit den entsprechenden Schmerzen zu seinem Arzt kommt, sei es Hausarzt, HNO-Arzt oder Zahnarzt, fällt in der Regel als erstes die Verdachtsdiagnose einer "Trigeminus-Neuralgie". Dabei wird den Ärzten, insbesondere den auf diesem Gebiet erfahrenen schon früh klar, dass diese Art von Schmerzschilderung mit diesem überfallartigen neurologischen Leiden einer Trigeminus-Neuralgie eigentlich nichts zu tun hat (was dann auch der hinzugezogene Neurologe bestätigt).
Im Gegensatz zur Trigeminus-Neuralgie klagen die Patienten beim orofazialen Schmerz-Dysfunktions-Syndrom über Schmerzen im (mehr oder weniger gesamten) Kopfbereich, die vor allem nicht kurz oder gar überfallmäßig zuschlagen, sondern ständig oder zumindest wellenförmig anhalten und selten auch beidseitig auftreten. Manche gehen mit Kopfschmerzen einher, andere unterliegen tageszeitlichen Schwankungen. Vor allem merkt der Facharzt sofort, dass der Schmerz sich nicht an den Versorgungsbereich des Nervus trigeminus hält, wie das bei einer echten Trigeminus-Neuralgie erwartet werden kann. Natürlich muss der Arzt, nachdem er eine solche Erkrankung dieser Gesichtsnerven ausgeschlossen hat, auch andere Ursachen abklären: Entzündung von Mittelohr, Kiefer, Nasennebenhöhlen usw. Doch die Mehrzahl dieser Erkrankungen sind relativ schnell und sicher zu erkennen - im Gegensatz zum orofazialen Schmerz-Dysfunktions-Syndrom bzw. der Myoarthropathie. Was also liegt hier vor? Es muss sich um einen psychologisch bedeutsamen Hintergrund handeln, der allerdings gerade bei diesem Krankheitsbild noch nicht ausreichend "dechiffriert" wurde. Spezifische Persönlichkeitsfaktoren gibt es offenbar nicht, allerdings bestimmte Häufungen (wie bei Patienten mit Asthma bronchiale und Ulcus duodeni): angepasst-unauffällig, verantwortungsbewusst, durchaus geschäftstüchtig, dabei aber gefühlsmäßig kontrolliert, ggf. aggressionsgehemmt, leicht kränkbar bis ängstlich und unsicher. Außerdem neigen die Betroffenen zur Verleugnung jeglicher persönlicher Probleme. Wenn so etwas vorkommt, wird es gerne auf erzieherische Strenge oder Verlust eines Elternteils zurückgeführt. Dadurch fühlen sie sich belastenden Lebensereignisse weniger gewachsen, was sie dann in ständige Anspannungen führe, die sich insbesondere über die Kaumuskulatur bemerkbar machen. Tatsächlich dürften - psychologisch gesehen - vor allem so genannte abgewehrte aggressive Impulse eine Rolle spielen, und damit Pressen, Mahlen und Knirschen sowie Verspannungen in der Mund- und Kieferregion. Auch scheinen sich bei diesen Patienten schon früher ähnliche Muskelverspannungen bemerkbar gemacht zu haben, z.B. Kloß im Hals sowie häufige ("unklare") Bauchschmerzen. Dieses Knirschen, Pressen, Mahlen mit Zähnen und Zunge nennt man dentale Parafunktionen. Sie interessieren die psychologisch interessierten Zahnärzte, Psychiater und Psychotherapeuten immer häufiger - und das ist gut so, denn dadurch kommt man so mancher Ursache auf die Sprünge, die man bisher entweder nicht erkannt oder nicht entsprechend ernst genommen hat. Was heißt das (nach H.-J. Demmel u. F. Lamprecht): Dentale Parafunktionen: Knirschen, Zähnepressen, Zungepressen Ursache ist in der Regel zuerst ein Biss, der nicht optimal abgestimmt ist. Das ist allerdings keine Besonderheit. Je nach Untersuchung nimmt man an, dass zwischen 15 und 80 % aller Menschen keine optimalen Gebissbedingungen (Fachausdruck: okklusale Disharmonien), also einen anatomisch-physiologisch problematischen Biss aufweisen. Doch das Wichtigste: Die meisten haben keinerlei Beschwerden, geschweige denn Schmerzen bzw. beklagen sich nicht. Und wenn sie Beschwerden haben, dann wechseln diese häufig und verschwinden nicht selten auch ohne zahnärztliche Behandlung. Häufig finden sich solche dentalen Parafunktionen auch nach so genannter okklusaler Rehabilitation, d.h. der Wiederherstellung der Kauflächen durch Kronen, Brücken und Zahnersatz. Aber auch das Gegenteil gibt zu denken, und zwar noch eindrucksvoller: Diejenigen, die sich hier irritiert bis belastet sehen, bringen selbst nach optimaler zahnärztlicher oder kieferorthopädischer Behandlung ihre Beschwerden nicht weg. Man kommt also um den psychologischen Hintergrund nicht herum (siehe unten). Solche dentalen Parafunktionen sind also ein psychosomatisch besetztes Funktionsproblem in der ohnehin heiklen Mundregion. Je nach unverarbeiteten Belastungen und damit beispielsweise Stimmungszustand kommt es zu unbewussten oder auch teilbewussten Bewegungsmustern wie Knirschen und Pressen mit den Zähnen, Einsaugen der Wangen zwischen die Zähne und Tasten und Drücken der Zunge gegen die eigenen Zähne oder Teile eines Zahnersatzes. Als erstes zeigen sich dadurch deutliche Schliff-Facetten auf den Zähnen. Dann folgen Störungen der Kiefergelenksbewegung, meist Seitenabweichungen, erschwertes Mundöffnen oder bestimmte Geräusche. Typisch ist auch eine Druckschmerzhaftigkeit der zuständigen Kaumuskeln. Dann stellt der Zahnarzt Fehl- und Frühkontakte einzelner Zähne fest oder vielleicht sogar eine ungünstige Position des Unterkiefers bzw. der Kiefergelenke. Das erklärt durchaus das Schmerzbild an sich. Und es zieht natürlich ganz bestimmte zahnärztliche Konsequenzen nach sich, die alle ihre Richtigkeit haben: Aufbiss-Schienen, Einschleiftherapie, Onlays, Kronen, d.h. eine spezielle Gestaltung der Höcker und Gruben und der Führungsflächen der entsprechenden Zähne. Damit erreicht man erst einmal eine stabile Kiefer-Abstützung, doch nicht in jedem Fall ein befriedigendes Ergebnis. Warum? In nicht wenigen Fällen kann man sich offensichtlich nicht auf zahnärztliche oder kieferorthopädische Maßnahmen beschränken, man muss auch psychologische Aspekte berücksichtigen. Denn manche dieser dentalen Parafunktionen (wenn auch beileibe nicht alle) können als unbewusste Selbstverletzungen gedeutet werden. Und die haben - zumindest zu Beginn - sogar eine Art psychohygienischen Wert. Ähnlich wie bei jenen seelisch Gestörten, die sich ritzen oder gar schneiden, löst sich beim Pressen, Knirschen und Zungenpressen eine innere Anspannung. Belastende Gefühle werden unbewusst artikuliert und durch die Mund- und Zungenbewegungen gelöst. Dies betrifft nicht zuletzt das offenbar noch viel häufigere (und natürlich schwerer kontrollierbare) nächtliche und auch tagsüber genauso häufige Knirschen und Pressen. Wenn die Betroffenen ihre innere Anspannung damit während des Schlafes zu neutralisieren vermögen, können sie sich - psychohygienisch gesehen - damit Luft verschaffen und brauchen später nicht mehr zu knirschen. Interessanterweise fühlen sich Patienten, die nachts mit den Zähnen knirschen und z.B. durch eine Aufbiss-Schiene daran gehindert werden, tagsüber unruhiger, angespannter, irgendwie negativer. Das nächtliche Ventil konnte seiner Entlastungsfunktion nicht gerecht werden. Jetzt muss der Patient tagsüber dafür "bezahlen". Doch die Folgen lassen nicht auf sich warten. Ein solch mittelfristiges bis dauerhaftes Knirschen (bis zu 40 Minuten und 70 kp Belastung) muss irgendwann einmal die verschiedenen Gewebe beeinträchtigen, verletzten, zerstören. Am Schluss werden sogar die Zahnhartsubstanz und - noch wichtiger - der Zahnhalteapparat kontinuierlich reduziert. Jetzt kommt es zu bisweilen extremen Schmerzen und zu dem verständlichen Wunsch, durch zahnmedizinische Eingriffe wie okklusale Korrekturen, ja sogar Extraktion der belasteten Zähne oder Korrekturen am Zahnersatz (meist Druckstellen) Linderung zu verschaffen. Das funktioniert - in der Regel aber nur kurzfristig. Denn so lange diese Patienten mit ihrem Knirschen und Pressen (Fachausdruck: parafunktionieren) weitermachen, werden sie einen Schmerz-Teufeskreis einleiten, den sie immer wieder von selber anstoßen. Ist der psychologische Hintergrund nicht bekannt (weil er z.B. auch nicht herausgearbeitet wurde), kann jeder zahnmedizinische Eingriff das Problem nur verschlimmern. Denn die Schmerzen kommen immer wieder, das Vertrauensverhältnis zum Patienten gerät ins Wanken, der Zahnarzt ist ratlos und der Betroffene eilt von Arzt zu Arzt ("doctor-shopping" bzw. "doctor-hopping") - ohne definitive Erleichterung. Was steckt dahinter? Eine solche "psychosomatische Karriere" ist mit vielen Schmerzen, zahlreichen frustrierten Zahnärzten, mit Enttäuschungen auf allen Seiten, mit Resignation, Groll und ohnmächtigem Zorn verbunden und hält die Patienten dabei noch von der bewussten und vor allem konkreten Auseinandersetzung mit ihren Problemen, Lebenszielen und Konflikten ab. Sie verlieren nicht nur die Wahrnehmungsfähigkeit für den "richtigen Biss" im eigentlichen Sinne, sie verlieren auch nach und nach ihre realitätsgerechte Einschätzung zum Leben generell. Sie werden immer sensibler, und zwar nicht nur auf ihre Zähne fixiert, sie werden auch sensibler für alles, was mit ihrem Umfeld zusammenhängt. So lange sie die Verantwortung für ihre Beschwerden nicht bei sich selber und ihren unerkannten oder verdrängten Problemen sehen, sondern bei den Therapeuten und ihrem Erfolg oder Misserfolg, wird sich ein verhängnisvoller Teufelskreis einschleifen. Dazu kommt noch ein weiteres Hindernis: Gerade solche Patienten sind psychologischen Überlegungen gegenüber besonders negativ und ablehnend eingestellt. Manchmal reagieren sie geradezu feindselig, wenn sich der Therapeut um psychosoziale Ursachen und Hintergründe zu bemühen beginnt. Schon aus diesem Grunde halten sich die zahnärztlichen und kieferorthopädischen Spezialisten in dieser Hinsicht lieber bedeckt. Zum einen haben sie dafür keine entsprechende Ausbildung (und auch die Weiter- und Fortbildung hält sich in diesem Punkt in Grenzen - siehe Kasten), zum anderen sehen sie keine Veranlassung, sich auf ein heikles Gebiet zu begeben, das ihnen nicht nur fremd ist, sondern auch noch einigen Ärger verheißt ("ich bin wegen meiner Zähne bei Ihnen, und nicht wegen seelischer Probleme, die Sie mir zu unterstellen scheinen..."). Und doch wäre es heilsam für den Patienten und sinnvoll für das Arzt-Patient-Verhältnis, vom allseits gewünschten Endergebnis ganz zu schweigen, wenn einige wenige Fragen auch den psychosozialen Hintergrund berühren dürften. Denn, so das Resultat der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen: Bei dieser Art von Beschwerden im Bereich von Mundregion, umliegenden Gesichtspartien, vor allem aber Zähnen und Kiefergelenken, ist fast immer eine psychosoziale Ursache beteiligt, und sei es als sich wechselseitig aufschaukelndes Phänomen. Letzteres ist sogar die Regel. Denn die Trigger-Funktion (also das gleichsam ausklinkende Ereignis der Gebiss-Fehlkontakte einschließlich Kiefergelenks-Folgestörungen oder umgekehrt) begünstigen das (nächtliche) Zähneknirschen und langfristig die verhängnisvollen Parafunktionen, besonders bei psychischer Belastung (Teufelskreis). Gibt es eine spezifische Persönlichkeitsstruktur? Deshalb hat man schon vor Jahrzehnten versucht, durch spezifische psychodiagnostische Untersuchungen den seelischen und psychosozialen Hintergrund solcher Patienten zu erhellen, vielleicht sogar charakteristische Persönlichkeitszüge herauszuarbeiten. Um was handelt es sich (nach H.-J. Demmel u. F. Lamprecht): Schon früh fiel immer wieder eine Diskrepanz zwischen dem Idealbild und Selbstbild der Betroffenen auf, d.h. dem, was sie gerne sein möchten und dem, wie sie sich wirklich sehen. Tatsächlich erscheinen Patienten mit solchen "orofazialen Schmerz-Dysfunktions-Syndromen" im Vergleich zu solchen mit anderen psychosomatischen Störungen zwar als vertrauensvoller im zwischenmenschlichen Kontakt, aber auch als schneller zu Resignation, ja depressiven Verstimmungen neigend. Und - vor allem in belastenden Situationen - zu so genannten infantilen Riesenansprüchen (Fachausdruck für kindlich anmutende und vor allem überzogene Forderungen im zwischenmenschlichen Alltag). Und zu Wunschphantasien, die sich natürlich nur selten realisieren lassen. Einerseits sind sie voller Minderwertigkeitsgefühle und opfern sich auch gerne für andere auf, andererseits konkurrieren sie stärker als der Durchschnitt mit ihrem Umfeld. Dabei sind sie - trotz überzogener Selbstkritik (siehe oben) - irgendwie ungeduldiger und auch weniger durchsetzungsfähig als der Durchschnitt. Die Fachleute unterscheiden dabei interessanterweise noch zwischen verschiedenen Formen des Bruxismus, wobei das Knirschen oder Pressen über die Front- und Eckzähne ohne vorbestehende Zahn-Fehlkontakte besonders mit Angst in Verbindung gebracht wird. Das heißt, wer mit den vorderen Zähnen dauern mahlt oder knirscht, fürchtet sich vor etwas - bewusst oder unbewusst - und bekommt diese Angst offenbar nicht los. Außerdem vermutet man bei dieser Art von Schmerz und Fehlfunktion bis hin zum so genannten "atypischen Gesichtsschmerz" zwei Ursachenbereiche: - Bei der überwiegenden Mehrheit der Betroffenen sind es offenbar psychovegetative Spannungszustände, d.h. meist psychosozial ausgelöste seelische Beeinträchtigungen, die sich dann körperlich niederschlagen, z.B. in Unruhe, Nervosität, Anspannung bis hin zu konkreten psychosomatisch interpretierbaren Beeinträchtigungen. - Bei der kleineren Gruppe handelt es sich um ein so genanntes Konversions-Phänomen (siehe Kasten). Auch hier sind seelische Belastungssituationen die Auslöser, wobei das meist konkrete Problem (z.B. im zwischenmenschlichen Bereich) in ein bestimmtes Symptom gekleidet wird. Hier beispielsweise der "atypische Gesichtsschmerz".
Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede? Wie in anderen seelischen Störbereichen gibt es auch bei den dentalen Parafunktionen geschlechtsspezifische Unterschiede. So sind Frauen bei solchen Schmerzbildern im Mund- und Kieferbereich häufiger betroffen oder besser: Sie suchen deshalb öfter ihren Arzt auf, also vom Hausarzt über den HNO-Arzt bis zum Zahnarzt und ggf. Kieferorthopäden. Das liegt zum einen daran, dass Frauen mit ihrer Gesundheit, vor allem Vorsorge im Durchschnitt sorgsamer umgehen als Männer. Außerdem - rein physiologisch gesprochen - pflegt auch bei der gesunden Frau die Muskelspannung im Gesichtsbereich deutlich höher auszufallen als beim Mann (dessen erhöhte Muskelspannung mehr im Bereich der Lendenwirbelsäule liegt - siehe unten). So scheinen sie eher darum bemüht, "die Zähne zusammenzubeißen" bzw. ihre negativen Gefühle zu "verbeißen" und damit nach außen zu verbergen, obgleich sie "schon auf dem Zahnfleisch gehen" (hier werden die entsprechenden Sinnsprüche besonders hintergründig). Wenn dann noch Zahn-Fehlstellungen dazukommen, ist das entsprechende Schmerzbild förmlich programmiert. Umgekehrt sind Männer in dieser Hinsicht seltener als Patienten zu finden. Zum einen sind in präventiver Hinsicht keine Vorbilder, selbst wenn sie dadurch ihrer Gesundheit schaden. Zum anderen neigen sie dazu, auch Kraft ihrer Erziehung zum "Mann", mehr "Durchstehvermögen" zu demonstrieren, selbst wenn sie Missempfindungen beunruhigen oder Schmerzen quälen. Außerdem scheint das männliche Geschlecht seinen Schmerz-Schwachpunkt eher in der Wirbelsäule zu haben, vor allem im Lendenwirbelbereich ("Haltung"). Tatsächlich hat der Mann deutlich häufiger im so genannten lumbosakralen Bereich nicht nur eine erhöhte Muskelspannung, sondern dort auch öfter einen Schmerz-Schwachpunkt ("LWS-Syndrom, psychogen überlagert", d. h. Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, die zwar degenerative Veränderungen ("Verschleißerscheinungen") zeigt, aber keinesfalls das geklagte Schmerzbild erklärt, das durch Stress oder andere seelische Belastungen so verstärkt wird, dass es die ertragbare Grenze übersteigt). Zur Therapie dentaler Parafunktionen Die Behandlung ist nicht einfach. Chirurgische Interventionen, zahnärztlich, kieferorthopädisch, HNO-ärztlich oder wie auch immer, scheinen eher den Teufelskreis zu verstärken und provozieren dauer-gequälte chronisch Kranke. Psychopharmaka helfen auch nicht weiter, am ehesten vielleicht Antidepressiva und bestimmte Phasen-Prophylaktika (z.B. Arzneimittel, die durch mittel- bis langfristigen Einsatz depressive und manische Zustände verhindern können, z.B. Carbamazepin). Auch die Psychotherapie hat ihre Grenzen, am besten noch in Kombination mit Antidepressiva zur Stimmungsstabilisierung. Doch die Betroffenen wehren in der Regel beides ab. Meist ist das Schicksal dadurch besiegelt, da die in dieser Hinsicht weniger geschulten Zahnärzte und Kieferorthopäden mit ihren Maßnahmen bereits begonnen haben, ehe ihnen nach und nach klar wird, dass es sich hier um eine überwiegend seelische Störung handelt, die man hätte rechtzeitig gezielt behandeln müssen (aber wie?). Vor allem die hartnäckige Neigung der Patienten, die körperliche Schmerzursache zu favorisieren und damit ihr Beschwerdebild nicht loslassen zu können, erzwingt eigentlich geradezu psychologische Verfahren. Das sind vor allem jene Behandlungsmethoden, die das Körperbewusstsein und Körperempfinden stützen, z.B. funktionelle Entspannungstherapie, Atemtherapie u.a. Sie alle dienen vor allem dem Zweck der so genannten "De-Somatisierung", also einer Art "Ent-Körperlichung", d.h. dem Versuch, die Betroffenen von der seelischen Ursache ihres Schmerz-Teufelskreises zu überzeugen. Mühevoll ist es allemal.
Ein Zahnverlust ist immer negativ. Oder doch nicht? Zahnverlust im Milchgebiss wird als Zeichen des Erwachsenwerdens begrüßt. Das ist aber auch die einzige Situation, die man in dieser Hinsicht als positiv werten kann. Vom Erwachsenen hingegen wird der Zahnverlust der zweiten Zähne als seelisch-körperlicher Niedergang empfunden, als Zeichen beginnender Hinfälligkeit, im ursprünglichsten Sinne als regelrechte "Entwaffnung". Deshalb wird von der zahnärztlich-prothetischen Kunst die Wiederherstellung einer Normalität erwartet, wie sie nachvollziehbarer Weise nicht geleistet werden kann. Manche überziehen sogar noch ihre Wünsche und wollen nicht nur die Beseitigung des Übels, sondern die Verwirklichung phantasierter Idealvorstellungen. Bis hin zu einem "jugendlich-strahlenden Gebiss", dessen Künstlichkeit geradezu ins Auge springen muss. In diesem Zusammenhang ist dann auch die so genannte "psychogene Prothesen-Unverträglichkeit" zu sehen, also der Zahnersatz, der aus seelischen Gründen nicht passen will. Dabei wird ein festsitzender Brückenersatz noch eher toleriert, da er auch subjektiv als Wiederherstellung interpretiert werden kann. Herausnehmbarer Zahnersatz hingegen macht zumindest bei der täglichen Zahnpflege immer wieder schmerzlich klar, dass der Verlust der körperlichen Integrität (Unversehrtheit) nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Der Zahnverlust kann auf diese Weise - unbewusst - bis zum "Sterben auf Raten" hochstilisiert werden - mit allen Folgen. Was muss man wissen (nach Johnke, Müller-Fahlbusch u.a.): Psychologische Aspekte der Prothesen-Unverträglichkeit Seelische Schwierigkeiten bzw. psychosoziale Probleme in der Zahnmedizin sind keine Seltenheit. Die auffälligsten, folgenschwersten (seelisch und finanziell) und für alle Beteiligten unerfreulichsten in der zahnärztlichen Praxis aber stellen die so genannten Inkorporations-Schwierigkeiten dar, und zwar sowohl nach Anfertigung von neuem, als auch nach Umarbeitung von älterem Zahnersatz. So kommt es immer wieder vor, dass selbst eine perfekte zahnprothetische Restauration vom Patienten abgelehnt wird - nicht um sich halsstarrig zu behaupten, Ärger zu machen oder gar aus Böswilligkeit, sondern aus psychogenen Gründen und meist mit verzweifelten Langzeit-Reaktionen. Deshalb hat man dieses Phänomen schon vor mehr als zwei Jahrzehnten untersucht und fand folgende Kriterien, die sich bei psychogenen Prothesen-Unverträglichkeiten immer wieder häufen: 1. Eine auffällige Diskrepanz zwischen Befund und Befinden. D.h. der Patient hat mit dem Zahnersatz größte Schwierigkeiten und kann das auch glaubwürdig (wenngleich meist klagsam) darstellen. Doch der zahnärztliche Befund gibt zu keinerlei Korrektur Anlass. 2. Zahnarztkarriere und Prothesensammlung. Das lässt sich auf die beiden Phänomene reduzieren: doctor-shopping bis -hopping sowie eine im Laufe der Zeit mitunter unfassbare Sammlung von Zahnersatz, wobei jede Prothese ihre eigene leidvolle Geschichte hat (und zwar für Patient, Angehörige und Zahnarzt zugleich). 3. Fluktuation der Beschwerden. Hier wiederholt sich etwas, was bei den meisten psychogenen (seelisch bedingten) organischen Leiden fast schon charakteristisch ist. Zum einen die Zahl der Beschwerden (meist größer als bei rein körperlichen Erkrankungen) und zum anderen das sonderbare Wandern dieser Symptome (heute hier, morgen dort, und zwar ohne dass man den Betreffenden Simulation (reine Täuschungsabsichten) vorwerfen kann). 4. Hoher Stellenwert der Beschwerden im Leben des Patienten. Auch das ist ein Charakteristikum. Denn es gibt zahlreiche Menschen, die nach Zahl und Intensität ähnliche Beeinträchtigungen zu beklagen hätten, aber offensichtlich besser damit fertig werden. Andere wiederum verzweifeln daran oder ruinieren gar ihr Leben (und das ihrer Angehörigen dazu). 5. Zeitliche Übereinstimmung des Beginns der Beschwerden mit einem einschneidenden Lebensereignis. Auch das ist ein häufiges Phänomen, nämlich das Einsetzen eines bestimmten Symptoms (oder deren mehrere) in mehr oder weniger engem zeitlichem Zusammenhang mit einem belastenden Ereignis (Fachausdruck: life event). Dieses muss - objektiv gesehen - nicht einmal ausschließlich negativer Natur sein. Sogar eine Entlastung kann eine Belastung eigener Art werden. Einzelheiten zu diesen, in der Fachsprache funktionellen oder Befindlichkeitsstörungen, heute auch als Somatisierungsstörungen genannten Beschwerden siehe das entsprechende Kapitel über "Funktionelle oder Befindlichkeitsstörungen". Im Unterschied zu den reinen funktionelle Beschwerden (d.h. nur die Funktion ist gestört, es gibt keine organischen Ursachen, das Leiden ist psychosomatisch zu verstehen) kommt beim Zahnersatz oft ein zusätzliches Problem hinzu. Bei nicht wenigen Prothesen finden sich tatsächlich Mängel, aber nicht durch mangelhaften Zahnersatz, sondern durch den Patienten selber entstanden (wobei es natürlich auch reine Prothesen-Probleme gibt, die sich dann aber in der Regel befriedigender korrigieren lassen). Was heißt das? Dentale Parafunktionen und Zahnersatz: Einzelheiten über das Pressen, Knirschen, Zungenpressen u.a. siehe oben. Manchmal kommt es auf dieser Schiene sogar zum fortlaufenden Zahnverlust (extreme Schmerzen è keine dauerhafte Besserung durch entsprechende Korrekturen è Forderung nach immer mehr zahnmedizinischen Eingriffen bis hin zur Extraktion der scheinbar belasteten Zähne) und am Schluss zum Teil-Zahnersatz. Doch selbst die eingegliederten Brücken machen bald neue Probleme: Die okklusale Verzahnung gibt Anlass zu Unzufriedenheit, weil die Betreffenden ihren "Biss" nicht mehr finden, die Zähne kontinuierlich übereinander bewegen, die Verzahnung dauernd kontrollieren, sich dadurch verspannen und schließlich Schmerzen provozieren. Das regelmäßige Nachschleifen und Unterfüttern aber bringt keine Lösung, sondern bietet nur den ständigen Anhaltspunkt für neue Klagen. Ein Teufelskreis beginnt. Viele Menschen knirschen ohnehin schon mit den eigenen Zähnen, wobei die Situation durch Zahnersatz schließlich so eskaliert, dass überhaupt nichts mehr hält. Das sind dann jene Patienten, die bereits durch ihre seelische Vorbelastung mit Konzentration ihrer Probleme auf das Gebiss eine unglückselige Schmerz-Karriere ansteuern. Aber auch wenn der Zahnersatz vorher halbwegs toleriert wurde, können Veränderungen in der Lebenssituation dazu führen, dass lange Zeit problemlos getragene Prothesen plötzlich Schwierigkeiten bereiten. Die innere Unausgeglichenheit zentriert sich auf die Gebissfunktion und ruiniert mit den jetzt ungewöhnlichen Bewegungen eine bisher gute Prothesenlösung. Besonders bei totalem Zahnersatz können manche Patienten - unbewusst - mit entsprechenden Zungenbewegungen, ja durch ihre Gesichtsmuskulatur (Mimik) die Prothese im Mund derart verschieben oder gar abhebeln, dass die Betroffenen nicht nur subjektive Probleme, sondern nach und nach auch objektive Veränderungen bieten. Selbständige Korrekturversuche: In extremen Fällen vergehen sich die Patienten sogar selber an ihrer Prothese, mit Schere, Nagelfeile, ja Schleifgeräten u.a. Natürlich sucht ein solcher Patient mit einer derart malträtierten Prothese nicht seinen ursprünglichen Zahnarzt auf, der diese "Zerstörung" sofort registrieren würde. Er geht zu einem anderen und der findet natürlich einen Anlass zur Korrektur oder zur Anfertigung einer neuen Arbeit. Und er verspricht, dass sich die beklagten Beschwerden danach geben werden, selbst wenn sie nur bedingt in Zusammenhang mit den zahnärztlichen Befunden liegen. Der Patient schöpft Hoffnung, bringt immer neues Vertrauen und auch finanzielle Opfer in die Behandlung ein - und ist am Schluss doch wieder enttäuscht, weil auch dieser Versuch erfolglos bleiben muss. Schließlich war es ja nicht die Prothese, sondern das innerseelische Problem, das sich lediglich in der Prothesen-Unverträglichkeit äußerte. Dazu kommt ein weiterer Faktor, der die Situation noch komplizierter machen kann: In nicht wenigen Fällen scheint die sensible Wahrnehmung dieser Patienten durch die ständigen Veränderungen tatsächlich immer empfindlicher zu werden. Manchmal sind es sicher auch von Natur aus überempfindliche Menschen. Auf jeden Fall scheinen die Zunge und die Schleimhaut solcher Patienten mit ständigen Unverträglichkeitsreaktionen im Mittel rund 20 % sensibler als die von Patienten ohne derartige Probleme zu sein. Was gilt es zu beachten? Untersuchungen in den USA und im deutschsprachigen Bereich haben gezeigt, dass im Durchschnitt etwa jeder 10. Patient (zwischen 8 bis 12 % nach Erstbehandlung) ihre Prothesen nicht vertragen. Dabei sind es vor allem drei Aspekte, die die Unzufriedenheit der Patienten erklären könnten: 1. Der Patient hat gerade eine Umstellung in seiner Lebenssituation hinter sich, die vom Zahnarzt nicht richtig erkannt wurde. Die Folgen sind Resignation, Niedergeschlagenheit, Trauer, Wut, Neid, Eifersucht, Hoffnungslosigkeit u.a. - die dann auf den Zahnersatz projiziert werden. 2. Der Patient fühlt sich zu wenig in die Entscheidung über seine Behandlung einbezogen. Wenn der Zahnarzt eine autoritäre Führungsweise pflegt, kann er das Gefühl der Hilflosigkeit verstärken. Die Folgen sind Enttäuschung, Frustration, anschließend aber auch Aggression. Die richtet sich dann gegen den Arzt und seine zahnärztliche Leistung (z.B. eine Prothese) - nicht selten auch gegen seine Honorierung und führt damit zu entsprechenden Rechtsstreitigkeiten. 3. Die Erwartungen bzw. die Befürchtungen des Patienten bezüglich der prothetischen Versorgung sind von vornherein negativ. Mit ihr werden Alter und Unattraktivität verknüpft. Nicht selten zermürbt einfach die Befürchtung, dass das Leben mit einer Zahnprothese nicht mehr lebenswert sei. Ein solches Meinungsbild wird leider oft von Bekannten oder Verwandten mitgeprägt, zumindest aber gefördert. Der Zahnersatz ist negativ belastet, aber nicht prothetisch, sondern psychologisch, gleichsam "lebens-psychologisch". D.h. die Prothese hat keine Chance, wenn ihr Träger seine "Entstellungs-Furcht" nicht zu korrigieren oder neutralisieren vermag (siehe auch das Kapitel über die körperdysmorphen Störungen). Zahnersatz und Hysterie Ganz besonders problematisch wird es bei hysterischer Anlage. Einzelheiten zu diesem komplexen Phänomen siehe das spezielle Kapitel über die Hysterie. Glücklicherweise fallen solche Patienten rasch auf, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Patienten, die gleich mehrere Prothesen sammeln, haben nicht selten hysterische Züge. Manche horten regelrecht Totalprothesen und führen sie in Schachteln oder Säckchen mit sich, wenn sie wieder einmal einen neuen Zahnarzt konsultieren. Zu jeder einzelnen Prothese erzählen sie dann die jeweilige Leidensgeschichte. Immer sind Fehler gemacht worden, die auch durch Korrekturen nicht behoben werden konnten. Nie konnte man den Zahnersatz lange tragen. Trotz Enttäuschung, Beschwerden und Kosten führte jeweils kein Weg an einer Neuanfertigung vorbei. Manchmal ist bereits die Leidensschilderung so ungewöhnlich, ja theatralisch, dass der Zahnarzt rechtzeitig Verdacht schöpft:"So "holpert" oder "trudelt" die Prothese im Mund, "der Kiefer ist verrutscht", "der Gaumen brennt fürchterlich und fühlt sich entzündet an" usw. Dabei waren sie schon überall, auch bei anderen Fachärzten (z.B. Dermatologie, HNO, Kieferorthopädie) und konnten nie in ihrem Sinne zufriedengestellt werden. Und "hätten vor allem auch schon so viele medizinische Unzulänglichkeiten erleiden müssen, so dass man sich auf solche Befunde nicht mehr blind verlassen könne. Eigentlich sei das überaus schade, weil sich alle Ärzte so große Mühe gegeben hätten. Auch sei die letzte Prothese eine durchaus gute Arbeit, aber so könne man sie trotzdem auf keinen Fall tragen. Denn - usw. Glücklicherweise habe man aber die Adresse des neuen Zahnarztes mit dem Hinweis erhalten, dass dieser schon vielen verzweifelten Fällen helfen konnte. Darauf würde man nun auch selber fest vertrauen, wieder Hoffnung schöpfen..." Bei der Demonstration der einzelnen Prothesen oder der letzten Ausführung ist dann kaum zu übersehen, dass die Betreffenden aus einer solchen Situation auch ihre Vorzüge ziehen, die ihnen ohne ihre Beschwerden versagt bleiben würden. Recht typisch ist auch die Demonstration ihrer prothetischen Korrekturwünsche mit Watte, Papiertaschentüchern, Kaugummis, mit Zirkel und Millimetermaß, mit Spiegel u.a., um besonders glaubhaft zu beweisen, was sie stört und was verändert werden muss. Der erfahrende Zahnarzt ahnt, was ihm droht. Der Patient verlangt eine technische Perfektion, die von seiner kranken Persönlichkeitsstruktur aber grundsätzlich in Frage gestellt werden wird. Die prothetische Unzufriedenheit wird zum Lebensinhalt und ermöglicht es dem Patienten, realen Probleme auszuweichen. Ja, es gibt sie, räumen manche Patienten sogar ein. Aber man wird sie erst konkret angehen können, wenn diese zusätzlichen und vor allem unerträglichen Belastungen im Mund endlich einmal ihr Ende gefunden haben... Der Patient will den zweiten Schritt vor dem ersten erzwingen - und macht damit eine Lösung von vornherein unmöglich.
Weniger psychologische, mehr psychiatrische Aspekte und damit Kenntnisse erfordern neben den erwähnten hysterischen Zügen (siehe oben) auch hypochondrische Einstellung (siehe das entsprechende Kapitel über die Hypochondrie), insbesondere aber zwei psychiatrische Krankheitsbilder, die zum einen nicht selten und zum anderen auf Anhieb schwer erkennbar sind: schizophrene Psychosen und die Depressionen. Schizophrenie und Zahnprobleme Bei den schizophrenen Psychosen sind es vor allem die so genannten Leibgefühlsstörungen, die auch im Zahnbereich zu Irritationen und unnötigen Eingriffen führen können. Einzelheiten zu dem an und für sich schon schwierigen Krankheitsbild siehe das spezielle Kapitel über die Schizophrenien. Dort wird auch versucht darzustellen, dass es nicht nur die für alle nachvollziehbaren Halluzinationen (Sinnestäuschungen) und Wahnphänomene sein müssen, die eine Schizophrenie ausmachen. Es gibt viele Beeinträchtigungsmöglichkeiten, die zudem nicht einmal auffallen, weshalb weit mehr schizophren Erkrankten mit uns zusammen wohnen, arbeiten, Feste feiern usw. als man ahnt - und zwar ohne dass man sie als "Geisteskranke" erkennt. Oft sind es auch ganz spezifische, der Allgemeinheit weitgehend unbekannte Beeinträchtigungen, die diese Patienten belasten, so dass der krankhafte Hintergrund noch weniger deutlich wird. Dazu gehören auch die Leibgefühlsstörungen (Fachbegriff: Zoenästhesien). Darunter versteht man eigenartigen Leibgefühle, die - charakteristischer Weise - nicht als "von außen gemacht" wahrgenommen, eher als körpereigene Störungen empfunden werden. Das macht sie noch schwieriger als krankhaft erkennbar. Manchmal treten sie anfallsweise, manchmal in raschem Wechsel oder phasenhaft auf. Auf jeden Fall sind sei meist schwer zu schildern. Wenn der Patient über das Fehlen von Organen wie Magen oder Blase, ja sogar Hände oder Füße klagt, ist die Diagnose kein Problem. Das Gleiche gilt über eigenartige Taubheits-, Steifigkeits- oder Fremdheitsempfindungen, über abnorme Schwere- oder Leichtigkeitsgefühle, über Fall-, Sink-, Schwebe- und sonstige Phänomene, über Verkleinerung oder Vergrößerung, Scheinbewegungserlebnisse sowie nicht vorhandene Zahnlücken u.a.m. Schwieriger wird es dann, wenn sich die Klagen durchaus nachvollziehbar anhören. Dazu gehören beispielsweise umschriebene Schmerzempfindungen, anfallsweise oder langsam an- und abschwellend, bisweilen wandernd, von jeder Qualität wie Bohren, Reißen, Brennen, Stechen usw. Und hier vor allem im Kopf-, Gesichts- und Mundbereich. Wenn es überzeugend dargestellt wird und gleichzeitig kleinere Befunde zu erheben sind (Karies, Zahnfleischentzündungen u.a.), pflegt sich der Zahnarzt auch nicht durch eine psychiatrische Verdachtsdiagnose verunsichern lassen. Häufig haben diese Patienten aber nicht nur klare Schmerzhinweise, sondern ebenso klare Vorstellungen von der Ursache und der notwendigen Therapie. Sie verlangen nach Trepanationen, Resektionen und Extraktionen und können ihre Schmerzen oder Beschwerden so dramatisch schildern, dass sich der Zahnarzt kaum einer gezielten Behandlung entziehen kann. Vielleicht irritiert dazwischen einmal kurz eine Bemerkung, die aufhorchen lassen sollte ("fühlt sich an wie eine Schlange im Mund", könnte es sein, dass bei der letzten Zahnextraktion ein "Instrument im Kiefer verblieben ist" usw.). Aber wer weiß schon, was bei so manchen naiven Patienten im Kopf "herumspukt". Muss man gleich jeden als schizophren verdächtigen? Eine gesicherte Diagnose kann mitunter sogar dem Psychiater schwer fallen. Der Zahnarzt ist natürlich zuerst einmal gehalten, seine eigenen Aufgaben zu bewältigen. Und wenn er Verdacht zu schöpfen beginnt, hat ihn der Patient vielleicht bereits wieder verlassen, besonders wenn er ahnt, dass seinem Zahnarzt Bedenken kommen. Depressionen und Zahnprobleme Depressionen gehören inzwischen zu den häufigsten seelischen Störungen (rund 10 bis 15 % in der Allgemeinbevölkerung). Einzelheiten dazu siehe das entsprechende Kapitel. Dort finden sich auch die wichtigsten Symptome: eine sonst ungewöhnliche seelisch-körperliche (!) Herabgestimmtheit, Freudlosigkeit, Interesselosigkeit, Energielosigkeit (deshalb auch als -losigkeits-Syndrom bezeichnet), ferner Merk- und Konzentrationsstörungen bis hin zur unfassbaren Vergesslichkeit, dazu mutlos, verzagt, empfindlich, aber auch reizbar bis aggressiv, verlangsamt, umständlich, durch ein lähmendes Problem-Grübeln, durch Schuldgefühle und inneres Erkalten beeinträchtigt u.a. Doch am aufdringlichsten und in der Regel auch am schmerzlichsten empfunden sind die körperlichen Symptome ohne organischen Befund: Schlaf-, Appetit-, Magen-Darm-, Herz-Kreislauf-Störungen, Kopfschmerzen, Schmerzen an Wirbelsäule und Gelenken, Muskulatur u.a. Und Beschwerden im Mund-, Hals- und Rachenbereich: Kloß oder Würgegefühl im Hals sowie Zahnschmerzen trotz unauffälligem Befund. Dabei kann vor allem der Zahnersatz (plötzlich) Probleme bereiten, besonders wenn er schon vorher zu Klagen Anlass gab, die aber einigermaßen tolerierbar waren. Die Depression aber hat die Neigung, Problembereiche des Organismus, vor allem wenn sie bisher nur knapp kompensierbar waren, über die Erträglichkeits-Schwelle zu heben - und zu Beschwerden eigener Art ausufern zu lassen. Dies betrifft praktisch jeden Organbereich: Herz, Kreislauf, Magen-Darm, Atmung, Muskulatur, Skelettsystem, Blase - und vor allem kopf-nahe Schwachpunkte: Kopfschmerzen, plötzlich schlechtes Sehen und Hören, vor allem aber schmerzende Zähne oder die erwähnte schlecht sitzende Prothese. Wenn also die Klage über plötzliche Zahnbeschwerden überhand nimmt und man muss anhand der übrigen Beschwerden gleichzeitig an eine Depression denken, sollte man das tun, was während einer solchen Gemütsstörung als wichtigster Grundsatz gilt: keine Entscheidungen von Bedeutung treffen, solange die Depression anhält (und alles düster einfärbt). Das gilt sowohl für partnerschaftliche, familiäre, berufliche oder finanzielle Aspekte als auch für gesundheitliche Eingriffe jeglicher Art, es sei denn sie sind diagnostisch eindeutig zuzuordnen und unaufschiebbar (vor allem in ihren Konsequenzen später nicht etwa zu bereuen, wie das bei vorschneller Zahnextraktion sein könnte). Angststörungen und Zahnprobleme Angststörungen, die inzwischen zahlenmäßig mit den Depressionen gleichzuziehen drohen (etwa 10 % der Bevölkerung) können im Rahmen zahnmedizinischer Fragen ebenfalls Bedeutung erlangen, wenngleich weniger dramatisch wie beispielsweise bei Schizophrenie oder Depression. Einzelheiten dazu siehe das spezielle Kapitel über Angststörungen. Besondere Probleme könnten - zumindest theoretisch - manche Phobien bereiten, also objekt- bzw. situationsbezogene Angstzustände (auch Zwangsbefürchtungen genannt). Und hier insbesondere die spezifische Phobie. Das ist eine dauerhafte, unangemessene und exzessive Furcht vor bestimmten Situationen, Gegenständen, Lebewesen usw., die zwar - objektiv gesehen - vielleicht unangenehm, aber nicht unüberwindbar sein müssen. Die Folgen sind Erwartungsangst, Vermeidungstendenz mit Rückzugs- und damit Isolationsgefahr. Klassische spezifische Phobien sind die Höhen- und Spinnenangst, die - je nach unterschiedlicher Intensität - recht weit verbreitet sind. Aber auch die krankhafte Furcht vor dem Anblick von Blut, vor Verletzungen, Spritzen oder bestimmten Krankheiten, wozu auch Zahnleiden gehören. Ein Problem eigener Art ist die früher so genannten Klaustrophobie, die krankhafte Furcht vor engen Räumen wie Tunnel, Tiefgaragen, Fahrstühle, Menschenschlangen, aber auch Friseur- oder Zahnarztstuhl. Letzteres ist natürlich ein mehrschichtiges Angst-Phänomen, kann aber im Extremfall soweit gehen, dass der Patient trotz ernster Folgeschäden jeglichen Zahnarztbesuch meidet. Körperdysmorphe Störung und Zahnprobleme Schließlich muss in diesem Zusammenhang noch die Dysmorphophobie gestreift werden, früher auch als "Entstellungs-Syndrom", heute vor allem als körperdysmorphe Störung bezeichnet. Das ist die unbegründete Befürchtung vor einer körperlichen Deformierung. Weil die Betroffenen die Psychiater und Psychologen meiden, gilt sie gemeinhin als seltenes Krankheitsbild - doch das trügt. In Wirklichkeit konzentrieren sich diese Patienten bei Dermatologen, HNO- und Zahnärzten, Kieferchirurgen, vor allem aber in der plastischen Chirurgie, wo sie technisch auch gut behandelt, leider aber nur selten als seelisch gestört erkannt und deshalb psychotherapeutisch versorgt werden. Um was handelt es sich? Patienten mit einer körperdysmorphen Störung erleben sich als hässlich, abstoßend, lächerlich, obgleich sie unauffällig aussehen. Oder sie empfinden leichte körperliche ("markante") Veränderungen als Anomalität. Davon lassen sie sich auch nicht abbringen. Die Vorstellung der Hässlichkeit bezieht sich auf alle möglichen Aspekte, vor allem aber auf das Gesicht: Nase (Form und Größe), Mund, Wangen, Kinn, Lippen, Zunge, Kiefer, Ohren (Größe, Symmetrie, Haltung, Form), Gesichtsbehaarung, Bartwuchs, aber auch Schweiß- und Errötungsneigung u.a. Und die Zähne, vor allem Stellung, Form und Farbe. Zwar können sämtliche Körperbereiche betroffen sein, doch scheint der Kopf, insbesondere das Gesicht an erster Stelle zu stehen. Einzelheiten siehe das spezielle Kapitel über die körperdysmorphe Störung bzw. Dysmorphophobie. Eines soll aber schon hier betont werden: Entscheidend ist nicht der (z.B. operative) Eingriff des jeweiligen ärztlichen Spezialisten, entscheidend ist eine ausführliche psychiatrische oder psychologische Untersuchung, die die zugrunde liegende seelische Störung erkennt, einordnet und vor allem für eine adäquate Psychotherapie sorgt. Wenn das nicht der Fall ist (und das ist die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen), droht auch hier eine Arztkonsultation oder ggf. ein Eingriff nach dem anderen - ohne je zu dem gewünschten Erfolg zu führen. Denn, so wurde schon vor über 100 Jahren erkannt: Das subjektive Gefühl der Hässlichkeit oder körperlichen Missgestaltung trotz normalen Aussehens ist durch keinen operativen Eingriffe zu korrigieren. Hier hilft nur eine seelische Betreuung weiter - wenn überhaupt.
Abschließend sollen noch einige spezielle Aspekte kurz erläutert werden, nämlich - Daumenlutschen und kieferorthopädische Folgen Schon vor über 150 Jahren, nämlich seit dem Struwwelpeter des Psychiaters Dr. Heinrich Hoffmann (ursprünglich für seinen hyperaktiven Sohn geschrieben) werden Daumenlutschen, Nägelbeißen. Lippensaugen und ähnliche Gewohnheiten (Fachausdruck: Habits) als kindliche "Unarten" mit erzieherischer Macht bekämpft. Nicht umsonst, denn sie können zumindest kieferorthopädische und dentale Folgen nach sich ziehen. Dass solche verlängerten Gewohnheiten über die normal tolerierbare Zeit hinaus ihre psychologischen Hintergründe haben, wird zwar allgemein anerkannt, aber in der Vorbeugung bzw. Therapie nur selten konstruktiv genutzt. Hier sollten Zahnärzte und Kieferorthopäden rechtzeitig präventiv eingreifen (was vor allem die Empfehlung zu ggf. psychotherapeutischen Maßnahmen einschließt). - Ernährung - Pflege - Karies Auch ist es eine alte und zugleich schwer begreifbare Erkenntnis, dass der überwiegenden Mehrzahl der Bevölkerung die Bedeutung von Ernährung und Pflege im Bezug auf die Zähne zwar durchaus bekannt ist - aber für viele ohne Konsequenzen. Das beginnt mit karies-trächtigen Süßigkeiten in fester und flüssiger Form und geht über das Zähneputzen bis zur (nicht-) regelmäßigen zahnärztlichen Kontrolle. Selbst nach eingetretenem Zahnschaden ist die so genannte Compliance (Therapietreue, Behandlungszuverlässigkeit) häufig so unzureichend, dass ein Zahn nach dem anderen dabei verloren geht. Auch hier sollte die Prävention noch verstärkt werden, vor allem in jungen, d.h. noch prägbaren Jahren. Später nimmt die Indolenz ("Wurstigkeit") in manchen Kreisen geradezu unfassbare Formen an - nebenbei auch die Anspruchshaltung an die Solidargemeinschaft, vor allem was Kosten und die tolerierbare Belastung des näheren und weiteren Umfeldes anbelangt, einschließlich behandelnde Ärzte. - Stress Nicht-entzündliche Zahnbetterkrankungen nehmen zu. Die Ursachen sind vielfältig. Eine davon soll Stress sein, eine allgemeine Belastung, die ebenfalls zunimmt. Stress kann zu vielerlei Problemen führen: seelisch, organisch, psychosozial. Letzteres leuchtet am ehesten ein (partnerschaftlich, zwischenmenschlich, nachbarschaftlich, Beruf). Aber Stress schwächt auch die Organ-Funktionen, vermindert z.B. die Widerstandskraft gegenüber Infektionen. Und Stress kann sogar zu Fehlfunktionen im Zahnapparat führen (siehe Knirschen und Pressen) und damit Zahnfleisch, Alveolen, Alveolarknochen, Zahn-Wurzelhaut und Zement beeinträchtigen. Zumindest aber verschlechtert sich damit die Funktion des Zahnapparats und kann so eine bereits bestehende Parodontitis, also einen entzündlichen Prozess im Bereich des Zahnhalteapparats verstärken. Und damit zu frühen Zahnverlust beitragen, meist durch exzentrische Belastung. Oder kurz: Stress greift sogar über den Zahnhalteapparat den Zahn direkt an, wenn dieser ohnehin entzündungsgefährdet ist. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. · (PSYCHO-)THERAPEUTISCHE EMPFEHLUNGEN In der Medizin dominiert noch immer die alte Zweiteilung in Körper und Seele (Soma und Psyche). Das ist auch in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde nicht anders - jedenfalls bis jetzt. Allerdings tut sich hier etwas. Das Stichwort der Zukunft ist die "bio-psycho-soziale Betrachtungsweise des Krankheitsgeschehens". Rein körperlich begründete Therapieansätze führen in der Zahnmedizin und Kieferheilkunde in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ebenfalls zum Erfolg - vorerst. Doch nicht immer, auch wenn sich die meisten Betroffenen letztlich damit abfinden. Vor allem dürfte sich das bei Zunahme des so genannten "mündigen Patienten" ändern (nicht zuletzt durch das Internet und seine Aufklärungsmöglichkeiten). Deshalb kann es nicht schaden, wenn nicht nur der biologische, sondern auch der psychologische und damit psychosoziale Aspekte in Diagnose und Therapie mit eingehen (deshalb der Begriff bio-psycho-soziale Betrachtungsweise). Für den Zahnarzt und Kieferorthopäden geht es aber um mehr. Es ist unstrittig, dass parodontale Probleme, Kiefergelenksschmerzen, Karies, Zahn-Fehlstellungen oder Ersatz von Zähnen öfter einen psychosozialen Hintergrund vermuten lassen, als dann wirklich nachgeforscht und berücksichtigt wird. Darüber kommentarlos hinwegzugehen und sich nur auf die Technik zu beschränken, ist die eine Seite, bisher üblich, meist auch erfolgreich und damit vertretbar. Wer aber eine optimale Diagnose und Behandlung anstrebt und von der Prävention (Kariesprophylaxe, Mundhygiene, regelmäßigen Zahnarztkontrolle) überzeugt ist, der kommt um einige Fragen nicht herum, die auch die Lebenssituation des Patienten betreffen. Denn viele sind an ihren Symptomen durchaus beteiligt. Und dies gilt es festzustellen und in Diagnose und Therapie einzubeziehen. Doch die meisten Kontakte zwischen Zahnarzt und Patient zu diesem Thema sind so minimal, dass man sie fast als nicht vorhanden bezeichnen kann. Dabei könnten es sich beide Seiten leichter machen. Ja, es ist richtig, dass sich Patienten mit subjektiven Zahnproblemen (ohne organischen Befund, also mit einem seelischen Hintergrund) einem psychologischen Gespräch im Allgemeinen und einer Psychotherapie im Speziellen nur selten öffnen. Und je mehr Ängste sie entwickeln und je heftiger die drohenden Schmerzattacken werden, desto mehr orientiert man sich an der körperlichen, vor allem technischen Seite der Behandlung. Der psychotherapeutisch orientierte Weg ist zudem länger, mühsamer, ggf. für beide Seiten frustrierender. Doch auch die Erfolge können sich sehen lassen, beginnend mit der Einsicht in die Funktion des Schmerzes über die Schmerzkontrolle bis zur Schmerz-Reduktion durch Entspannung oder gar selbsthypnotische Verfahren. Das alles braucht mitunter eine lange Phase des Vertrauensaufbaus. Und natürlich mehr Unterstützung durch den Arzt und mehr Engagement des Patienten. Auch dem Zahnarzt kommt es zugute Aufgrund der bisherigen Erfahrungen aus der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Psychologen, Psychiatern, Zahnärzten, Kieferorthopäden u.a. aber geht hervor, dass sich dieser Weg langfristig lohnt. Er kann sogar zu einer Änderung der beruflichen Identität führen, und zwar von dem bisher vorherrschenden bio-medizinischen zum bio-psycho-sozialen Krankheitskonzept.
Denn dieses mehrschichtige Konzept ermöglicht es dem Arzt die Wirklichkeit des Kranken auch mehrschichtig zu erfassen. Dadurch kann er seine ärztliche Hilfe erweitern und seine Rolle als Therapeut vom rein Biologischen über das Technische bis zum Seelischen und Sozialen verbessern. Die Erfolge werden ihm Recht geben, gleichgültig ob es sich um Vertrauen, Therapietreue, bessere Hygiene oder verringertes Schmerzerleben handelt. Und es wird noch etwas anderes zu seinem Vorteil herauskommen: Er wird dem drohenden Burnout-Syndrom (erschöpft-verbittert-ausgebrannt) eher entgegen können, was nicht nur die Ärzte im Allgemeinen, sondern auch die Zahnärzte im Speziellen mehr und mehr zu zermürben droht. Denn er wird vom Patienten nicht nur die fachlich-technische Anerkennung verlangen dürfen, die dieser ihm objektiv ohnehin nicht geben kann, weil er es kaum überblickt, er wird vielmehr auch die menschliche Anerkennung erhalten, wenn sich dieser von ihm verstanden fühlt. Auch ist es eine alte Erkenntnis, dass man mit psychosomatischer Vorbildung auch als Arzt seine eigenen gesundheitlichen Probleme besser verstehen lernt - und dadurch schneller erkennt, rascher akzeptiert und rechtzeitig und konsequent behandeln lässt. LITERATUR Schon zahlenmäßig überaus wichtiges, bisher aber kaum ausreichend erforschtes und vor allem in der ärztlichen Ausbildung, Weiter- und Fortbildung entsprechend berücksichtigtes interdisziplinäres Gebiet zwischen Zahn-Mund- und Kieferheilkunde, Psychologie und Psychiatrie. Deshalb auch im deutschsprachigen Bereich nur begrenzte Fachliteratur verfügbar, von allgemein verständlichen Informationen ganz zu schweigen. APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-IV. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 1998 Birner, U.: Psychologie in der Zahnmedizin. Quintessenz-Verlag Berlin 1993 Demmel, H.-J., F. Lamprecht: Zahnmedizin. Aus: Th. v. Uexküll (Hrsg.): Psychosomatische Medizin. Urban & Fischer, München-Wien-Baltimore 2003 Egle, U. T., H.-J. Demmel: Orofaziales Schmerz-Dysfunktionssyndrom und atypischer Gesichtsschmerz. In: U. T. Egle, S. O. Hoffmann (Hrsg.): Der Schmerzkranke. Schatthauer-Verlag, Stuttgart-New York 1993 Ermann, M., W. Neuhäuser: Der orofaziale Schmerz. Perspektiven für eine Zusammenarbeit zwischen Zahnmedizin und Psychosomatik. Quintessenz-Verlag, Berlin-Chicago-Sao Paulo-Tokio 1990 Habermas, T., H. P. Rosemeier: Auf dem Wege zu einer zahnmedizinischen Psychologie. Aus: E. Brähler (Hrsg.): Jahrbuch der Medizinischen Psychologie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 1992 Ingersoll B. D.: Psychologische Aspekte der Zahnheilkunde. Quintessenz-Verlag, Berlin 1987 Johnke, G.: Klinische Psychologie in der zahnärztlichen Praxis. Schlüter-Verlag, Hannover 1997 Johnke, G.: Psychische Aspekte dentaler Parafunktionen. Schlüter-Verlag, Hannover 2000 Kent,G. G., A. S. Blinkhorn: Psychologie in der Zahnheilkunde. Hanser-Verlag, München 1993 Makuch, A, K. Reschke: Orales Gesundheitsverhalten. In: R. Schwarzer (Hrsg.): Gesundheitspsychologie. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 1997 Makuch, A: Erziehung zur Mundgesundheit - Grundlagen und praktische Hinweise. Aus: H. G. Sergl (Hrsg): Psychologie und Psychosomatik in der Zahnheilkunde. Urban & Schwarzenberg, München 1996 Marxkors, R., H. Müller-Fahlbusch: Psychogene Prothesenunverträglichkeit. Hanser, München 1976 Meng, H.: Psychologie in der zahnärztlichen Praxis. Huber-Verlag, Bern 1952 Müller-Fahlbusch, H.: Ärztliche Psychologie und Psychosomatik in der Zahnheilkunde. Thieme-Verlag, Stuttgart 1992 Reschke, K. und Mitarb. (Hrsg.): Beiträge zur Theorie und Praxis der Medizinischen Psychologie für Stomatologen. Universitätsverlag, Leipzig 1988 Schneller, T., A. Fleischer-Peters (Hrsg.): Anwendung psychologischer Methoden in der Zahnmedizin. Fachbuchhandlung für Psychologie, Frankfurt 1985 Schulte, W.: Die exzentrische Okklusion. Quintessenz-Verlag, Berlin 1983 Schulte, W.: Kiefergelenkserkrankungen und Funktionsstörungen. Aus: N. Schweizer, G. Grimm (Hrsg.): Zahn- Mund- und Kieferheilkunde. Thieme-Verlag, Stuttgart 1981 Sergl, H. G. (Hrsg.): Psychologie und Psychosomatik in der Zahnheilkunde. Urban & Schwarzenberg, München 1996 Sergl, H. G., H. Müller-Fahlbusch: Angst und Angstabbau in der Zahnmedizin. Quintessenz-Verlag, Berlin-Chicago-London-Sao Paulo-Tokio 1989 Sergl, H. G. und Mitarb. (Hrsg.): Psychologische Aspekte des zahnärztlichen Berufes. Haensel-Hohenhausen, Egelsbach 2001 Uexküll, Th. v. (Hrsg.): Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1996 WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen - ICD-10. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto 1993 _________________________________________________ |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |