Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
Pica: Krankhafte EssgelüsteEss-Verhaltens-Störung mit Lust auf Haare, Insekten, Steine, Schaumstoff, Kot u.a.
Störungen des Ess-Verhaltens sind zwar so alt wie die Menschheit und schon vor über 2000 Jahren beschrieben worden, nehmen aber in unserer Zeit und Gesellschaft zu. Wie viele Familien schauen inzwischen sorgenvoll auf eines ihrer Mitglieder, meist weiblich und jünger, das unter einer Ess-Störung leidet. Bekannt sind dabei eigentlich nur die beiden Extreme: zuviel oder zuwenig. Einzelheiten in Stichworten siehe im Kasten.
Was den meisten allerdings kaum bekannt sein dürfte ist eine weitere Form der Ess-Störung, die man Pica-Syndrom nennt. Was liegt hier vor? Bei dem Pica-Syndrom oder kurz Pica genannt, handelt es sich nicht um eine quantitative, also mengenmäßig auffällige Ess-Störung mit dem erwähnten Zuviel oder Zuwenig, sondern um eine qualitative Störung des Appetits, bei der es um zumindest Sonderbares, Ungewöhnliches, ja sogar Ungenießbares, Widerliches oder Ekeliges geht. Beispiele: Staub, Erde, Lehm, Steine, Kiesel, Asche, Gras, Farben, Kalk, Eis, Schnee, Haare, Papier wie Zeitungsschnitzel u.a., ferner Textilien, Gips, Mehl, Kreide, Zement, Seife, Schaumstoff, Gummi, Kohle, Insekten, Kot u.a. Nachfolgend deshalb eine Übersicht zu einem Thema, das in letzter Zeit vermehrt in die Diskussion geraten ist - entweder weil es zunimmt oder weil man vermehrt darauf zu achten beginnt. Pica - "Krankheit der Elster" Den Namen hat diese qualitative Normabweichung des Essverhaltens von einem Rabenvogel, der wahllos Dinge in den Schnabel nimmt, um damit sein Nest zu bauen, nämlich der Elster (lateinisch: Pica pica). Es gibt aber zahlreiche andere Bezeichnungen zum gleichen Phänomen. Beispiele: Picatio, Picazismus (weshalb die Betroffenen auch Pikazisten genannt werden), Crissa, Citta, Malacia, Allotriophagia, Hapsicoria, Pellacia, Pseudorexia u.a.m. Definition Bezeichnend für diese qualitative Normabweichung des Essverhaltens ist die Einnahme von Substanzen oder Objekten, wie sie in dieser Art, Form oder Menge für die menschliche Ernährung nicht üblich ist. Im Gegensatz zu Anorexie oder Bulimie bzw. Hyperphagie (siehe das spezielle Kapitel), die vor allem im Wohlstandsgesellschaften zunehmen, scheint die Pica eher in den einfacheren Sozialschichten, bei Menschen mit dunkler Hautfarbe und in Entwicklungsländern vorzukommen. Dabei darf man allerdings sogenannte transkulturelle Aspekte nicht übergehen. Es gilt das Pica-Verhalten mit Krankheitswert von Besonderheiten der Nahrungsaufnahme und sogar der medizinischen Selbstbehandlung abzugrenzen, wie es in verschiedenen Regionen bzw. entsprechenden Volksstämmen üblich, ja Tradition ist. Selbst in unseren Breiten finden sich ja da und dort noch immer bestimmte volksheilkundliche Überzeugungen, dass beispielsweise das Essen von Erde, immer wieder auch das Trinken von Urin einen günstigen Einfluss auf diese oder jene Körperfunktionen habe. Weitere Einzelheiten dazu siehe später. Was die Definition des Pica-Syndroms anbelangt, bezieht man sich vor allem auf das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen - DSM-IV der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), die mindestens folgende Kriterien fordert, um die Diagnose einer Pica zu rechtfertigen:
Spezifische Pica-Verhaltensmuster Man kann sich denken, dass ein solch abnormes Ess-Verhalten auch zahlreiche Varianten bietet. Doch solche Unterformen werden in der wissenschaftlichen Literatur bisher recht uneinheitlich klassifiziert. Nachfolgend nur einige Aspekte zum besseren Verständnis:
Werden mehrere Substanzen eingenommen, fällt bisweilen der Begriff einer "Poly-Pica". Und schließlich gilt als besonders schwer verständliche Pica-Form die
Zuletzt sei schon vorweg genommen, was für Schizophrenie und geistige Behinderung bereits angedeutet wurde: Das Pica-Syndrom kann eigenständig sein, aber auch im Gefolge anderer seelischer Störungen auftreten. Das sind neben Schizophrenie und geistiger Behinderung auch Depressionen, Zwangssyndrome, hirnorganische Beeinträchtigungen u.a. (siehe später). Und als spezielles, wenngleich harmlose Form die "seltsamen Gelüste" während der Schwangerschaft, was im Allgemeinen keinen Krankheitswert hat. Ursachen und Krankheitsverlauf Die Pica ist also kein homogenes (einheitliches, in sich schlüssiges) Krankheitsbild, sondern häufig nur ein Symptom (Krankheitszeichen) bestimmter Störungen. Manchmal dürfte der Übergang vom Gesunden (wenn auch leicht Abnormen) zum Pathologischen (Krankhaften) durchaus fließend sein. Ein Beispiel sind die schon erwähnten "außergewöhnlichen" Nahrungs-Gelüste schwangerer Frauen. Als Ursachen und Auslöser werden sowohl biologische als auch psychosoziale Faktoren diskutiert. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die kulturellen bzw. ethnischen Aspekte der jeweiligen Volksgruppe, was zum Beispiel bei ausländischen Arbeitnehmern, Asylanten, Übersiedlern und Gästen aus entsprechenden Regionen berücksichtigt werden muss. Aber auch sonst ist bei der Pica kein einheitliches Erklärungsmodell möglich. Man spricht deshalb in Fachkreisen von einer sogenannten Polyätiologie (mehrschichtigen Krankheitsursache). Biologische Faktoren sind beispielsweise im Rahmen einer Hirnschädigung, nach einem Schädel-Hirn-Unfall oder bei bestimmten biologisch erklärbaren seelischen Störungen (siehe unten) anzunehmen. Psychosoziale oder biologisch-psychosozial gemischte Aspekte erklären sich aus Entwicklungsrückständen, sogenannten Perversionen, aus Zwangsstörungen, Impulskontrollstörungen, schweren Persönlichkeitsstörungen u.a. Nachfolgend einige Diskussions-Beispiele aus der Wissenschaft:
Eine ganz andere Erklärungs-Dimension ergibt sich aus den erwähnten kulturellen Faktoren, die auch gesundheitliche Aspekte enthalten, so sonderbar sich das gerade bei der Pica anhören mag. So fand man beispielsweise, dass das Pica-Verhalten in bestimmten Regionen oftmals Ausdruck eines umschriebenen Mangelzustandes ist, z. B. einer sogenannten Sideropenie (Eisenmangel). Das gleiche gilt für andere Mineralstoffe wie Zink, Kupfer, Kalzium u.a. Eisen beispielsweise hat eine Schlüsselfunktion bei der Synthese sogenannter Botenstoffe (Fachausdruck: Neurotransmitter) wie Dopamin und Noradrenalin, die auch für die Gemütslage verantwortlich sind. So wäre die Pica unter bestimmten Bedingungen beispielsweise als instinktives Suchen von mineralhaltigen Substanzen zu interpretieren, um sich eine ausgeglichene Stimmungslage zu verschaffen (im Tierversuch ist das sowohl in der Natur als auch experimentell zu beobachten). Selbst die Koprophagie, also das Kot-Essen hat bei verschiedenen Tierarten lebenswichtige Funktionen im Dienste einer optimalen Nahrungsverwertung bzw. Verdauung. Dabei kann es beispielsweise um die Rückgewinnung von Verdauungsenzymen, von Gallensäure oder Vitamin B und K gehen (Hunde, Fohlen, Ratten). Auch die bessere Ausschöpfung des Energiegehaltes einer pflanzlichen Nahrung wird dadurch verständlich (z. B. bei Gorillas). Sogar Entgiftungsfunktionen sind denkbar (z. B. bestimmte Lehme bei Papageien, was auch bei manchen Völkern genutzt wird). Das gleiche gilt für Naturprodukte, die uns nicht schmecken, anderen Völkern aber wichtige Mineralien bieten (Eicheln und für uns ungenießbare Nüsse).
Gesundheitsbedrohliche Komplikationen Anders wird es bei drohenden gesundheitlichen Komplikationen. Das "Beschwerdebild" einer Pica ist in der Regel uncharakteristisch, solange es nicht auffällt, z. B. durch lebensbedrohliche Vergiftungserscheinungen oder mechanische Schäden durch spitze Fremdkörper bis hin zu Verletzungen im Bereich von Magen und Darm. Das gleiche gilt für sogenannte metabolische Störungen wie Eisenmangel oder Verschiebungen im Säure-Basen-Haushalt des Organismus. Am häufigsten sind offenbar unspezifische Klagen über erst einmal uncharakteristische und vor allem "unerklärliche" Oberbauchbeschwerden. Auf was muss man nun im einzelnen gefasst sein?
Und in vielen Gegenden ist gerade das Essen von Lehm und Erde mit der Gefahr einer Parasiten-Infektion verbunden, z. B. mit bestimmten Darmparasiten. Ein besonderes Problem sind Magen-Darm-Komplikationen. Mit was ist zu rechnen?
Was kann man tun? Es gibt keine einheitliche Pica-Therapie. Je mehr Ursachen, desto mehr Behandlungsstrategien, und zwar möglichst zielgerichtet. Nur kurz: Die Therapie hängt von der Grundkrankheit ab, die hinter der Pica steckt. Dies sind im wesentlichen drei Ebenen:
Ansonsten geht es in vielen Fällen erst einmal um die rasche Entschärfung einer Komplikation. Das heißt beispielsweise ein umgehender chirurgischer, internistischer oder parasitologischer (z. B. gegen Parasiten wie Würmer u.a.) Einsatz zur Behebung der unter Umständen gefährlichen Folgeschäden. Auf der anderen Seite gilt es die Ursachen des gestörten Essverhaltens abzuklären, um jetzt möglichst spezifisch, d.h. ursachenbezogen anzusetzen. Bei konkreten seelischen Krankheitsbildern mit Pica-Essverhaltens-Störungen sind die Aussichten am günstigsten. So ist bei einer Schizophrenie mit den entsprechenden antipsychotischen Neuroleptika (siehe das entsprechende Kapitel) durchaus mit einer Besserung zu rechnen. Ähnliches gilt auch für den kindlichen Autismus. Bei Depressionen sind es stimmungsaufhellende Antidepressiva, bei Zwangsstörungen ebenfalls (hier vor allem die sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer - SSRI). Handelt es sich um ein hirnorganisches Krankheitsbild, z. B. einen inoperablen Hirntumor mit Pica-Verhalten (z. B. Schläfenlappen-Glioblastom), so ist auch hier ein medikamentöser Behandlungsversuch sinnvoll, z. B. mit einem Antiepileptikum. Liegt die Ursache für eine Pica gar in einem Mineraldefizit (was auch in europäischen Bereichen nicht ausgeschlossen werden kann), z. B. in einer Sideropenie (Eisenmangel), so ist dies noch am schnellsten zu beheben und zwar gezielt medikamentös. Im Falle des Eisenmangels kann sich das Pica-Verhalten sogar auflösen, bevor die zugrunde liegende Eisenmangel-Anämie (Blutarmut) behoben ist.
Unerlässlich sind aber auch milieu- und verhaltenstherapeutische Ansätze und die Entfernung sogenannter pica-gefährlicher Objekte (z. B. entsprechendes Spielzeug). Und natürlich die Intensivierung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Straffung der Tagesstruktur (Vorsicht vor Langeweile). Sind die entsprechenden Möglichkeiten gegeben, erweisen sich gerade bei geistig schwerst Behinderten noch spezifische Verhaltenstechniken als durchaus hilfreich (was allerdings sehr personal-intensiv ist). Das verhindert dann in verzweifelten Fällen wenigstens die "allerletzten" Maßnahmen wie Fixierung, Gesichtsmasken usw. Schlussfolgerung Pica - Die Lust auf Ungenießbares. Oder als Slogan: "Kot, Haare und Lehm als Gaumenkitzel?" Doch man sollte es sich nicht zu leicht machen. Sicher ist diese - nebenbei uralte - Ess-Verhaltens-Störung auch ein Zeichen krankhafter Entwicklung. Es kann sich aber auch um durchaus "normale" Gebräuche, ja volksheilkundliche Überzeugungen handeln, von instinktiv angegangenen Stoffwechsel-Mangelerscheinungen ganz zu schweigen. Hier wie bei vielen anderen "Ungewöhnlichkeiten" oder gar "Abnormitäten" gilt deshalb die alte Mahnung: Wissen, d.h. die Kenntnis von selbst nicht Alltäglichem kann so manches Vorurteil abbauen und sogar konkrete Unterstützung vermitteln, auch wenn man sich im ersten Augenblick damit etwas schwer tut oder gar ekelt. LITERATUR Sehr spezifisches Krankheitsbild, über das es nicht allzu viel Fachliteratur und noch weniger allgemeinverständliche Beiträge gibt. Grundlage vorliegender Ausführungen sind neben den Hauptwerken moderner Klassifikation eine Reihe von Fachartikeln: Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-IV. Hogrefe-Verlag, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 1998 Knecht, T.: Pica - eine qualitative Appetitstörung. Schweiz. Med. Wochenschr. 129 (1999) 1287 - 1292 Knecht, T.: Pica - Aberrationen des Ernährungsinstinktes. Neuropsychiatrie 14 (2000) 223 - 231 Weltgesundheitsorganisation (WHO): Internationale Klassifikation psychischer Störungen - ICD-10. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto 1999. Unter Mitarbeit von Dr. T. Knecht |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |