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Das Ganser-Syndrom

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Vorbei-Reden – Vorbei-Handeln – Scheinblödsinn – pseudedementes Syndrom – Zweck-Psychose – Gefängnis-Psychose – besonders groteske Simulationsversuche („Gansern„) – u. a.

Das eigenartige Ganser-Syndrom (benannt nach Dr. med. S. J. M. Ganser, 1897) äußert sich vor allem in einem sinnlosen Vorbei-Reden oder Vorbei-Handeln bzw. grotesken Fehlhandlungen, in denen alles falsch gemacht wird, und zwar offenbar so, wie man sich in Laienkreisen eine Geisteskrankheit vorzustellen pflegt.

Doch selbst nach über 100 Jahren ist man sich noch nicht im Klaren, wie man dieses sonderbare Phänomen beurteilen und einteilen soll. Möglicherweise ist es eine mehr oder weniger unbewusst ablaufende Wunsch- und Zweckreaktion, wie sie z. B. in Krisen oder Notsituationen zu sehen ist, wenngleich nach wie vor selten. In Fachkreisen rückt man aber immer mehr von einer nachvollziehbaren Ursache ab und bezeichnet das Ganser-Syndrom als eine psychische Störung an der diagnostischen Grenze (krankhaft oder „Schlitzohrigkeit„?), was aber eine eigene klassifikatorische Einteilung nicht rechtfertigt. Im Alltag von Klinik, Praxis, Forensischer Psychiatrie einschließlich ärztlicher und psychologischer Betreuung in Vollzugsanstalten (Gefängnissen) spricht man aber noch immer von einem Ganser-Syndrom („Gansern„), wenn sich Täuschungsversuche durch besonders groteske seelische Besonderheiten und Fehlhandlungen auszeichnen.

Nachfolgend eine kurzgefasste Übersicht.


Erwähnte Fachbegriffe:

Ganser-Syndrom – Vorbei-Reden – Vorbei-Handeln – Scheinblödsinn – pseudodementes Syndrom – Zweck-Psychose – Gefängnis-Psychose – Simulationsversuch – „Gansern„ – groteske Fehlhandlungen – Nicht-wissen-Wollen – Dissoziation – dissoziative Störung – verwirrte Geisteskrankheit – Gefängnis-Syndrom – Schlitzohrigkeit – Schizophrenie – Katatonie – Hysterie – Dementia praecox – Dämmerzustand – hysterischer Dämmerzustand – unbewusste Geisteskrankheit – Puerilismus – Häftlings-Psychose – Flucht in die Krankheit – Bewusstseinseinengung – Regression – Verhaltens-Rückfall – Schädel-Hirn-Unfall – Krampfanfall – Gehirnentzündung – Hirntumor – Amnesie – Erinnerungslosigkeit – Desorientierung – Orientierungslosigkeit – Wahrnehmungsstörung – Fugue – Konversions-Symptome – dissoziative Amnesie – dissoziative Fugue – artifizielle Störung – Aggravation – vorgetäuschte Störung – selbst-manipulierte Krankheit – Geschmacksstörungen – Geruchsstörungen – Gesichtsfeldeinschränkungen – Chorea minor – Neurolues – Syringomyelie – Enzephalomalazie – Hirnatrophie – Ganser-Syndrom-Therapie – u.a.m.

Das Ganser-Syndrom ist ein eigenartiges Phänomen des Vorbei-Redens, Vorbei-Handelns und Nicht-wissen-Wollens, benannt nach Dr. med. S. J. M. Ganser, der es vor über 100 Jahren erstmals beschrieb (siehe historische Übersicht).

Die Antworten, selbst auf einfache Fragen hin, waren (und sind noch immer) völlig verdreht, lassen aber erkennen, dass die Frage letztlich verstanden wurde. Das gleiche gilt für z. T. groteske Fehlhandlungen, in denen alles falsch gemacht wird, und zwar offenbar „systematisch„.

Letztlich scheint sich der Betroffene so zu verhalten, wie man sich in Laienkreisen einen Patienten mit einer psychischen Störung („verwirrte Geisteskrankheit„) vorzustellen pflegt.

Begriffe

Nach wie vor wird von einem Ganser-Syndrom (Ganser-Symptome, Ganser-Symptom-Komplex, Ganser-Krankheitszeichen) gesprochen. Auch der Fachbegriff „Dissoziation„ bzw. „dissoziative Störung„ ist in diesem Zusammenhang immer wieder zu hören (siehe später).

Früher fielen auch Begriffe wie Scheinblödsinn, Gefängnispsychose (weil es ursprünglich und auch heute noch immer mal wieder bei Insassen von Vollzugsanstalten gesehen wird), pseudodementes Syndrom, Zweck-Psychose, Vorbei-Reden, Vorbei-Handeln, groteske Simulations-Versuche („Gansern„) u. a.

Beschwerdebild, Ursachen und Verlauf aus historischer Sicht

Das Krankheitsbild war und ist eindrücklich, aber bis heute ätiopathogenetisch (Ursache und Verlauf) sowie nosologisch (Krankheitseinteilung) noch immer nicht sicher ein- und zuzuordnen.

Die Erstbeschreibung (Vortrag in Halle 1897, also vor mehr als hundert Jahren) lautete wie folgt (Auszüge, später auch in zwei Fachartikeln vorgestellt):

„Fragen allereinfachster Art, die ihnen vorgelegt wurden, vermochten nicht richtig beantwortet zu werden, obwohl sie durch die Art ihrer Antworten kundgaben, dass sie den Sinn der Fragen ziemlich erfasst hatten ... Beispiele: 3 + 2 = 7, auf Nachfragen falsch verbessert. Falsche Ortsangabe. Haben Sie eine Nase? Ich weiß nicht. Haben Sie Augen? Keine. Wie viel Finger? Elf. Wie viel Ohren? Betastet erst seine Ohren und sagt dann richtig: zwei. Wie viel Beine hat ein Pferd? Drei. Und ein Elefant? Fünf. Was ist das (Geldstück)? Mappe, das hängt man an die Uhrkette. Wie heißen Sie? Falscher Name„ usw.

Die Frage, die schon Dr. Ganser diskutierte, lautet: Plumpe Simulation (d.h. bewusstes Vortäuschen einer Geisteskrankheit im Sinne eines „Scheinblödsinns„), soweit man meint, Geisteskranke ergehen sich in den unsinnigsten Reden und entbehrten der einfachsten Kenntnisse, die sie früher besessen hätten? Andererseits zeigten seine Fälle unterschiedliche Grade von Bewusstseinstrübung und sogar Hinweise auf Sinnestäuschungen, auf jeden Fall ausgesprochen hysterische Stigmata (hysterisch = seelisch bedingte Körperstörungen mit einem ggf. vielfältigen organischen Beschwerdebild; Stigmatisation = in diesem Fall seelisch bedingte Veränderungen bei hysterischen Personen).

Nach wenigen Tagen traten bei allen Betroffenen überraschende Änderungen des Krankheitsbildes auf: Völlig frei und klar im Bewusstsein, selber verwundert über ihren Aufenthalt in der Anstalt, wussten von nichts, beantworteten alle Fragen richtig, waren schockiert über die albernen Antworten und Reaktionen, die sie vor kurzem geboten hatten. Gleichzeitig waren sämtliche Hinweise auf hysterische Gefühlsstörungen verschwunden.

In einigen Fällen hielt dieser unauffällige Zustand jedoch nicht an, sondern wurde periodisch von Zeiten starker Gemütsverstimmung mit erneuten Sinnestäuschungen und hysterischen Reaktionen unterbrochen.

Dr. Ganser folgerte: In keinem Punkte hätten seine Kranken in ihm den Verdacht des Gemachten, Gekünstelten erweckt. Er habe nie den Eindruck gehabt, als ob sie ihn täuschen wollten. Sie machten spontan keine albernen Bemerkungen. Nur wenn man sie fragte, kamen sie damit heraus und zeigten aber oft genug deutlich, wie lästig ihnen das alles war. Sie waren befremdet darüber, dass man ihre Antworten als falsch und einfältig, als dumm und albern bezeichnen wollte, während sie überzeugt schienen, dass alles richtig sei.

Durch den plötzlichen Wechsel des Gesamtbildes glaubte Dr. Ganser, dass es sich um echte Krankheitsäußerungen handle. Am ehesten dachte er an eine „akute hysterische Geistesstörung„ und fügte an: „Ich will nur daran erinnern, dass viele von hysterischen Elementarstörungen, an deren Realität zur Zeit kein Kundiger mehr zweifelt, früher als gemacht, als simuliert angesehen und mit größten Zweifeln aufgenommen wurden. So dürfen wir uns auch hier, auch wenn sich zunächst der Eindruck zielbewusster Täuschung aufdrängt, nicht vom Schein leiten lassen„. Der Verdacht der Simulation schien ihm jedenfalls nicht gerechtfertigt.

„... dass sie in ihren Antworten eine geradezu verblüffende Unkenntnis und einen überraschenden Ausfall von Kenntnissen verrieten, die sie ganz bestimmt besessen hatten oder noch besaßen„ (S.J.M. Ganser, 1897).

Wie entwickelte sich nun – medizin-historisch gesehen – das Ganser-Syndrom in den folgenden Jahrzehnten? Eine hervorragende Übersicht zu diesem interessanten Thema bietet das Buch-Kapitel „Psychische Störung oder Schlitzohrigkeit? Zur Klassifikation des Ganser-Syndroms„ von PD Dr. H.-J. Assion und Dr. K. Schmidt vom Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum in den empfehlenswertem Buch von W. Vollmoeller (Hrsg.): Grenzwertige psychische Störungen (Thieme, 2004). Mittels verschiedener Datenbanken und sonstiger Recherchen sammelten die beiden Wissenschaftler die gesamte Literatur zum Ganser-Syndrom und kamen zu folgendem Überblick:

Die Reaktionen auf den Vortrag 1897 und die zwei folgenden Publikationen waren lebhaft, auch die folgenden Jahre. Offenbar schien dieses Phänomen nicht so selten (jedenfalls damals). Die Begriffe „unsinnige Antworten„ oder „unsinnige Rede„ wurden schließlich durch „Vorbei-Reden„ ersetzt. Dieses Wort geriet sogar in den Mittelpunkt der damaligen Hysterie- und Schizophrenie-(Katatonie-)Forschung, regte eine lebhafte Diskussion an und äußerte sich in zahlreichen Berichten, Kommentaren und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen.

Dabei wurde sehr rasch klar, dass das eigenartige Vorbei-Reden nicht bloß beim Ganser-Syndrom (wie es auch immer damals eingeschätzt wurde), sondern auch bei der Hysterie und der Dementia praecox (damaliger Begriff für die heutige Schizophrenie) vorkommt, was sich bis heute bestätigen lässt. Vorbei-Reden ist also nicht allein charakteristisch für das Ganser-Syndrom.

Der Fachbegriff „Ganser‚sches Syndrom„ wurde erst wenige Jahre später von einem Schüler S.J.M. Ganser‘s, nämlich Dr. E. Lücke geprägt.

Die folgenden Jahre und zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten konzentrierten sich aber in der Regel auf klinische und vor allem forensische (psychiatrisch-juristische) Aspekte. Auch blieb die Zahl der Betroffenen trotz breiten Interesses immer begrenzt. Meist kamen dadurch lediglich so genannte Kasuistiken (Einzelfall-Darstellungen) zustande, keine größeren Patienten-Kollektive, die dann natürlich auch mehr Aussagekraft zugelassen hätten. Ganser‘sche Symptome ohne juristische Vorgeschichte oder rechtliche Folgen wurden nur sehr selten beschrieben.

Dazu verlor sich nach der Jahrhundertwende langsam das Interesse. Die Zahl der Publikationen sank kontinuierlich. Das tat aber dem Interesse an diesen „seltsamen Patienten„ keinen Abbruch. Sie wurden praktisch in allen wichtigen Lehrbüchern besprochen, wenngleich mit unterschiedlicher Interpretation und Gewichtung. Die Breite der Erklärungsversuche reichte von der Simulation (reiner Betrugsversuch durch Vortäuschen von Krankheitszeichen) über die Hysterie bis zur Schizophrenie. Einige Auszüge dazu siehe Kasten.

Das Ganser-Syndrom im Spiegel der frühen psychiatrischen Lehrbücher

E. Kraepelin: Psychiatrie – ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, 1909: „... dass die absichtliche Verstellung und krankhafte Entstehung der Störungen ohne scharfe Grenze ineinander übergehen. Das gilt besonders für die von Ganser beschriebenen Dämmerzustände mit Vorbei-Reden, die so häufig bei Untersuchungs-Gefangenen zur Beobachtung kommen.„

Eugen Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, 1916: ... als eine Form von „Verkehrt„-denken und -handeln erklärt. Bleuler sah vor allem die Nähe zum „Faxen-Syndrom„, bei dem „sich das ganze Bild darin erschöpft, demonstrativ auffällige Faxen zu machen und verkehrte Antworten zu geben„ und „als Reaktion auf eine Situation, der man sich (unbewusst) durch Geisteskrankheit entziehen möchte„. Er bezeichnet die hysterischen Dämmerzustände deshalb auch als „Zweckpsychosen„.

Oswald Bumke: Lehrbuch der Geisteskrankheit, 1924: „Zugegeben ist aber dass psychogene Zustände vom Charakter der Pseudodemenz gelegentlich auch bei der Schizophrenie ebenso wie im Anschluss an epileptische Anfälle und im Verlauf organischer Prozesse (Hirntumor, Paralyse, nach Hirnverletzungen) vorkommen, sowie dass umgekehrt Zustände von Pseudodemenz plus Puerilismus (Ganser) von schizophrenen Zustandsbildern nicht immer leicht unterschieden werden können„.

W. Weygandt: Lehrbuch der Nerven- und Geisteskrankheiten, 1935: „Man hat häufig solche Ausnahmezustände als Kunstprodukte erklärt, sowohl seitens der Umgebung als auch seitens des Häftlings. Beides ist richtig und falsch zugleich. Es gibt zweifellos Männer, die ohne alle Missgriffe und Ungeschicklichkeiten der Umgebung in einen Ganser‘schen Zustand geraten. Ist dieser aber einmal da, so kann man ihn natürlich „züchten„ (H.W. Gruhle als Autor dieses Lehrbuch-Kapitels).

Karl Leonhard: Grundlagen der Psychiatrie, 1948: „... dass die Fähigkeit, autosuggestiv seelische und körperliche Erscheinungen zu erzeugen, veranlasst (...), Krankheit vorzutäuschen, die sie vor Unannehmlichkeiten des Lebens schützen sollen, vor anhaltender Arbeit, vor schlechter Behandlung durch den Ehemann, vor Bestrafung wegen eines Vergehens usw. Man spricht hier von einer Flucht in die Krankheit (...). Bei allen Formen hysterischer Reaktion, bei denen eine Einengung des Bewusstseins ohne anfallsartige Begleiterscheinung vorliegt, spricht man von hysterischen Dämmerzuständen. Auch eine Pseudo-Demenz, bei der nicht systematisch falsch geantwortet wird, die vielmehr als eine ratlose Unfähigkeit, häufiger mit Puerilismen, in Erscheinung tritt, beruht meist auf einer Bewusstseinseinengung. Man spricht dann nach dem Autor, der es beschrieben hat, von einem Ganser‘schen Syndrom„.

Weitere Lehrbuch-Autoren, die sich mit diesem Phänomen beschäftigten, wenngleich kürzer gefasst, waren Th. Ziehen: Psychiatrie für Ärzte und Studierende, 1911 sowie Robert Bing: Lehrbuch der Nervenkrankheiten für Studierende und praktische Ärzte, 1921.

Zusammenfassungen zitiert nach H.J. Assion und K. Schmidt, 2004

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt die Zahl der Veröffentlichungen wieder zu, dafür bleibt aber die Anzahl der beschriebenen Patienten unverändert gering. Die meisten Arbeiten sind nach wie vor kasuistische Beschreibungen einzelner Fälle, inzwischen aber schon seit den 40er Jahren vermehrt im angelsächsischen Sprachraum.

Einige Autoren interpretierten noch das Ganser-Syndrom als einen „psychotischen Zustand„, der als Reaktion auf eine intolerable (unerträgliche) Stress-Situation durch subjektiv empfundene Hilflosigkeit gegenüber den äußeren Stressoren auftrete. Andere schlugen vor das Ganser-Syndrom als einen Zwischen-Zustand aufzufassen, der letztlich davon geprägt sei, sich aus der Verantwortung (welcher Ursache auch immer) zu ziehen. Dabei kamen immer wieder hysterische Charaktermerkmale zur Sprache, was verschiedene Wissenschaftler das Ganser-Syndroms zwischen Hysterie und Simulation ansiedeln ließ. In psychodynamischer Hinsicht ging es vor allem um das Phänomen der Regression, also einen Rückgriff auf frühere Alters- und damit Verhaltensmuster bis hin zu kindlichen Entwicklungsstufen. Aber auch die psychotischen Ursprünge (Geisteskrankheiten) wurden wieder diskutiert. Und das, was schon S.J.M. Ganser andeutete: Schädel-Hirn-Unfälle oder andere organische Ursachen, meist Krampfanfälle, Gehirnentzündung, Hirntumoren u.a. (siehe später).

Heute sind es natürlich nicht mehr einzelne (Psychiatrie-)Schulen oder gar Autoren, auch wenn sie Lehrbücher schreiben oder herausgeben, heute dominieren wissenschaftlich und in der Lehre zwei große Institutionen, nämlich die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die hoffentlich eines Tages zu einer einheitlichen Beurteilung und damit Vereinfachung in der dann allein verpflichtenden wissenschaftlichen Klassifikation finden. Wie definieren nun diese beiden Institutionen das Ganser-Syndrom?

  • Die APA mit ihrem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) nahm das Ganser-Syndrom schon 1987 in dieses „Lehrbuch„ auf, zuerst unter „Vorgetäuschten Störungen„, in späteren Ausgaben unter „Nicht näher bezeichneten dissoziativen Störungen„.

    Dissoziativ heißt der bewussten Kontrolle des Betreffenden entzogen. Oder konkreter: Ungenaue Antworten auf Fragen, üblicherweise verbunden mit anderen Symptomen wie Amnesie (Erinnerungslosigkeit), Desorientierung (Orientierungslosigkeit: wie, wann, wo), Wahrnehmungsstörungen, Fugue (zielgerichtete Reisen, aber ohne Erinnerung daran), Konversions-Symptome (z. B. seelisch bedingte Lähmungen, Schmerzlosigkeit, Seh-, Hör- und Geschmacksstörungen u. a.).

    In der neuesten Ausgabe des DSM-IV-TR (2003) wird das Ganser-Syndrom unter die nicht näher bezeichneten dissoziativen Störungen eingeordnet mit dem konkreten Hinweis: annäherungsweise richtige Antworten auf Fragen (z. B. 2 + 2 = 5), wenn dies nicht mit einer dissoziativen Amnesie (Erinnerungslosigkeit) oder dissoziativen Fugue (Reisen ohne Erinnerung daran) verbunden ist.

    Hier gibt es allerdings noch Diskussions-Bedarf, wobei man auf die nächste Auflage und damit Interpretation durch entsprechende Experten im US-amerikanischen Bereich gespannt sein darf.
  • Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert das Ganser-Syndrom in ihrer Internationalen Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10 seit 1992 als eigenständige Erkrankung und fasst sie unter die „sonstigen dissoziativen Störungen„ („Konversions-Störungen„) zusammen. Auch hier geht es um eine „komplexe Störung„, die durch „Vorbei-Antworten„ gekennzeichnet ist, gewöhnlich begleitet von mehreren anderen dissoziativen Symptomen. Gemäß dieser aktueller Kriterien (kennzeichnende Merkmale) ist bei der Diagnose eines Ganser-Syndroms explizit das Vorliegen begleitender dissoziativer Symptome möglich. Klar abgegrenzt wird es von den „artifiziellen Störungen„, dem absichtlichen Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen, aber auch von einer „Simulation„. Weitere Einzelheiten dazu siehe Kasten.

Simulation – Aggravation – vorgetäuschte Störung

In diesem Zusammenhang wird sich immer wieder die Frage aufdrängen: Wie unterscheidet man ein Ganser-Syndrom von einer Simulation, einer Aggravation oder vorgetäuschten Störung (selbst-manipulierten Krankheit)? Das ist ggf. nicht einfach. Nachfolgend deshalb einige Definitionen, bei denen im übrigen deutlich wird, dass mit fließenden Grenzen und entsprechenden schwierigen Festlegungen zu rechnen ist. Im Einzelnen:

- Bei einer Simulation handelt es sich um eine bewusste und willentliche Vortäuschung von Krankheitszeichen, also Verstellung, Heuchelei oder Betrug. Es werden willentlich Symptome mit der bewussten Absicht hervorgerufen, die Umgebung zu beeinflussen, um einen erkennbaren Vorteil zu erlangen. Der Simulant weiß genau, was und wie er will. Dies betreibt er mit Gerissenheit, im Laufe der Zeit auch mit Erfahrung und Routine und unterstützt durch eine gewisse charakterliche „Schlitzohrigkeit„.

(Eine nette Ergänzung nebenbei: der nicht-fachliche Begriff „Schlitzohrigkeit„ kann auch wissenschaftlich übersetzt werden bzw. ist es schon, nämlich von dem Schriftsteller Gregor von Rezzori in seinen „Maghrebinischen Geschichten„ (Rowohlt, 1967), und zwar mit der köstlichen Verballhornung „Schlitzohr„ = Schizaudite, vom griechischen: schizein = spalten und dem lateinischen: auris = Ohr, auditum = Gerücht, Hörensagen.)

Doch sein Täuschungsmanöver geht auf keine seelische Krankheit zurück, wie das bei der vorgetäuschten Störung der Fall ist (siehe unten). Er ist - wenn man es einmal drastisch ausdrücken will –, ein seelisch gesunder Betrüger, der um seines Vorteiles Willen gezielt manipuliert (finanziell, zwischenmenschlich, Strafverfolgung u. a.).

- Bei der Aggravation handelt es sich um eine bewusste und willentliche Übertreibung von (z. B. subjektiv empfundenen) Symptomen bzw. Krankheitszuständen.

- Menschen mit einer „vorgetäuschten Störung„, auch als „selbst-manipulierte Krankheit„ bezeichnet, unterliegen zwar ebenfalls einer willentlichen Kontrolle. Doch diese hat gleichsam zwanghaften Charakter. Der „Patient„ kann ihr nicht entrinnen. Die Betroffenen verfolgen Ziele, denen sie „unfreiwillig„ unterworfen sind, die ihnen letztlich nicht bewusst sind.

Oder kurz: Der seelisch meist gesunde Simulant macht sich eines Vergehens schuldig, während sich bei vorgetäuschten Störungen ein Mensch auf Grund seines krankhaften Seelenlebens in einer Patientenrolle verfangen sieht, die er sich selber nicht erklären kann.

Was weiß man konkret über Menschen, die ein Ganser-Syndrom haben sollen?

Dass es Menschen gibt, die ein so schwer fassbares Krankheitsbild wie das Ganser-Syndrom haben sollen, ist eigentlich kein Thema – wie man es auch immer definiert, klassifiziert und interpretiert. Deshalb fanden es die oben erwähnten Autoren H.-J. Assion und K. Schmitt anhand eines ähnlich gelagerten Falles in ihrer Klinik auch so spannend, einmal die gesamte Literatur zu sichten, die es seit über 100 Jahren zu diesem Thema gibt. Nachfolgend eine komprimierte Übersicht:

Bis zum Jahr 1942 kamen die wissenschaftlichen Veröffentlichungen überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum. Danach vermehrt aus den angelsächsischen Ländern. Verfügbar sind etwa 500 Literaturstellen. Davon schienen den Autoren etwa ein halbes Hundert sinnvoll auswertbar, weil sie eine oder mehrere Falldarstellungen enthielten (und damit nachprüfbar ein Ganser-Syndrom oder nicht).

Somit lassen sich seit der Erstbeschreibung im Jahr 1897 insgesamt 140 Patienten epidemiologisch (wer, was, wo, wie) auswerten. Diese sind beschrieben in 14 verschiedenen Nationen, die über praktisch alle Kontinente verteilt sind. Die überwiegende Zahl der Betroffenen ist europäischer oder nordamerikanischer Herkunft.

  • Das durchschnittliche Alter beträgt 33,2 Jahre. Der jüngste Patient war 8, der älteste 76 Jahre. Mit zunehmendem Alter wird das Ganser-Syndrom immer seltener.
  • Geschlechtsspezifisch überwiegt das männliche Geschlecht deutlich im Verhältnis 3,1:1.
  • Zu Zivilstand und anderen sozialen Aspekten gibt es praktisch keine informativen Hinweise.
  • Was die Herkunftsschicht anbelangt, so stammt - sofern verwertbar - die überwiegende Zahl aus der Grundschicht, etwa halb so viel aus der Mittelschicht und nur ganz wenige aus der Oberschicht.
  • Interessant der Hinweis, dass nur die Hälfte der insgesamt 140 Patienten mit einem Ganser-Syndrom forensisch (psychiatrisch-juristisch) auffällig geworden sind. Und was ganz wichtig ist: nur bei 5 % fand sich ein Tötungsdelikt.

Welches sind nun die wichtigsten geistigen, seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen, die auf ein Ganser-Syndrom hinweisen können?

  • Die häufigsten kognitiven (geistigen) Beeinträchtigungen waren offensichtlich Störungen der Merkfähigkeit und amnestische Symptome (Erinnerungslosigkeit). Es gab aber auch Hinweise auf wahnhafte Krankheitszeichen (Verfolgungsideen, Verfolgungswahn, Vergiftungs- sowie Größenwahn, religiöser und Liebeswahn). Und auf dissoziative Symptome (früher als psychogen oder psychosomatisch bezeichnet), also seelisch (und nicht organisch) bedingte Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen, Kopfschmerzen u. a.
  • In körperlicher Hinsicht fanden sich vor allem internistische und neurologische Befunde (zu Letzteren beispielsweise Gesichtsfeldeinschränkungen, krankhafte Eigenreflexe, Störungen der Geschmacks- bzw. Geruchsempfindung u. a.).

Körperliche Ursachen, die zumindest ursächlich diskutiert werden sollten, waren vor allem Schädel-Hirn-Unfälle, Krampfanfälle unklarer Ursachen (organisch oder seelisch bedingt?), konkrete neurologische Leiden (z. B. Chorea minor, Neurolues, Syringomyelie, Hirntumor, Enzephalomalazie, vorzeitige Hirnatrophie, Hirnverletzungen u. a.). In internistischer (und orthopädischer) Hinsicht vor allem Magen-Darm-Beschwerden, Rheumatismus, Bluthochdruck, Herzschlagveränderungen usw. Einzelheiten zu diesen Krankheiten siehe Fachliteratur.

Das Ganser-Syndrom – was ist es nun schließlich?

Das Ganser-Syndrom, so spannend für den Fachmann und so verwirrend für den Laien es auch ausfallen mag, was ist es nun eigentlich? Die Antwort umgeht auch heute noch eine klare Stellungnahme bzw. Aussage.

Dass es so etwas gibt, beweisen die vielen Beschreibungen in der Fachliteratur, die über 100 halbwegs verwertbaren Falldarstellungen, das Interesse weltweit und ein Begriff, der sich über 100 Jahre hält (was auch für medizinische Fachbegriffe nicht die Regel ist).

Klar bleibt: Dieses eigenartige Phänomen ist krankhafter Natur und selten. Es kann verschiedene diagnostische Bereiche einschließen und macht dann natürlich auch entsprechende Schwierigkeiten, wenn man eine eindeutige Aussage treffen will. Es gibt keine klaren Ursachen (seelisch, psychosozial, körperlich), es wurde schon alles Mögliche als Ursache diskutiert. Und natürlich die Möglichkeit der Simulation, Aggravation und vorgetäuschten Störung. Selbst das seit über 100 Jahren als Kernsymptom anerkannte „Vorbei-Reden„ bringt auch nicht immer weiter. Das beweisen viele Fallbeispiele, wenn man sie einmal gründlich nachstudiert hat.

Was ist also das Ganser-Syndrom? Ein ungeklärtes, aber interessantes Verhaltens-Phänomen. Psychodynamisch wird es heute am ehesten als eine „dicht unter der Bewusstseinsschwelle ablaufende Wunsch- und Zweckreaktion„ gedeutet. Ob es auch auf rein hysterischer Grundlage vorkommen kann, bleibt umstritten (siehe auch das entsprechende Kapitel über Hysterie). Und was die Ursachen anbelangt, insbesondere mit Folge auf das Zentrale Nervensystem und damit Seelenleben (z. B. Schädel-Hirn-Verletzungen, epileptische Anfälle, Hirntumoren u. a.), so ist auch dies schwer zuzuordnen (was aber durch die heutigen technischen Möglichkeiten vielleicht eines Tages ergiebiger wird – sofern man diese Patienten, selten wie sie sind – auch entsprechend untersuchen kann).

Das Urteil der beiden Experten Privatdozent Dr. H.-J. Assion und Dr. K. Schmidt jedenfalls lautet: Eine psychische Störung an der diagnostischen Grenze, dessen besondere Ausprägung eine klassifikatorische Eigenständigkeit nicht rechtfertigt.

Mit anderen Worten: Es gibt diese psychische Störung, aber man kann sie diagnostisch nicht sicher zuordnen. Wahrscheinlich ist es kein eigenständiges Krankheitsbild.

Im Alltag aber dürfte es so weitergehen wie bisher. Dort bezeichnet man besonders jene Simulationsversuche als Ganser-Syndrom („Gansern„), die sich durch besonders groteske Fehlhandlungen auszeichnen. Das hat sich zwar eingebürgert, ist aber – wie der Leser inzwischen weiß – offenbar nicht zutreffend.

Therapie

Die Behandlung – sofern nötig, möglich oder überhaupt erwünscht – ist schwierig. Was soll man auch tun, und vor allem wie? Psychagogisch (eine Mischung aus Psychotherapie und Pädagogik), psychotherapeutisch, medikamentös, und wenn ja: Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquilizer – oder?

Am ehesten wohl symptomatisch bzw. auf deutsch: Diejenigen Phänomene mildern, die sich als besonders auffällig, störend, belastend oder juristisch folgenschwer entwickeln könnten. Das dürfte sich vor allem auf mögliche (hirn-)organische Ursachen konzentrieren.

In seelischer bzw. psychosozialer Hinsicht hingegen ergibt sich beim Ganser-Syndrom vor allem eine Empfehlung: beobachtend und abwarten. Denn – wie die Fachliteratur aus über 100 Jahren nahe legt –, vieles regelt sich in dieser Hinsicht mit der Zeit von selber ein. Und das dürfte auch in Zukunft so bleiben.

Was man allerdings vermeiden sollte, ist eine Abwertung, Diskriminierung oder gar Stigmatisierung dieser Menschen. Bei jenen, die man – ob wissenschaftlich fundiert oder nicht – als wirkliches Ganser-Syndrom diagnostiziert hat, wurde eigentlich stets eines klar: Sie waren in Not, wie auch immer.

Literatur

Meist wissenschaftliche Publikationen, kaum allgemein verständliche Hinweise. Nachfolgend einige – auch historisch interessante – Lehr- und Fachbuch-Hinweise sowie wissenschaftliche Publikationen aus der Literatur-Recherche der Grundlage dieses Beitrages:

Assion, H.-J., K. Schmidt: Psychische Störung oder Schlitzohrigkeit? Zur Klassifikation des Ganser-Syndroms. Aus: B. Vollmoeller (Hrsg.): Grenzwertige psychische Störungen. Diagnostik und Therapie in Schwellenbereichen. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2004

Weitere deutschsprachige Literaturhinweise:

Assion, H.-J.: 100 Jahre Ganser-Syndrom – ein Rück- und Ausblick. In: G. Nissen, F. Badura (Hrsg.): Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde. Bd. 7. Verlag Königshausen u. Neumann, Würzburg 2001

Bing, R.: Hysterische Anfälle. In: R. Bing (Hrsg.): Lehrbuch der Nervenkrankheiten für Studierende und praktische Ärzte in 30 Vorlesungen. Verlag Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1921

Bleuler, E.: Die Hysterie. In: E. Bleuler (Hrsg.): Lehrbuch der Psychiatrie. Springer-Verlag, Berlin 1916

Bumke, O.: Ganser‘sches Syndrom. Pseudodemenz. In: O. Bumke (Hrsg.): Lehrbuch der Geisteskrankheiten. Verlag J.F. Bergmann, München 1924

Flügel, F.: Rezidivierende hysteriforme Psychose (Ganser-Syndrom) bei Syringomyelie mit Hydrocephalus. Psychiat. Neurol. 153 (1967) 319

Forster, J.: Über hysterische Dämmerzustände und das Vorbeireden. Psychiat. Neurol. 15 (1904) 161

Ganser, S. J. M.: Über einen eigenartigen hysterischen Dämmerzustand. Arch. Psychiat. Nervenkr. 30 (1898) 633

Ganser, S. J. M.: Zur Lehre vom hysterischen Dämmerzustand. Arch. Psychiatr. Nervenkr. 38 (1904) 34

Gruhle, H. W.: Abnorme Reaktionen, Hysterie, Neurosen, Unfallneurose. In: W. Weygandt (Hrsg.): Lehrbuch der Nerven- und Geisteskrankheiten. Verlag Carl Marhold, Halle 1935

Henneberg, R.: Über Ganser‘sches Symptom. Allg. Z. Psychiat. 61 (1904) 621

Hey, J.: Das Ganser‘sche Symptom. Springer-Verlag, Berlin 1904

Higier, H.: Über einen eigenartigen, im posthypnotischen Stadium zu beobachtenden Dämmerzustand. Neurol. Zentralbl. 18 (1899) 831

Hoffmann, H., E. Siegel: Über das Ganser-Syndrom. Psychiatr. Neurol. Med. Psychol. 34 (1982) 276

Kraepelin, E.: Verstellung und Verleugnung. In: E. Kraepelin (Hrsg.): Psychiatrie – Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Johann Ambrosius Barth-Verlag, Leipzig 1909

Lange, E.: Neurologie – Psychiatrie in Dresden. Psychiat. Neurol. Med. Psychol. 39 (1987) 55

Leonhard, K.: Hysterische Psychopathie. In: K. Leonhard (Hrsg.): Grundlagen der Psychiatrie. Ferdinand Enke-Verlag, Stuttgart 1948

Lücke, E.: Über das Ganser‘sche Symptom mit Berücksichtigung seiner forensischen Bedeutung. Allg. Z. Psychiat. 60 (1903) 1

Marneros, A.: Das Vorbeireden. Fortschr. Neurol. Psychiat. 47 (1979) 479

Moeli, C.: Über irre Verbrecher. Springer-Verlag, Berlin 1988

Nissl, F.: Hysterische Symptome bei einfachen Seelenstörungen. Centralbl. Nervenheilk. Psych. 144 (1902) 2

Raecke, J.: Beitrag zur Kenntnis des hysterischen Dämmerzustandes. Allg. Z. Psychiat. 58 (1901) 115

Raecke, J.: Einiges zur Hysteriefrage. Neurol. Zentralbl.7 (1902) 67

Schneider, R., G. Klosinski: Wanderer zwischen fünf Welten. Ein Jugendlicher mit Ganser-Syndrom. Acta Paedopsychiatrica. 52 (1989) 150

Westphal, A.: Über hysterische Dämmerzustände und das Symptom des „Vorbeiredens„. Neurol. Zbl. 22 (1903) 7

Ziehen, Th.: Hysterische Dämmerzustände. In: Th. Ziehen (Hrsg.): Psychiatrie für Ärzte und Studierende. S. Hirzel-Verlag, Leipzig 1911

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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