Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
FRAU UND SEELISCHE STÖRUNG (6)Scheinschwangerschaft Pseudogravidität - Graviditas imaginata - Graviditas nervosa - "Wunschneurose mit schwangerschaftsähnlichen Symptomen" - u.a.
Die modernen diagnostischen Methoden unserer Zeit wie beispielsweise der Ultraschall haben eine seelische Störung zurückgehen lassen, die früher für einiges Aufsehen sorgte: die Scheinschwangerschaft. Sie gilt aber nach wie vor als eine der eindrucksvollsten Beispiele für die Auswirkung psychischer Beeinträchtigungen auf den Organismus (z.B. ein bisher vergeblicher Kinderwunsch), in diesem Fall durch eine hormonelle Funktionsstörung. Um was handelt es sich dabei und vor allem: was kann man tun? Die Scheinschwangerschaft (Fachbegriffe: Pseudogravidität, Graviditas imaginata, Graviditas nervosa, früher etwas verständlicher auch als "Wunschneurose mit schwangerschaftsähnlichen Symptomen" bezeichnet) ist ein altes Phänomen und wird auch bei Tieren beobachtet (z. B. Rinder, Nagetiere, häufig auch bei Hunden). Die Definition lautet: Eine Scheinschwangerschaft liegt dann vor, wenn eine Frau glaubt, schwanger zu sein und auch Symptome und Zeichen einer Schwangerschaft entwickelt (z. B. Ausbleiben der Monatsblutung und Zunahme des Körperumfangs). Entscheidend ist vor allem die Funktionstüchtigkeit des sogenannten Corpus luteum (auch "Gelbkörper" genannt, entsteht im Eierstock nach dem Eisprung, Bildungsort von Sexualhormonen wie Östrogene und Progesteron). Dadurch lassen sich die Veränderungen der Brust, die Vergrößerung der Gebärmutter und die Sekretabsonderung des Endometriums (Gebärmutterschleimhaut) erklären. Interessanterweise braucht es aber offenbar nicht in jedem Fall die Funktionstüchtigkeit des Corpus luteum, was die Scheinschwangerschaft auch wissenschaftlich noch spektakulärer macht. Wie äußert sich eine Scheinschwangerschaft? Eine Scheinschwangerschaft ist beispielsweise durch folgende seelische, psychosoziale und körperliche Veränderungen gekennzeichnet: - Den starken Glauben, schwanger zu sein. Das kann sich bis zu Schein-Wehen nach neun Monaten steigern, um danach normalerweise wieder abzuklingen. - Die illusionäre Verkennung (verfälschte oder Fehlwahrnehmung), Kindsbewegungen zu verspüren. - Eine Amenorrhoe (das Ausbleiben der Menstruation, der Monatsblutung). - Übelkeit am Morgen und jene absonderlichen Appetitwünsche, die bei vielen Schwangeren beobachtet werden können. - Vergrößerte Brüste und Brustwarzen mit Einschießen von Kolostrum (das bereits während der Schwangerschaft von den weiblichen Brustdrüsen produzierte Sekret, das nach der Entbindung von der Muttermilch abgelöst wird). - Eine Vergrößerung des Leibes, allerdings ohne dass dabei - wie dabei der Fachausdruck heißt - der Nabel verstreicht, also gleichsam die Nabelvertiefung verschwindet, wie das bei der echten Schwangerschaft der Fall ist. Diese Bauchvergrößerung ist möglich durch das Auftreiben des Bauches durch Blähungen, durch Fetteinlagerung, aber auch durch krankhafte Veränderungen, nämlich durch Aszites (Ansammlung von Flüssigkeit in der freien Bauhöhle: Bauchwassersucht) oder durch Fibrome (gutartige Geschwülste aus gefäßreichem Bindegewebe). - Eine reale Größenzunahme des Uterus (der Gebärmutter) wie bei einer Schwangerschaft in der 6. Woche (was tatsächlich in Einzelfällen nachweisbar ist, wenngleich eigentlich unerklärlich). Was kann mit einer Scheinschwangerschaft verwechselt werden? Nicht jede Scheinschwangerschaft ist eine Scheinschwangerschaft. Schon früher galt es zumindest zwei Phänomene abzugrenzen, die mitunter auf die falsche Fährte führten, nämlich ein Schwangerschaftswahn sowie die simulierte Schwangerschaft.
Ein Wahn ist die krankhaft entstandene Fehlbeurteilung der Realität. An dieser Fehlbeurteilung wird mit hoher Gewissheit und unkorrigierbar festgehalten, selbst wenn sie im Widerspruch zur objektiven Wirklichkeit, zur eigenen Lebenserfahrung und zum Urteil gesunder Mitmenschen steht. Doch der Wahnkranke will seine wahnhafte Überzeugung gar nicht korrigieren. Für ihn ist sie meist unerschütterlich und unanfechtbar. In seinem übrigen Denken vermag er jedoch folgerichtig zu urteilen. Einzelheiten zu diesem komplexen Phänomen siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie. Ein Schwangerschaftswahn ist durchaus nicht selten, auch heute noch, vielleicht sogar häufiger als eine Scheinschwangerschaft. Er tritt bei den unterschiedlichsten Psychosen (Geisteskrankheiten) auf, meist bei einer schizophrenen Psychose (siehe diese). Meist finden sich keine körperlichen Zeichen einer Schwangerschaft, wie sie bei einer richtigen Schwangerschaft sowie Scheinschwangerschaft festgestellt werden können. Oft leiden die Betroffenen auch an Halluzinationen, also Sinnestäuschungen oder Trugwahrnehmungen. Interessanterweise kann ein Schwangerschaftswahn auch bei psychotischen Männern auftreten, und zwar mit und ohne körperliche Zeichen einer (Schein-) Schwangerschaft.
Simulierte Schwangerschaften scheinen weniger zu werden, da die modernen diagnostischen Methoden eine rasche Klärung ermöglichen und jedermann rasch Verdacht schöpfen müsste, wenn solche Untersuchungen aus den erwähnten Gründen abgelehnt werden. Psychologische Hintergründe einer Scheinschwangerschaft Die psychologischen Hintergründe einer "echten Scheinschwangerschaft" (also kein Schwangerschaftswahn und keine simulierte Schwangerschaft) sind in der Regel nachvollziehbar: ein starker, ja extremer, alles andere überlagernder Kinderwunsch, was sich besonders bei älteren Frauen zu finden scheint. Bisweilen wird auch an eine schuldhaft verarbeitete Angst vor einer Schwangerschaft gedacht. In einigen Fällen soll es sogar zu gefährlichen Abtreibungsversuchen einer Scheinschwangerschaft gekommen sein. Weitere Einzelheiten siehe die entsprechende Fachliteratur. Was kann man tun? Beim Schwangerschaftswahn wird man um antipsychotisch wirkende Psychopharmaka (Neuroleptika) nicht herumkommen. Bei der simulierten Schwangerschaft muss man zu klären versuchen, was die offensichtlichen (und nicht psychologisch interpretierbaren) Motive sind. Bei der "echten Scheinschwangerschaft" müssen die betroffenen Frauen psychotherapeutisch behandelt werden. Es gilt herauszufinden, was sich hinter diesem Wunsch verbirgt, der bis in die hormonellen Strukturen dieses Organismus einzugreifen vermochte. Die Diagnose (die aber keine Diagnose, sondern eine bequeme bis leichtfertige Abfertigung ist): "Das ist eineScheinschwangerschaft, das vergeht wieder, das ist halt psychisch" reicht natürlich nicht aus, auch wenn sie häufiger sein dürfte als zugegeben. Eine derart im Grunde respektlos behandelte und letztlich allein gelassene Patientin wird sich nicht gut betreut finden und - mit Recht - den Arzt wechseln. Dieser mag ja mit seiner vorläufigen Überlegung ("hysterisch") nicht ganz falsch liegen, aber eine Hilfe ist das nicht. Für die Betroffene bleibt das zugrunde liegende psychische Leiden unverändert, besonders, wenn es nicht adäquat betreut wird. Und sollte es in diesem Falle abklingen, sind Rückfälle zu einem späteren Zeitpunkt nicht auszuschließen. Deshalb ist die Überweisung an einen entsprechend erfahrenen Psychiater, Nervenarzt oder Psychologen letztlich unaufschiebbar. Sollte eine solche Patientin aber den entsprechenden Vorschlag von Hausarzt oder Gynäkologen ablehnen, dürfte auch ein verständnisvolles Gespräch keinen Schaden anrichten. Auf jeden Fall gilt es die zugrundeliegenden Konflikte anzusprechen und mehr oder weniger gezielt zu bearbeiten. Nur so kann man über die medizinische Diagnose (Scheinschwangerschaft) hinaus helfen, und zwar konsequent und behutsam zugleich. Sollte sich in diesem Zusammenhang neben der vermutlich neurotischen Grundstruktur ein zusätzliches depressives Beschwerdebild erkennen lassen oder entwickeln, würde sich eine Behandlung mit stimmungsaufhellenden Psychopharmaka (Antidepressiva) empfehlen. Dies sollte dann aber im Rahmen eines sogenannten Gesamt-Behandlungsplanes geschehen, der sowohl Psychotherapie, soziotherapeutische Hilfen im Alltag als auch eine gezielte Pharmakotherapie umfasst, kontrolliert durch einen Nervenarzt oder Psychiater. Schlussfolgerung Scheinschwangerschaften scheinen eher selten (geworden) zu sein. Das mag zum einen an der "Aufgeklärtheit unserer Zeit und Gesellschaft", zum anderen an den modernen Untersuchungsmethoden liegen, die heute ein solches Phänomen sehr rasch als psychogen (rein seelisch ausgelöst und unterhalten) erkennen. Völlig auszuschließen ist eine Scheinschwangerschaft aber auch in Zukunft nicht. Dabei ist und bleibt der wichtigste Aspekt nicht die rasche Diagnose (die rein untersuchungstechnisch heute kein Problem mehr ist), sondern die einfühlsame psychologische Untersuchung und psychotherapeutische Betreuung einer Frau, die offenbar so in Not geraten ist, dass sich dadurch sogar hormonelle Änderungen ("Störungen") einstellen, die ansonsten festen physiologischen Regeln unterworfen sind. LITERATUR Vor allem früher interessantes Phänomen aus den Grenzgebieten von Gynäkologie/Geburtshilfe und Psychiatrie mit entsprechender Fachliteratur. Heute kein Thema mehr von besonderer Bedeutung. Grundlage vorliegender Ausführungen ist: F. Brocktington, M. Lanczik: Psychiatrische Erkrankungen bei Frauen: Scheinschwangerschaft. In: H. Helmchen u. Mitarb. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart 3: Psychiatrie spezieller Lebenssituation. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2000 |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |