Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
VERMEINTLICHE KÖRPERENTSTELLUNGKörperdysmorphe Störung - Dysmorphophobie - Entstellungssyndrom - exzessive Beschäftigung mit einer vermuteten körperlichen Entstellung - Hypochondrie
Wer hätte nicht noch Wünsche offen bezüglich Größe, Gewicht, Figur, von Einzelheiten wie Haare, Augen, Nase, Mund, Hals, Hände usw. ganz abgesehen. Die meisten Menschen sind nicht unrealistisch. Schöner müsste nicht unbedingt sein, Schönheit ist vergänglich. Aber dieser oder jener kleine körperliche Mangel, auf den würde man schon gerne verzichten - oder ihn korrigieren lassen, sofern möglich. Doch auch dazu sind die meisten nicht bereit, aus gutem Grund. Man hat sich arrangiert, seinen Frieden mit sich geschlossen. Und irgendwie gehören ja seelischen und körperliche Mängel auch zur jeweiligen Persönlichkeit und werden zum Charakteristikum, zum unverwechselbaren Merkmal und haben damit eine durchaus positive Funktion. Doch nicht jeder kann sich damit abfinden. Und es scheint so, als ob die Zahl jener wächst, die sich geradezu exzessiv bis zwanghaft mit ihrer angeblich "unerträglichen körperlichen Entstellung" beschäftigen müssen. Wenn dieser übermäßige bis zwanghafte Drang, sich "unausstehlich" zu finden, das Leben prägt, und zwar negativ, dann nannte man das früher ein "Entstellungssyndrom" oder eine Dysmorphophobie und heute eine Körperdysmorphe Störung (aus dem griechischen: dys = un-, miss- und morphe = Gestalt, äußere Erscheinung sowie phobios = Furcht, Angst, Scheu). Frühere und heutige Definitionen und Klassifikationen Die körperdysmorphe Störung war lange wissenschaftlich umstritten und tritt eigentlich erst in den letzten Jahren wieder vermehrt in die Diskussion, vor allem durch die Angebote, Möglichkeiten und Grenzen der plastischen und kosmetischen Chirurgie. Als seelische Störung mit erheblichen psychosozialen Folgen ist sie jedoch schon seit über 100 Jahren bekannt (1886): "Subjektives Gefühl der Hässlichkeit oder der körperlichen Missgestaltung trotz normalen Aussehens, wobei der Patient glaubt, von anderen in gleicher Weise wahrgenommen zu werden". Weil die Betroffenen die Psychiater, also jene Fachärzte meiden, die ggf. die zutreffende Diagnose stellen könnten (in den Augen dieser Patienten sie aber nur "psychiatrisieren" wollen), gilt dieses Leiden als seltenes Krankheitsbild. In Wirklichkeit konzentrieren sich diese Patienten bei Dermatologen, HNO- und Zahnärzten, Kieferchirurgen, vor allem aber in der plastischen Chirurgie. Dort werden sie auch organisch und vor allem technisch gut versorgt, leider aber nur selten als seelisch gestört erkannt und psychotherapeutisch behandelt - und das Leiden und vor allem der eingeleitete Teufelskreis gehen weiter. Heute wird die Dysmorphophobie oder körperdysmorphe Störung wie folgt definiert: Exzessive Beschäftigung mit einem vermuteten Mangel oder einer Entstellung im körperlichen Aussehen. Dieser Mangel ist entweder eingebildet oder - wenn tatsächlich eine leichte körperliche Anomalie vorliegt - ist die Sorge der betroffenen Person deutlich übertrieben. Vor allem führt diese krankhafte Einstellung zu nachhaltigen sozialen, beruflichen und sonstigen Beeinträchtigungen. Die Amerikanischen Psychiatrische Vereinigung (APA) führt die Körperdysmorphe Störung in ihrem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) unter der Hauptgruppe der somatoformen Störungen als eigenständiges Leiden auf. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt sie in ihrer Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) zusammen mit der Hypochondrie ab (Einzelheiten siehe das spezielle Kapitel über die Hypochondrie und die Kurzfassung im Kasten).
Häufigkeit - Alter - Geschlecht Über die Häufigkeit gibt es keine exakten Untersuchungen und damit Angaben. Eines ist aber offenbar klar: Dieses Leiden trifft mehr Menschen, als allgemein bekannt und registriert. Da es sich auf verschiedene medizinische Disziplinen verteilt (siehe oben) und dort nicht immer als psychische Störung erkannt wird, gibt es keine verlässlichen Daten. Die Zahlen werden aber eher noch steigen als zurückgehen. Auch zur Geschlechtsverteilung gibt es unterschiedliche Angaben: Die einen sprechen von einer Gleichverteilung betroffener Männer und Frauen, die anderen von einem - zumindest leichten - Überwiegen des weiblichen Geschlechts. Vom Alter her finden sich eher jüngere Jahrgänge, nicht selten schon bei Jugendlichen, die sich ohnehin oft mit ihrem Körper (unzufrieden) beschäftigen. Der Beginn liegt also üblicherweise im frühen Erwachsenenalter, doch wird das Leiden häufig erst nach mehreren Jahren diagnostiziert (wenn überhaupt), weil viele Betroffene ihr Beschwerdebild nur zögerlich zugeben und noch seltener gezielt behandeln lassen. Wie äußert sich eine körperdysmorphe Störung? Die Betroffenen erleben sich als hässlich, abstoßend, lächerlich, obgleich sie meist unauffällig aussehen. Oder sie empfinden leichte körperliche (eigentlich markante) Veränderungen als Anomalität. Davon sind sie schier unbeirrbar überzeugt. Die Vorstellung der Hässlichkeit bezieht sich auf alle möglichen Aspekte, vor allem aber das Gesicht: Nase, Mund, Wangen, Kinn, Lippen (Form und Größe), Zunge, Zähne (Stellung, Form und Farbe), Kiefer und Ohren (Größe, Symmetrie, Form), ferner Haare, insbesondere Gesichtsbehaarung und Bartwuchs. Im weiteren Körperbereich Größe und Gewicht, Hände und Beine, Genitalien, Gesäß, Bauch, Schultern, Hüften u.a. Oder auf der sogenannten vegetativen Ebene Schweiß- und Errötungsneigung, Fettpolsterverteilung usw. Die exzessive Beschäftigung kann entweder einen oder mehrere Körperteile gleichzeitig oder hintereinander betreffen. Obgleich die "Beschwerden" häufig sehr speziell sind (z.B. Augen, Lippen, Nase, Ohren), können sie auch sehr vage oder zumindest unscharf vorgebracht werden ("komisches" oder "abfallendes" Gesicht bzw. "unpassende" Augenstellung).
Manchem Betroffenen sind die scheinbaren Entstellungssorgen auch peinlich. Deshalb vermeiden sie detaillierte Beschreibungen und beziehen sich statt dessen hartnäckig auf ihre "allgemeine Hässlichkeit". Was fällt im Verhalten sonst noch auf? Rein lehrbuchmäßig finden sich im Verlaufe einer solchen Erkrankung noch folgende Beeinträchtigungen (mit unterschiedlichem Schwerpunkt): übertriebene Selbstbeobachtung, übersteigerte Normvorstellungen sowie idealisierte Schönheitsbegriffe (was modisch ist oder wie "man"/"frau" auszusehen hat). Ferner die Neigung zu ängstlich-depressiven Verstimmungen, zu introvertiertem (in sich gekehrtem) Verhalten, zu zunehmenden Miss-Stimmungen, zu Reizbarkeit oder gar Aggressivität (gegen andere, aber auch sich selber und damit Selbsttötungsgefahr). Schließlich auch eine krankhafte zwischenmenschliche Scheu und damit Beziehungsstörungen, Rückzug und Isolationsgefahr. In psychosozialer Hinsicht leidet vor allem der Kontakt zur Umwelt (sich zeigen und gesehen werden) durch Beschämungsängste und Minderwertigkeitsgefühle (Teufelskreis): Die Betroffenen fühlen sich von der Umgebung stark beachtet, glauben, allein durch ihre Hässlichkeit aufdringlich und unzumutbar zu sein oder ihre Umgebung gar damit zu belästigen. Eine Lösung sehen sie nur in entsprechenden körperlichen Eingriffen. So stellen sie sich, wenn es sich beispielsweise um Hautveränderungen handelt, erst einer Kosmetikerin, dann einem Hautarzt und schließlich einem Schönheitschirurgen mit dem Wunsch nach radikaler kosmetischer Behandlung vor. Einzelheiten siehe unten.
Wenn man sich diese Belastungen einmal konkret schildern lässt, dann häufen sich folgende Charakteristika: Die meisten Opfer einer körperdysmorphen Störung leiden erheblich unter ihrer vermeintlichen Deformierung, auch wenn sie ggf. nicht darüber sprechen. Die Art, wie ihr Leid (ein Leiden an sich liegt ja nicht vor) vorgebracht wird, variiert zwischen der etwas beschönigenden "Besorgnis" um diese scheinbaren Körperdefizite bis zu heftigen Klagen über "äußerst schmerzlich", "quälend" oder gar "vernichtend". Wie bei anderen zwanghaften seelischen Störungen auch wird es immer schwerer und am Schluss unmöglich, diese Befürchtungen zu kontrollieren oder gar abzustellen. Am Schluss versuchen die Betroffenen auch gar nicht mehr ihnen zu widerstehen. Die Folgen sind stunden- bis tagelange Grübeleien über diese "Entstellung", bis dieses Gedankenkreisen den Alltag zu bestimmen beginnt. Dazu überprüfen sich manche ständig im Spiegel oder in anderem gerade verfügbaren reflektierenden Oberflächen (z.B. Schaufenster, Autolack, Uhrengläser). Das kann Stunden in Anspruch nehmen, auch wenn es mitunter geschickt kaschiert wird. Einige verwenden sogar bestimmte Beleuchtungstechniken oder Vergrößerungsgläser, um ihre "Entstellung" genauer zu prüfen. Andere wiederum vermeiden alles, was spiegelt und damit mit dem "unerträglichen Aussehen" konfrontiert. Manche verdecken sogar alle Spiegel oder entfernen sie aus ihrer Umgebung. Wieder andere werden hin- und hergerissen zwischen einem intensiven bis zwanghaften Überprüfen und einem genauso zwanghaften Vermeiden. Manche Patienten "examinieren" nicht nur ständig ihr Äußeres, sondern pflegen sich in geradezu extremer Weise, z.B. exzessives Haarekämmen, Haarentfernen, ritualisiertes Auftragen von Make-up oder dauerndes Zupfen, Drücken und Massieren der Haut usw. Das alles soll die Angst reduzieren, führt jedoch nur durch eine Art Teufelskreis in eine noch intensivere Beschäftigung mit sich und seinem "Mangel" - und damit in eine sich ständig aufschaukelnde Resignation, Deprimiertheit, Verzweiflung, Furcht oder gar Panikbereitschaft. Manche Opfer wenden sich hilfesuchend bis verzweifelt an ihr näheres Umfeld, bitten um entsprechende Beurteilungen und Kommentare, am liebsten natürlich beruhigende Rückversicherungen bezüglich ihrer "Entstellung". Dabei muss der Kreis der Eingeweihten ständig erweitert werden, denn den meisten wird es langsam zuviel, pausenlos über etwas diskutieren zu müssen, das ihnen nun wirklich nicht als schicksalhafter Nachteil erscheinen will. Und außerdem führen solche Beruhigungen, wenn überhaupt, nur zu vorübergehender Erleichterung. Man kann diesen Kranken nichts bestätigen und ihnen nichts ausreden, sie "laufen wie auf Schienen". Einige vergleichen auch ständig ihren "hässlichen" Körperteil mit anderen Personen und deren "Gebrechen". Das kann zu regelrechten Beziehungsideen (also eine übertriebene oder falsche Beziehungssetzung zur eigenen Person) im Zusammenhang mit der eingebildeten Entstellung führen. Das Schlimmste aber ist nach Ansicht der Betroffenen, dass immer mehr und am Schluss alle anderen Menschen auf den vermeintlichen Schönheitsfehler achten und sich darüber unterhalten oder gar lustig machen. Einige Patienten versuchen deshalb diesen Mangel zu überdecken, lassen sich z.B. einen Bart wachsen, tragen Kopftuch, Hut oder Schal, stopfen ihre Kleider aus oder lassen sich entsprechende Kleider schneidern. Einige machen sich sogar übermäßige Sorgen darüber, dass ihr Schönheitsfehler nicht nur hässlich ist, sondern auch in seiner Funktion gestört sein könnte, z.B. extrem lichtempfindlich, verwundbar, zerbrechlich, kurz: in ständiger Gefahr, beschädigt oder verletzt zu werden. Psychosoziale Folgen Nicht wenige dieser Patienten hatten schon vor Ausbruch ihrer Erkrankung, also meist in jungen Jahren unter Selbstunsicherheit, Minderwertigkeits- und Schamgefühlen, insbesondere sexuellen Hemmungen, Angstzuständen, depressiven Verstimmungen und damit so manchen psychosozialen Folgen im zwischenmenschlichen und beruflichen Bereich zu leiden. Später bremsen die krankhafte Selbstbeobachtung und die Furcht vor der Beurteilung durch andere alle Aktivitäten aus, von extremen Reaktionen ganz zu schweigen. Manche verlassen ihre Wohnung nämlich nur noch nachts, wenn sie niemand sehen kann, bleiben ansonsten im Hause, bisweilen über Jahre hinweg. Unter diesem Aspekt können bereits Schul- und später Berufsausbildungen vorzeitig abgebrochen, Vorstellungsgespräche vermieden, Arbeitsstellen nicht angenommen werden und wenn, dann ggf. unterhalb ihres Leistungsniveaus. Einige arbeiten am Ende ihrer Leidens-Karriere überhaupt nicht (mehr). Die meisten haben auch nur wenige Freunde und verlieren diese vielleicht noch, weil sie Verabredungen vermeiden und soziale Begegnungen scheuen. Bei wieder anderen zerbrechen die Partnerschaften und Ehen, nachdem bereits zuvor so manche Freundschaften ein unnötiges vorzeitiges Ende fanden. Wieder andere werden krankheitsanfällig, müssen häufiger auch wegen anderer Leiden behandelt werden, kommen ggf. öfter in Krankenhausbehandlung, gefährden dadurch ihre sozialen und beruflichen Chancen - und steigen gesellschaftlich langsam, aber kontinuierlich ab. Nicht wenige werden schließlich sogar lebensmüde, von einer ständigen Suizidneigung bedroht ("was soll das alles noch"), planen oder versuchen heimliche Selbsttötungshandlungen - und das alles ohne die einzige adäquate Therapie je versucht zu haben, nämlich durch einen psychiatrischen Facharzt (zum Arztkontakt an sich siehe unten). Wie verläuft eine körperdysmorphe Störung? Eine körperdysmorphe Störung beginnt üblicherweise im frühen Erwachsenenalter (auch wenn sie in der Regel erst nach Jahren diagnostiziert wird - falls überhaupt) und kann sich kontinuierlich aufbauen (bzw. verschlechtern) oder abrupt, also plötzlich auftreten. Meist nimmt sie einen kontinuierlichen Verlauf, in der Regel zum Schlechteren (da die psychosozialen Konsequenzen die Gesamtsituation immer belastender ausfallen lassen). Oftmals gibt es nicht einmal kurzfristige Phasen der Beruhigung (Fachbegriff: symptomfreie Intervalle), obwohl die Intensität und sogar Zahl der Symptome wechseln, also ab- und zunehmen kann. Auch der Körperteil, auf den sich die exzessiven Sorgen beziehen, kann entweder der Gleiche bleiben oder wechseln. Ohne fachärztliche Hilfe droht aber oft eine sogenannte Chronifizierungsgefahr, d.h. der Betroffene bleibt ein Gefangener seiner krankhaften Entstellungs-Befürchtungen - lebenslang. Was steckt ursächlich hinter einer körperdysmorphen Störung? Über die psychologischen Hintergründe einer solchen Störung ist bisher wenig bekannt geworden. Der Grund wurde bereits mehrfach angesprochen: Diese Patienten suchen alle möglichen Therapeuten auf, von der Kosmetikerin bis zum plastischen Chirurgen - nur nicht diejenigen, die die psychologischen Ursachen am besten beurteilen könnten: Psychiater, Nervenärzte und Psychologen. So gibt es außer der Zusammenstellung von Fallbeispielen wenig gesichertes Wissen zur Psychologie der körperdysmorphen Störungen. Was auch den nicht-psychotherapeutisch tätigen Ärzten aber immer wieder auffällt, ist ein zwiespältiges Verhältnis zu den Eltern, insbesondere zu der Mutter (für die die körperliche Attraktivität einen größeren Stellenwert hat?). Doch daraus allein lässt sich psychodynamisch wenig konstruieren, das findet sich auch bei anderen seelischen Leiden. Außerdem dürfte gerade die körperdysmorphe Störung ein ursächlich mehrschichtiges Phänomen sein. Was kann mit einer körperdysmorphen Störung verwechselt werden? Körperdysmorphe Störungen sind nicht so selten, wie man bisher annahm, heißt es in Expertenkreisen. Aber man darf auch nicht alles für eine solche Störung halten. Es gibt auch seelische Beeinträchtigungen, die - zumindest in Teilbereichen - lediglich so aussehen. Das setzt dann doppelt einen entsprechenden Facharzt, nämlich einen Psychiater voraus. Auf was muss dieser achten? Zum einen gibt es verschiedene Übergänge von der "alltäglichen Unzufriedenheit" mit dem eigenen Äußeren über entsprechende Selbstwertkrisen bis hin zu neurotischen Entwicklungen oder Persönlichkeitsstörungen mit sensitiven, schizoiden, zwanghaften, depressiven oder narzisstischen Zügen, wie dies in der Fachsprache lautet. - Im Gegensatz zu einer vielleicht überzogenen, aber immer noch normalen Beschäftigung mit der eigenen Erscheinung nimmt die gedankliche Absorbierung über das eigene Aussehen bei der körperdysmorphen Störung ungewöhnlich viel Zeit in Anspruch. Und sie lässt sich vor allem willentlich nicht korrigieren und führt zu starkem Leidensdruck und deutlichen Beeinträchtigungen im psychosozialen, insbesondere partnerschaftlichen, familiären und beruflichen Bereich. - Wenn die exzessive Beschäftigung beispielsweise ausschließlich um das "Dicksein" kreist, wird man am ehesten an eine Anorexie denken müssen. Einzelheiten zu dieser - in der Tat mit am häufigsten abzugrenzenden - Störung siehe Kasten.
Weitere seelische Krankheiten, die bei einer körperdysmorphen Störung ausgeschlossen werden müssen, weil zumindest einzelne Symptome daran erinnern können, sind - Störung der Geschlechtsidentität: Hier geht es vor allem um Probleme bezüglich der sogenannten primären und sekundären Geschlechtsmerkmale wie Bartwuchs, Stimme, Brust, Penis, Fettpolsterverteilung u.a., die auf ihre wahre Ursache hin geprüft werden müssen. - Depressiver Zustand: Hier sollte besonders ein sogenanntes Problem-Grübeln aufhorchen lassen, das um immer die gleichen negativen Auslöser kreist, allerdings herabgestimmt (Fachausdruck: stimmungskongruent) und mit einer Vielzahl von depressionstypischen Symptomen kombiniert. - Persönlichkeitsstörungen, vor allem die sogenannten selbstunsicheren, emotional instabilen und ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörungen: ständige gewohnheitsmäßige Befangenheit, Gefühle von Unsicherheit und Minderwertigkeit, überempfindlich gegenüber Zurückweisung und Kritik, Überbetonung potentieller Gefahren, Risiken oder negativer Aspekte, die auch das eigene Aussehen betreffen können u.a. - Soziale Phobie: Krankhafte Schüchternheit oder krankhafte Angst vor dem anderen schlechthin, was bis zu Rückzug und Isolationsgefahr gehen kann, besonders wenn man unter einem realen und peinlichen Mangel der äußeren Erscheinung zu leiden hat und diesen zumindest so empfindet oder entsprechend aufbauscht (Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel). - Zwangsstörungen, was sich in Zwangsgedanken, Zwangsimpulsen und Zwangshandlungen äußern kann (z.B. auch in ständigen Überprüfungen durch den Spiegel), wobei sich die Zwänge meist nicht nur auf Sorgen um das äußere Aussehen beschränken. - Wahnhafte Störungen mit körperbezogenem Wahn: Auch hier kann ein reales oder vermeintliches Defizit im Aussehen eine zentrale Rolle spielen, jedoch eingebettet in einen Wahn, der alles andere dominiert - sofern man konkret nachfasst, was vor allem dem psychiatrischen Facharzt gegeben sein dürfte (Einzelheiten siehe das spezielle Kapitel über wahnhafte Störungen). - Ein kulturspezifisches Syndrom, das hauptsächlich in Südostasien auftritt, und mit der körperdysmorphen Störung in Beziehung stehen könnte, ist das Koro: die Befürchtung, dass (ausschließlich) der Penis schrumpfe und im Unterbauch verschwinde, was nicht nur peinlich wäre, sondern in diesem soziokulturellen Zusammenhang zum Tode führen müsse. Koro dauert jedoch nur kurz und ist vor allem durch akute Angst, ja Todesangst charakterisiert, lässt sich durch Zuspruch zumindest mildern und tritt in Südostasien nicht selten als regelrechte Epidemie auf. Was kann man gegen eine körperdysmorphe Störung tun? Einer körperdysmorphen Störung schon vorbeugend entgegenwirken, ist nicht einfach. Lange Zeit hält man die entsprechende Befürchtung für eine "Marotte", einen "Spleen", einen "Vogel", den man nicht ernst nehmen sollte und der sich wieder geben wird. Dies vor allem dann, wenn das Ganze in jungen Jahren beginnt, wo man krankhafte Entwicklungen ohnehin (noch) nicht vermutet bzw. nicht so ernst nimmt. Wenn es sich dabei noch um eine selbstunsichere, gehemmte, ängstliche, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagte Person handelt, die in ihrem Umfeld ohnehin wenig gilt, vielleicht auch noch irgend einen kleinen Makel hat (den eine seelisch "robustere Natur" aber problemlos wegstecken würde), dann ist ohnehin nicht mit viel Zuwendung und Hilfe zu rechnen. Und damit letztlich auch mit keiner rechtzeitigen Diagnose und Therapie, die ja oft nur auf Anregung der Angehörigen oder Freunde zustande kommt. Die Betroffenen selber jedenfalls tragen dazu wenig bei, ein Psychologe oder Psychiater kommt für sie nicht in Frage. Ein Facharzt für den entsprechenden Mangel, also Ohren, Nase u.a. schon eher. Doch der hilft in der Regel kaum weiter, was das zugrunde liegende psychologische Problem anbelangt. Und bis zu einer radikalen kosmetischen Behandlung, wenn nicht gar einem kleinen schönheits-chirurgischen Eingriff lassen es ohnehin die wenigsten kommen. Auch muss man zugeben, dass sich das Arzt-Patient-Verhältnis, wenn es je mit einem nicht-psychiatrischen Arzt zustande kommt, nicht immer komplikationslos entfaltet. Patienten mit einer körperdysmorphen Störung fühlen sich von ihren Ärzten häufig nicht ernst genommen. Und der minimale oder gar nicht vorhandene "krankhafte Befund", kombiniert mit einem unerklärlich hohen Leidensdruck sowie einem mitunter schwer erträglichen Verhalten (ängstlich-deprimiert, aber auch reizbar-aggressiv, ggf. entsprechende Manipulations- oder Selbstbehandlungsversuche), vor allem aber das beharrliche negative Körperbild, die Furcht vor Abwertung, die ständige Beschäftigung mit dem scheinbaren Mangel, die zwanghaften Kontrollen, die Angst, sich zu zeigen und damit Rückzug und Isolationsneigung, die partnerschaftlichen, familiären und beruflichen Folgen, kurz: ein überaus komplexes bis unerfreuliches Leidensbild, gelten als ungünstige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie. Hier kann man nur durch einfühlsames Verstehen und geduldiges Eingehen auf die scheinbar skurrile Problematik den Boden bereiten für eine unerlässliche psychotherapeutische Behandlung (gesprächspsychotherapeutisch, insbesondere kognitiv-verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch-analytisch). Und dies ergänzt durch soziotherapeutische Korrekturen und Hilfen (zwischenmenschlich, familiär, beruflich) sowie Psychopharmaka; am sinnvollsten bestimmte Antidepressiva, zeitlich begrenzt auch einmal Benzodiazepin-Tranquilizer (Beruhigungsmittel) oder mittelfristig sogenannte Phasen-Prophylaktika wie die Lithiumsalze. Kosmetische Operationen im Rahmen der plastischen Chirurgie oder andere Eingriffe sind am ehesten dann erfolgreich, wenn die Betroffenen die Gründe für ihre Unzufriedenheit relativ deutlich beschreiben können und auch realistische Erwartungen hinsichtlich des therapeutisch Erreichbaren haben. Wenig aussichtsreich oder sogar kontraindiziert (Gegen-Heilanzeigen) sind sie dann, wenn die Patienten nur vage, diffuse oder gar noch wechselnde Beschwerden äußern, über Symptome in mehreren Bereichen des Körpers klagen oder wenn ihre Krankengeschichte bereits gescheiterte Behandlungsversuche aufweist. In manchen Ländern wird die Bezahlung kosmetischer Operationen durch die Kassen von einer vorangegangenen Psychodiagnostik abhängig gemacht. Das hat sich bewährt. In der Regel fühlen sich nämlich die nicht-psychiatrischen Ärzte bei der Beurteilung der mutmaßlichen Selbstwertproblematik, die auch sie hinter manchen dieser Operationswünschen erkennen, letztlich überfordert. Denn wenn es sich weniger um ein echtes kosmetischen, mehr um ein unverarbeitetes seelisches oder psychosoziales Problem handelt, ist selbst die perfekteste plastische Operation auf Dauer nicht erfolgreich. Das ahnen auch die Operateure und wären in vielen Fällen froh, ein dazwischen geschalteter Psychiater oder Psychologe würde ihnen die Heilungsaussichten ihrer operativen Möglichkeiten konkreter abschätzen helfen. So bleibt nur zu hoffen, dass nicht nur die Zahl der körperdysmorphen Störungen, sondern auch die Einsicht der Betroffenen wächst, durch eine vorgeschaltete psychologische oder psychiatrische Abklärung die Aussichten auf einen langfristigen Erfolg zu steigern. Und nicht die verzweifelten, manchmal sogar panischen Operations- oder sonstigen Korrekturwünsche, die nur auf den scheinbaren Mangel und nicht auf die dahinter verborgenen seelischen Beeinträchtigungen zielen. LITERATUR So spektakulär und interessant die körperdysmorphen Störungen auch sein mögen, es gibt zumindest im deutschsprachigen Bereich wenig Fachliteratur dazu, und in allgemeinverständlicher Form noch weniger. Nachfolgend einige Hinweise: APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-IV. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 1998 Faust, V., Elke Faust: Seelische Störungen. Kleines Psychiatrie-ABC für den Alltag. Teil II: D-E. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1995 Fiedler, P.: Persönlichkeitsstörungen. Beltz-Verlag, Weinheim 1995 Helmchen, H. et al. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart 6: Erlebens- und Verhaltensstörungen, Abhängigkeit und Suizid. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2000 Joraschky, P, T. A. Moesler: Die Dysmorphophobie. In: W. P. Kaschka, E. Lungershausen (Hrsg.): Paranoide Störungen. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 1992 (dort ausführliches weiterführendes Literaturverzeichnis, meist englischsprachig) Jungbluth, B.: Zur Psychopathologie der Dysmorphophobie. Med. Diss., Aachen 1979 Uexküll, Th. v. (Hrsg.): Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1996 WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen - ICD-10. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto 1993 |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |