Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
VON ÄSKULAP BIS WERTHERVon der medizinischen Fachsprache und ihren mythologischen Wurzeln
Eigentlich interessiert sie niemanden; am besten man kommt mit ihr nie in Berührung, schon gar nicht als Patient. Außerdem ist sie ein sprachliches Ärgernis, weil oftmals völlig unverständlich, vor allem dann, wenn man exakt wissen möchte, was nun eigentlich vorliegt. Liest man in entsprechenden Lexika nach, fühlt man sich schon fast verschaukelt: Dort wird oft genug ein Fremdwort durch ein anderes erklärt. Und - wie gesagt - es könnte einem gleichgültig sein, ist es aber nicht, denn es handelt sich um die medizinische Fachsprache, um so genannte Termini technici. Man kennt diese Seufzer - und sie sind berechtigt. Mediziner geben sich meist keine Mühe, dem Laien mit verständlichem Deutsch zu helfen, was in allen anderen Sprachen - nebenbei bemerkt - das gleiche Problem ist. Medizinische Lexika sind hier auch nicht hilfreich. Also muss man zu populärmedizinischen Gesundheits-Büchern greifen. Die bringen es zumeist - und vor allem auf den Punkt. Allerdings stößt dem kritischen Interessenten mitunter der Verdacht auf, die dort beschriebene "einfache Lösung" könnte dann doch nicht der Realität entsprechen. Kurz: Sie ist ein mehrschichtiges Elend, die medizinische Fachsprache. Dass sie natürlich ihren Vorteil hat, vor allem für die Ärzte selber, steht außer Frage. Das gilt für alle Fachsprachen. Ein einziger Fachbegriff ersetzt u. U. ein halbes Lehrbuch-Kapitel - sofern man derlei auch im Kopf hat. Zumindest aber spart es Zeit. Ein Diskussions-Beispiel: "Somatisch oder psychogen?" Hier erörtern die Mediziner anhand von drei Fachbegriffen eine erste und sehr wesentliche Grundsatzfrage, nämlich: Handelt es sich bei diesem Patienten um eine körperliche Krankheit (griech.: soma = Körper, Leib) oder ein seelisch ausgelöstes Leiden (griech.: psyche = Atem, Leben, Seele)? Oder gar um mehrere Krankheitsbilder (vom lat.: multus = viel, zahlreich und morbus = Krankheit)? Wenn das geklärt ist, geht es aber erst richtig los - mit der Fachsprache. Dann kommen auch Bezeichnungen, die dem (gebildeten) Laien zwar durchaus bekannt sind, weshalb er sich erstaunt fragt, was Götter und Helden des Altertums, Bibelstätten, die magische Welt des Mittelalters oder Wissens-Metropolen Europas mit seinen Beschwerden zu tun haben sollen, von literarischen Größen ganz zu schweigen. Eine schmalbrüstige Antwort kann man mitunter aus dem einen oder anderen Lexikon entnehmen, dürftig nach Inhalt und karg im Stil - kurz: meist unerfreulich, weil unergiebig. Dann gibt es zwar die Möglichkeit, sich etymologisch (also vom Ursprung und der Bedeutungsentwicklung der Wörter her, d. h. worterklärend) einzulesen. Aber das ist dann eine oft zeit- und kraftintensive Lektüre in pfund-schweren Folianten. Wo also kann man sich locker, unterhaltsam und doch wissenschaftlich fundiert belesen? In dem von Mediziner-Hand geradezu "anmutig" aufgemachten Buch von Professor Dr. med. Axel Karenberg vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Köln mit dem schon im Voraus stimulierenden Titel: Amor, Äskulap & Co.
Was wird geboten? Dazu der Werbetext des Schattauer-Verlags, der schon für sich genommen ein Vergnügen ist.
Dem Zusammenhang zwischen moderner Heilkunde und klassischer Mythologie wird schon seit über 100 Jahren nachgegangen, und zwar mit einer Reihe von Theorien, die teils einleuchten, teils etwas weit hergeholt und bemüht erscheinen. Das soll aber nicht der Inhalt der nachfolgenden Ausführungen sein. Uns interessiert vielmehr die mythologische Herkunft medizinischer Fachbegriffe, wie sie A. Karenberg in seinem Buch treffend und kurzweilig wiedergibt. Am meisten aber interessiert uns - wie nicht anders zu erwarten - der psychiatrische, psychologische und vor allem psychoanalytisch-tiefenpsychologische Teil, also weniger "Atlas, Achillessehne, Adamsapfel, Hygiene, Medusenhaupt, Morphin, Syphilis" u. a., mehr "Elektra- oder Ödipus-Komplex, Erotik, Hermaphroditen, Hypnose, lesbische Liebe, narzisstische Störung, Münchhausen-Syndrom, Nymphomanie, Onanie, Phobie, Sadismus und Masochismus, Sodomie, Werther-Syndrom" usw. Zuerst aber einige Hinweise über Medizin-Sprache und Sprachwissenschaft, wie sie A. Karenberg zu Beginn seines Buches ausführt, indem er mit einer Begriffs-Erläuterung beginnt: Eponyme - Anthroponyme - Mythonyme - u. a. Eponyme werden von einem Personennamen abgleitet, z. B. Alzheimer-Krankheit, Münchhausen- oder Werther-Syndrom. Solche Eigennamen-Begriffe sind so alt wie die Fähigkeit des Menschen, die Dinge seiner Welt in Schriftzeichen zu fassen (spätestens seit dem Beginn des 2. Jahrtausends vor Christi nachweisbar, z. B. bei den alten Assyrern, vor allem aber im antiken Griechenland und Rom). Das hat in letzter Zeit so zugenommen, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Beispiele: Washington, Dieselmotor, Ottomotor, Darwinismus u. a. In der Medizin würdigt man damit entweder verdiente Ärzte (Basedow-Trias, Billroth-Operation, Alzheimer-Krankheit) oder man bezieht sich auf berühmte Patienten (z. B. Daltonismus). Wenn es sich dabei um nachweisbar lebende Personen gehandelt hat, nennt man diese Wortbildung auch Anthroponyme. Beziehen sie sich auf imaginäre Gestalten, meist aus der griechisch-römischen Mythologie, bezeichnet man sie als Mythonyme. Bespiele: Aphrodisiaka, Äskulapstab, Medusenhaupt usw. Schließlich existiert noch eine kleine Rest-Kategorie, die sich meist von Romanhelden (Charles Dickens' Pickwickier, Goethes' Werther) oder Vers-Epen (Syphilus) ableitet. Dafür gibt es allerdings bis heute keinen eigenen Fachbegriff. Dafür - so der Autor in seiner Einleitung - bereichern neuerdings andere Phänomene die Fachsprache. Dazu gehören Akronyme (Kurzwörter), Synonyme (Mehrfach-Benennungen), Euphemismen (beschönigende Floskeln) oder Metaphern (bildhafte Vergleiche). Sie gestalten die zwischenmenschliche Kommunikation zwar etwas knapper und damit ökonomischer, andererseits variantenreicher und ausdrucksstärker. Und wenn auch bisher noch niemand von dem Begriff "Eponyme" gehört haben soll, jetzt weiß er es (nämlich die oben erwähnten Fachbegriffe, die sich von Personennamen ableiten, vor allem in Medizin, Wissenschaft und Technik). Und das soll im Nachfolgenden noch in einigen Beispielen mit Unterstützung des empfehlenswerten Buches von Professor Dr. A. Karenberg detaillierter ausgeführt werden: Aphrodite und die Aphrodisiaka Die Liebe ist eine Himmelsmacht, heißt es, nicht zu Unrecht. Deshalb hat es auch eine mythologische Figur bis in die Gegenwart geschafft, namensprägend zu bleiben. Die Rede ist von der Göttin der Liebe und der Schönheit, der "schaumgeborenen" Aphrodite. Gleiches gilt für ihr römisches Pendant, die Venus (siehe später). Beide repräsentieren das "ewig Weibliche", nämlich verführerischen Charme, Sinnlichkeit, die Notwendigkeit von Fruchtbarkeit und Fortpflanzung, allerdings auch arglistige Täuschung und Betrug. Nach Homer ist Aphrodite eine Tochter des Zeus und der Titanin Dione, zu deren Kindern neben Aphrodite noch Eros, Hymen und Phobos sowie der mit dem Götterboten Hermes gezeugte Hermaphrodit. Der Liebesgöttin zu Ehren pflegte man früher sexuelle Vergnügen als "aphrodisia" zu bezeichnen. Das hatte zwei Jahrtausende später den Nachteil, dass man die "Aphrodisie" als "krankhaft gesteigerten sexuellen Appetit" bzw. "aphrodisisch" für "den Geschlechtstrieb mehrend" heranzog. Das ist längst Schnee von gestern, aber so ganz kann auch die heutige Zeit auf diesen schon lautmalerisch wundervollen Namen nicht verzichten, vor allem nicht dem erwähnten Zusammenhang. Geblieben sind deshalb die "Aphrodisiaka", also Arzneimittel, die das sexuelle Verlangen anregen und die Potenz kräftigen sollen (weitere Einzelheiten siehe auch das Kapitel "Liebe und seelische Störungen"). Eros und die Erotomanie Wir haben schon gehört: Eros war in der griechischen Mythologie der (ungebärdige!) Sohn des Zeus, der es schließlich zur Verkörperung der leidenschaftlichen Liebe und des sexuellen Begehrens brachte. Im Altgriechischen aber gab es für die verschiedenen Formen der Zuneigung durchaus differenzierte Umschreibungen, die übrigens alle bis heute Bestand haben. Dazu gehört erstens Eros im Sinne der verlangenden sinnlich-körperlichen Liebe. Geblieben, wenn inzwischen auch ungebräuchlich, sind die Erotomanien für den "Liebeswahn" und der Erotismus für die "abnorm gestaltete Leidenschaftlichkeit". Kaum mehr in Erinnerung sind allerdings Erotopathie für Perversionen sowie Erotophobie für die "krankhafte Abneigung gegen sexuelle Beziehungen". Nur die erogenen Zonen erfreuen sich noch einer gewissen Beliebtheit, und zwar namentlich wie in natura, weil sie für jene Körper-Areale gelten, in denen lustvolle Empfindungen ausgelöst werden können. Professor Dr. Sigmund Freud nutzte den Begriff übrigens noch für seine psychoanalytische Triebtheorie (Eros als urtümlicher Lebenstrieb im Gegensatz zum destruktiven Todestrieb). Neben dem Eros war von weiteren sprachlicher Differenzierungen der Zuneigung die Rede (siehe oben), die es bis heute geschafft haben unseren (höheren) Wortschatz zu vervollständigen. Dazu gehört die agape für die Gottesliebe und aufopfernde Nächstenliebe (auch Liebesmahl und Speisung der Armen im Frühchristentum) sowie die lateinische caritas mit gleicher Bedeutung. Drittens die philia, eher für Freundschaft und Wohlgefallen und die Zuneigung für eine Sache und einen Gegenstand (z. B. Bibliophilie, siehe das Kapitel "Über den krankhaften und heilsamen Umgang mit Büchern"). Und schließlich das - allerdings weitgehend unbekannte - stergo für Liebe im Sinne gegenseitiger Wertschätzung. Kurz: Die Liebe ist nicht nur eine Himmels-, sondern auch eine Sprach-Macht, die sich jahrtausende-überdauernd aus der antiken Götterwelt speist. Nymphen und die Nymphomanie Nymphen sind anmutige Mädchengestalten im Gefolge "richtiger" Gottheiten, also eine Art halbgöttliche Naturgeister im Umfeld von Quellen, Flüssen, Bäumen, Bergen oder Meeren. Als jugendlich beschwingte und unbeschwerte Geschöpfe galten sie schon in der Antike als Helfer des Menschen. Später verband man mit ihnen auch Begriffe wie "Wassernixe", "junge Frau", "Mädchen" oder "verschleierte Braut" (wobei Letzteres sich zoologisch niederschlug für Insektenlarven, die sich erst später "entschleierten"). Etwas schwieriger zu erklären ist die Interpretation (der bereits antiken Schriften) was ihre Verwendung für die kleinen Schamlippen ("Labia minora") anbelangt. Im 18. Jahrhundert bekamen die Nymphen noch einmal einen "sexuellen Schub", und zwar mit der Nymphomanie, der "Mannstollheit". Warum, ist auch hier nicht ganz klar. Vielleicht ging die "Nymphomanie" auch besser über die Lippen als der bis dahin gebräuchliche lateinische Terminus "Furor uterinus", die "Tollheit der Gebärmutter", weshalb man dann auch wählen konnte zwischen "Nymphomanie" oder "Uteromanie". Weitere Einzelheiten über die Geschichte des Begriffs und seinen heute als zwiespältig und völlig unmodern geltenden sexuellen Hintergrund siehe auch das Kapitel über "Liebe und sexuelle Störungen". Oder vielleicht noch ein kleiner Seitenhieb von aufgeklärten Sexualwissenschaftlern: "Nymphomanie - jemand, der mehr Sex hat als man selber..." Pan: vom panischen Schrecken bis zur Panikattacke Ein "panischer Schrecken" mag ja noch angehen, Panik als Massenphänomen nach Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Tsunamis, Bränden und technischen Katastrophen ist schon eine Tragödie. Und dasselbe gilt für "Panik von innen", die Panikattacke, die überfallartigen Ängste in quälend konzentrierter Form, wenn auch subjektiv und seelisch bedingt, so doch bis zur Todesangst. Wer stand hier begrifflich Pate? Es ist Pan, der griechische Gott der Herden und Wälder, Nachkomme des Götterboten Hermes und einer Nymphe, ein Mischwesen: halb Mensch, halb Tier, mit aufrechtem Gang, aber Bocksfüßen, kleinen Hörnern und über und über behaart. Ein launiger, weinseliger "kleiner Unhold", der zwar die Hirten unter freiem Himmel beschützte, aber auch wohlgeformten Knaben oder gar Tieren (vor allem Ziegen) nachstellte. Warum also panischer Schrecken? Wenn er Einzelnen auflauerte, dann geschah mit ihnen Sonderbares: vollständige Ergriffenheit durch die Gottheit, verbunden mit kompletter gemütsmäßiger und psychomotorischer Lähmung. Das führte damals schon zu einem Fachbegriff, der "Panolepsie". Aber es konnte auch zum panischen Schrecken im Sinne einer Massenangst kommen, wenn beispielsweise Tierherden in freier Natur plötzlich und ohne ersichtlichen Grund in Unruhe geraten und "durchgehen", weil sich Pan mit unvermitteltem Gebrüll bemerkbar machte. Kurz: Pan steht auch für Schreck, Angst und unkalkulierbare Reaktionen. Inzwischen ist die Panikattacke zu einer anerkannten seelischen Störung geworden (was nicht jeder psychischen Beeinträchtigung zuteil wird, zurzeit ringt beispielsweise das "Burnout-Syndrom: erschöpft-verbittert-ausgebrannt" um seine wissenschaftliche und klassifikatorische Anerkennung). Pan ist nicht zuletzt deshalb so aktuell geworden, weil die nach ihm benannten überfallartigen Angstzustände in letzter Zeit geradezu explosionsartig zunehmen und häufig nicht nur zermürbender Endpunkt, sondern auch Teil einer umfassenden Angststörung sein können mit Generalisierten Angststörungen (früher Angstneurose), Phobien (siehe unten) und oft auch noch als Vorbote späterer Depressionen. Pan wird auf tragische Weise "modern". Phobos: vom Kriegsgott zum "Angsthasen"? Weit häufiger als die qualvollen Panikattacken sind die lästigen Phobien, Zwangsbefürchtungen, die - laut epidemiologischer Untersuchungen - die wohl häufigsten Angststörungen sind oder zumindest werden. Namentlicher Urheber ist Phobos, ein zwar hässlicher, aber unerschütterlicher und starker Begleiter des Kriegsgottes Ares. Schon aus der Antike bekannt ist die Hydrophobia, die Abneigung gegen Wasser. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wird die Endsilbe "-phobie" so richtig geläufig (z. B. Agoraphobie für Platzangst). Nach und nach brachen aber alle Dämme was weitere Wortschöpfungen und sprachliche Mischwesen anbelangt. Man spricht von über 400 Begriffen, die mit einer gezielten Furcht im Sinne der Phobie in Zusammenhang stehen. Am bekanntesten ist die Klaustrophobie, die Angst vor engen Räumen, geläufig ist die Arachnophobie, die Spinnen-Angst und immer häufiger wird die Phobophobie, die Angst vor der Angst. Offenbar ein Schwelbrand unserer Zeit und Gesellschaft soll auch die Sozialphobie werden, die Angst vor dem anderen schlechthin, die Menschenangst. Da hat die Erythrophobie, die Angst vor dem Erröten, fast schon ihre charmanten Seiten. Als krankhafte Furcht ist sie allerdings für die Betroffenen ein großes Hindernis im Alltag, was nichts mehr mit dem launigen Dichterwort zu tun hat: "Er folgt errötend ihren Spuren und ist von ihrem Gruß beglückt..." Auf jeden Fall hätte sich der Kriegsgott Ares nicht träumen lassen, dass sein äußerlich unansehnlicher Begleiter Phobos einmal so groß herauskommen würde. Priapos: riskant bis gefährlich Der Priapismus ist eine Erektion des männlichen Gliedes, aber ohne geschlechtliche Erregung, ja schmerzhaft und das über Stunden, Tage oder mitunter sogar Wochen. Diese Dauer-Erektion führt zu einer Zerstörung des Schwellkörpers, der Corpora cavernosa, was zur Fibrose (bindegewebigen Verhärtung) und schließlich erektilen Impotenz führt. Es stehen mehrere Ursachen zur Diskussion, vor allem aber der Begriff "idiopathisch", d. h. Genaues weiß man nicht. Doch sollen sich schon die antiken Ärzte, ja Philosophen und Theater-Autoren damit beschäftigt haben, d. h. es muss nicht so selten und schon früher dramatisch folgenschwer gewesen sein. Dafür weiß man wenig Genaues über Priapos selber. Für manche gilt er als Sohn des Dionysos und der Aphrodite oder einer Nymphe. Andere wollen Zeus und Aphrodite ins Spiel bringen, was die eifersüchtige Zeus-Gattin Hera veranlasste, das Kind als Missgestalt mit einem abnorm großen Geschlechtsteil zur Welt kommen zu lassen. Priapos wird deshalb aus Furcht vor Schande in den Bergen ausgesetzt, wird von Schäfern großgezogen - und aufgrund seiner anatomischen Auffälligkeit verehrt. Es gibt aber noch weitere sagenhafte Varianten. Auf jeden Fall machte Priapos in der griechischen und später römischen Antike eine geradezu beispiellose mythologische Karriere: als urtümlicher Gott animalisch-vegetabilischer Fruchtbarkeit und körperlicher Liebe, als Hüter der Gärten und Weinberge, als Spender von Wohlstand und Reichtum, als Träger von magischen, vor allem unheil-abwehrenden Kräften u. a. Überall, gleichsam auf Schritt und Tritt wird sein übergroßer erigierter Phallus zum bildhaften und erzählerischen Mittelpunkt. Dabei - das sei nicht unerwähnt - ging es den Künstlern damals nicht um Obszönität, sondern um Mythologie, das ist ein Unterschied. Allerdings gab es auch damals schon grenzwertige Produktionen, auch im Dichterischen (z. B. die Priapeen, derbe trival-erotische Kurzgedichte, späteren Studenten-Liedern mit entsprechenden Versen vergleichbar). Diese "moralischen Ausrutscher" führten dazu, dass früher in der "gehobenen Alltagssprache" der Begriff "priapisch" oder "priapeisch" für "unzüchtig" gewählt wurde. Geblieben ist jedenfalls eine für unsere nüchterne Zeit und Gesellschaft dramatische urologische Krankheit bzw. Notfallsituation. Narkissos und die heutige Zeit Wer diese Serie kennt, hat vermutlich auch den umfangreichen Beitrag über den Narzissmus in unserer Zeit und Gesellschaft durchgeblättert. Denn Selbstverliebtheit, Selbstbezogenheit, Selbstbewunderung und Egoismus sind an der Tagesordnung, inzwischen mehr denn je. Narzisstische Wesenszüge, d. h. überhöhte Anspruchshaltung, unkritische Selbsteinschätzung, ausnützerische und egoistische Einstellung, Neid und Überheblichkeit nehmen zu. Noch folgenschwerer wird es, wenn es sich um eine narzisstische Persönlichkeitsstörung handelt: selbstgefällig, dünkelhaft, aufgeblasen, wichtigtuerisch, großspurig; dabei unrealistisch überzeugt von eigenen Eigenschaften wie Erfolg, Macht, Scharfsinn, Schönheit oder gar idealer Liebe. Dazu weitere seelische und psychosoziale Belastungen für den Betreffenden und vor allem sein Umfeld wie Gier nach übermäßiger Bewunderung und unbegründete Erwartungen, als etwas Besonderes behandelt zu werden (vor allem wenn noch hysterische Züge dazukommen). Außerdem die Tendenz, andere auszubeuten, insbesondere was zwischenmenschliche Beziehungen, aber auch Finanzen, Position u. a. anbelangt. Und ggf. ein unverständlicher Mangel an Mitleid, Zuwendung und Hilfsbereitschaft, dafür neidisch und manchmal sogar bösartig eifersüchtig. Kurz: eine Belastung besonderer Art. Welche unglückliche mythologische Gestalt musste für so etwas ihren Namen hergeben? Es ist der griechische Jüngling Narkissos mit seiner melancholischen Geschichte aus Liebe, Leid und Tod. Die maligne Komponente (es gibt sogar den Fachausdruck: "maligner Narzissmus") dürfte ihm aber fremd gewesen sein, und zwar in allen Varianten der Legende. Um was handelt es sich? Der griechische Historiker Pausanias erzählt in seiner Fabel von dem glänzend aussehenden Nymphen-Sohn namens Narkissos, der zufällig in eine Quelle geblickt hatte und dabei nicht wusste, dass er darin sein eigenes Spiegelbild sah, sich dafür aber so intensiv darin verliebte, bis er vor Verlangen verging. In der Fassung des Sophokles wird er von einem männlichen Bewunderer getötet, weil er ihn unbeachtet lässt. Dafür verwandelt er sich in die "Narzisse", die bleiche, wohlduftende und betäubende Blume der Gräber, der Unterwelt und des Todes. In einer dritten Form verzweifelt der Verschmähte und stürzt sich in sein Schwert. Zur Strafe muss der Verursacher eine heftige Zuneigung zu sich selber entwickeln, bringt sich dann auch folgerichtig selber um und die Blume entspringt aus seinem Blute. Die kunstvollste Version aber stammt vom Altmeister Ovid: Schon als Kind mit der Prophezeiung belastet, ein hohes Alter nur dann zu erreichen, wenn er sich nicht selber "schauen" wird, entflammt die Nymphe Echo für den schönen Jüngling, doch der Beziehungs-Unfähige (hier deuten sich die grundlegenden Beziehungsstörungen zur psychopathologischen Realität des Narzissten an) weist ihre Werbung von sich. Kummervoll entschwindet die Verschmähte in den Wäldern und es bleibt nur noch ihre Stimme als Nachhall, als Echo zurück. Für Narkissos aber hält Nemesis, die Göttin der Vergeltung, eine besondere Strafe bereit: Er kann sich nicht mehr von seinem Spiegelbild trennen. Schließlich stirbt er vor Erschöpfung und übrig bleibt nur noch die erwähnte Blume. Er selbst aber bespiegelt sich im Styx, dem Fluss der Unterwelt, bis auf den heutigen Tag. Die Psychodynamik der mystischen Vorlage ist die erwähnte Bindungs-Unfähigkeit durch Selbstverliebtheit. Das ist nichts Neues und hat vor allem viele bildende Künstler und Maler inspiriert. Und natürlich Dichter (vorab jene mit ihrer eigenen Problematik...?). Beispiele: Oscar Wilde: "Das Bildnis des Dorian Gray" oder Hermann Hesse: "Narziß und Goldmund" u. a. In die Psychopathologie Eingang fand die anrührende mythologische Sage hingegen erst zum Ende des 19. Jahrhunderts. Also bereits vor Sigmund Freud, dem - wie so manches andere - auch dieses psychotherapeutisch relevante bzw. in diesem Fall schwer behandelbare Phänomen als neurosen-psychologischer Erstautor zugeschrieben wird ("Zur Einführung des Narzissmus", 1914). Doch schon zuvor wurde der Narzissmus als eine besondere Spielart des Auto-Erotismus bezeichnet, die durch "vorübergehende Hinwendung in der Libido zum eigenen Körper als Sexualobjekt" entstehen soll. Für alle gleich ist auf jeden Fall die Erkenntnis, dass es sich beim "physiologischen Narzissmus" um eine kindliche Entwicklung und damit ein normales Durchgangsstadium handelt, durchaus zweckmäßig für ein später stabiles Selbstwertgefühl. Die psychopathologische Konkretisierung schaffte schließlich das DSM-III (heute DSM-IV-TR) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), deren Kriterien allerdings dann auf den mythologischen Narkissos nicht mehr zutreffen. Manche Gesellschaftskritiker sind sogar der Meinung, dass sich die Problematik des einst einsamen Jünglings an der Quelle zu einem inzwischen ernsthaft belastenden Massenphänomen unserer Zeit und Gesellschaft entwickelt habe ("der Narzissmus als III. Weltkrieg von innen..."). Ödipus in uns allen? Wenn die Sprache auf das Thema "Mythologie und medizinische Terminologie" kommt, dann kann man sich eines sicher sein: der Ödipus-Komplex wird zum Stichwort - aber nicht zum Thema. Denn dafür erscheint er dann doch ein wenig kompliziert und schwer durchschaubar. Um was handelt es sich? In diesem Fall war es tatsächlich Sigmund Freud, der in seinem bekannten Werk über "Die Traumdeutung" (1900) erstmals ausführlich auf das Drama des Sophokles vom "König Ödipus" zu sprechen kam, nämlich: Ein Knabe begehrt unbewusst seine Mutter und hasst eifersüchtig den Vater/Rivalen, der sich zwischen beiden stelle. Diese Verwicklung aber führte zu Schuldgefühlen und präge die spätere Entwicklung. Aber wie so oft im Leben: Das hat Sophokles nun wirklich nicht gemeint, geschweige denn geschrieben. "Seinen Protagonisten leitet das Schicksal, nicht das Unbewusste", mahnt mit Recht A. Karenberg. Sein Held tötet nämlich einen Mann und heiratet eine Frau, ohne zu wissen, dass es sein Vater und seine Mutter waren bzw. sind. Dabei waren alle gewarnt und taten ihr Möglichstes, um eine solche Tragödie zu verhindern - vergebens. Einzelheiten bei Sophokles (dessen antike Dramen durchaus in kurzweiliger Übersetzung verfügbar sind) und das Ende in Stichworten: Als das Entsetzen ruchbar wurde, erhängt sich die Mutter/Gemahlin und blendet sich der "Täter", um dann aber wenigstens friedvoll als alter Bettler in Athen zu enden. Seine Tochter, die ihn unterstützte, heißt übrigens Antigone und wird später einen weiteren Dramen-Stoff liefern. Es war der unlösbare Widerstreit zwischen göttlichem Willen und menschlichem Wollen, vor allem ohne jede Chance des Entrinnens, der Sigmund Freud faszinierte und zu seiner Analogiebildung animierte. Dabei ging es ihm um die frühkindlich-sexuellen Konflikte in einer besonders prüden Epoche, wozu ihm das "klassische Gewand" geradezu entgegen kam, um einen (damals?) generellen Seelen-Notstand zu beschreiben (S. Freud: "Jeder war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus"). Ja, er vermutete im Ödipus-Komplex sogar den Kern-Komplex einer jeden Neurose und möglicherweise sogar noch auf anderen Gebieten des Seelenlebens den entscheidenden Einfluss. Das alles muss man erst einmal so stehen lassen: Den Psychotherapeuten zur Aufgabe, den Künstlern zum Motiv und dem Durchschnittsbürger zu einem schwer durchschaubaren Phänomen, was sich aber zumindest als wohllautender Begriff mit tiefenpsychologischem Hintergrund nutzen lässt. Wenn also "Ödipus in uns allen" schlummert, dann stellt sich sehr rasch ein weiteres Problem: Was machen dann eigentlich Mädchen und spätere Frauen? Begehren sie unbewusst den Vater und hassen eifersüchtig die Mutter/Rivalin? Und da es keine Frage ist, dass Liebes- und Inzestwünsche bezüglich des gegengeschlechtlichen Elternteils sowie Hass- und Feindseligkeits-Gefühle gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Pendant nicht nur bei Jungen, sondern auch bei Mädchen möglich sind, musste auch ein mythologisches Gegenstück kreiert werden. Tatsächlich folgte wenige Jahre nach dem Ödipus-Komplex die weibliche Variante, der Elektra-Komplex: die exzessive und spezifische Zuneigung zum Vater und die entsprechende Eifersuchts-Einstellung gegen die Mutter (wie es der Schüler von Sigmund Freud, C.G. Jung 1913 formulierte). Elektra gehörte als Tochter des Heer-Führers Agamemnon (siehe Troja) und der Klytaimnestra zum "fluchbeladenen" Geschlecht der Tantaliden. Warum? Mutter und Liebhaber töten den Kriegsheimkehrer, um auch weiterhin ihrer Beziehung frönen zu können. Elektra rächt deshalb mit ihrem Bruder Orest das Verbrechen. Wieder musste also die antike Mythologie herhalten und wieder erscheinen die Parallelen etwas bemüht bis unpassend. Deshalb hat sich der Elektra-Komplex als Begriff auch nicht durchgesetzt. Auch andere Konflikt-Konstellationen (A. Karenberg zählt auf: Atreus und Diana, Herakles, Ikarus, Iokaste, Laios und Medea, Orest, Odysseus oder Phaedra u. a.) versprachen nicht die Lösung. Irgendwann ist scheinbar auch bei den Psychoanalytikern der damaligen Zeit Schluss gewesen mit den mythologisierenden Vergleichen aus der Antike. Es mangelte die Schlüssigkeit der Analogie. Und vielleicht auch die Geschliffenheit der klassischen Bildung, über die die frühere Zeit fraglos verfügte, gibt A. Karenberg zu bedenken - nicht zu Unrecht. Da das Phänomen aber trotzdem einen Namen haben sollte, spricht man heute vom "weiblichen Ödipus-Komplex". Auch gut. Die angebliche lesbische Liebe der Dichterin Sappho Bisher waren es mythologische Sagengestalten, die als Namensgeber für medizinische Fachbegriffe herhalten mussten. Doch es trifft auch Ortsnamen (sprachwissenschaftlich wie erwähnt Toponyme genannt, vom Griechischen: topos = Ort und onoma = Name) wie "Merseburger Trias", Philadephia-Chromosom, Malta-Fieber u. a. Und es trifft einst lebende bedeutsame, bekannte oder auffällige Gestalten ihrer Zeit, und das nennt man dann Anthroponyme (vom Griechischen: anthropos = Mensch). Bei Letzteren findet sich als eines der früher bekanntesten, inzwischen weitgehend vergessenen Beispiele die wohl bedeutendste Lyrikerin der klassischen Antike: Sappho. Ihre gefühlvollen Götterhymnen und empfindungsreichen Hochzeitslieder (A. Karenberg) begeisterten schon die Leser und sogar Dichter-Kollegen (bzw. ansonsten Konkurrenten) ihrer Zeit. Man benannte sogar ein Versmaß nach ihr, nämlich die sapphische Strophe. Soweit so gut und vor allem ehrenvoll. Möglicherweise betätigte sich aber die Dichterin auch als eine Art adelige Erzieherin, als kunstsinnige Lehrerin, die ihren Schülerinnen (und Schülern, das bleibt unklar) eine poetische und musische Ausbildung angedeihen ließ. Dass es dabei auch zu erotischen oder gar sexuellen Beziehungen gekommen sein soll, wird aus manchen Stellen ihres literarischen Schaffens gleichsam herausgehört, bewiesen ist es nicht. Und wenn, dann gehörte im frühen Griechenland die homo-erotische Verbindung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen beiderlei und gleichen Geschlechts zum gängigen Bildungs-Fundament. Wer das nicht glaubt, soll sich ruhig kundig machen. Die Historie ist für so manche Überraschung gut, allerdings nur für diejenigen, die der Meinung sind, ihre eigene Zeit sei die wichtigste. Dass dabei die Insel Lesbos, der Wohn- und Tätigkeitsort der Sappho eine besondere Rolle gespielt haben könnte, ist nicht von der Hand zu weisen; so existierte bereits in antiken Zeiten das Verbum "lesbiazein" im Sinne von "sich wie die Frauen von Lesbos verhalten". Und das müssen vor allem sinnlich-erotische Kontakte gewesen sein. Später war Lesbos diesbezüglich kein Thema mehr, und "lesbisch" waren die dortigen Städte, der dortige Wein, die dortigen Bürger, also ein ganz normales Adjektiv: zur Insel Lesbos gehörig. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam die Wendung "Amor lesbicus" auf (natürlich wieder einmal von dem in dieser Hinsicht wegweisenden, weil auch wortschöpferisch sehr rührigen Sexualwissenschaftler R. von Krafft-Ebing, 1886). Immerhin tat er damit etwas, was er bei seinen "terminologischen Namens-Opfern" Sacher-Masoch und de Sade nicht vermied, obgleich der entrüstete Sacher-Masoch noch lebte, nämlich die "nomenklatorische Hinrichtung" eines Schriftstellers durch den Missbrauch seines Namens für eine Perversion im damaligen Sinne. Oder kurz: Der früher immer wieder aufscheinende (Verdachts-)Begriff "Sapphismus" oder "sapphische Liebe" als Bezeichnung für die weibliche Homosexualität - anfangs im ärztlichen und später überwiegend im allgemeinen Sprachgebrauch - verschob sich auf den Wohnort. Heute ist es Geschichte, ob sapphische oder lesbische Liebe, poetisch, medizinisch-historisch, psychologisch, sexuologisch oder psychiatrisch, die Zeit geht darüber hinweg - begrifflich und inhaltlich. Diogenes-Syndrom als spezifisches Vermüllungs-Syndrom? "Es gibt sorglose, undisziplinierte oder schlampige Mitbürger, bei denen es entsprechend aussieht. Dann gibt es aber auch Menschen, die offenbar seelische Probleme haben, jedenfalls keine Ordnung halten können und sogar verwahrlosen. Und schließlich hört man immer häufiger von unfassbarem Chaos in Wohnungen, Häusern oder Gärten, in denen sich Kartons, Bücher, Zeitschriften, Geschirr, Kleider, Konservenbüchsen, Wäsche, Möbel, zuletzt reiner Müll stapelt, so dass fast kein Durchkommen mehr ist, dass sich Gestank und Ungeziefer verbreiten und die Nachbarn die Behörden alarmieren müssen. In Extremfällen werden sogar verweste oder mumifizierte Tier- und Menschenleichen gefunden. Alles ist ratlos bis entsetzt und es kreist der bekannte Satz: Wie konnte es soweit kommen?" Wer diese Serie kennt, hat diese Einleitung vielleicht schon einmal gelesen. Sie entstammt dem Kapitel "Vermüllungs-Syndrom" (moderner als "Messie-Syndrom" bezeichnet). Es gibt aber für dieses Müll-Horten oder Unrat-Sammeln auch einen historischen Begriff, nämlich das Diogenes-Syndrom. Das ist die einprägsame Benennung für Selbstvernachlässigungs-Neigung im höheren(!) Lebensalter. Einzelheiten siehe die ausführliche Beschreibung dieses Phänomens in dem erwähnten Beitrag dieser Serie. Tatsächlich bieten Leben und Werk des griechischen Denkers aus dem 4. Jahrhundert einige Anknüpfungspunkte, mehr oder weniger historisch belegt. Auf jeden Fall führte Diogenes aus Sinope der Legende nach im pulsierenden Athen seiner Zeit ein Leben von äußerster Anspruchslosigkeit. Geschlafen haben soll er in der berühmten Tonne, gegessen nur das Allernotwendigste, keine Partnerschaft, das ganze Jahr über die gleichen Kleidungsstücke. So weit, so gerade noch tragbar; doch befriedigte er auch alle menschlichen Bedürfnisse gleichsam vor den Augen seiner peinlich berührten Mitbürger, was ihm auch den Vorwurf der Schamlosigkeit bzw. den Spitznamen "der Hund" einbrachte. Zumindest zur damaligen Zeit aber war es offenbar auch möglich, am Ende des gesellschaftlichen Spektrums durch eben diese "hunde-ähnliche Lebensart" eine neue Denkrichtung, ja Philosophie ins Leben zu rufen. Jedenfalls beziehen sich auf diesen Hunde-Vergleich (griech.: kyon) später die "Kyniker" oder "Zyniker". Dass sie allen Konventionen den Kampf ansagten, wäre ja noch tragbar gewesen. Doch es war ihr zersetzender Spott, ihr Zynismus, der sie besonders unbeliebt machte (nebenbei als zynische Wesensart bis heute). Diogenes selber, der "Urvater" dieser Denk- und Lebensrichtung muss aber schon zur damaligen Zeit eine Berühmtheit gewesen sein, die sogar den mächtigsten Herrscher seiner Epoche, nämlich Alexander den Großen vor den Kopf stoßen durfte. Wir alle kennen den Dialog: Ganz Athen beglückwünschte den (eigentlich ungeliebten) Makedonier mit seinen politischen und militärischen Erfolgen, nur Diogenes blieb in seiner Tonne. Also bequemte sich der Feldherr zu ihm und fragte ihn, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könne. Und die berühmte Antwort: "Geh mir ein bisschen aus der Sonne...". Alexander war übrigens nicht ungehalten, sondern bemerkte nachdenklich: "Wenn ich nicht Alexander wäre, möchte ich wohl Diogenes sein". Was den Begriff Diogenes-Syndrom in Bezug auf das Vermüllungs- oder Messie-Syndrom anbelangt, so konnte er sich zwar lange halten, war er doch auch irgendwie originell, aber zutreffend war er nicht. Heute spielt diese Wortschöpfung keine Rolle mehr, höchstens noch als "amüsierende Version in intellektuellen Kreisen". Das Vermüllungs- oder Messie-Syndrom hingegen nimmt zu. Und das ist nun eine durchaus ernste Entwicklung mit psychologischen bzw. psychopathologischen Ursachen und nachhaltigen Konsequenzen, die nicht nur die Betroffenen, sondern auch ihre Angehörigen und das weitere Umfeld belasten. Von Sodom und Gomorrha bis zur Sodomie Wenn man heute von Zoophilie spricht, dann stößt man in der Regel auf interessierte Hilflosigkeit: was ist das? Wenn man nachschiebt: das ist Sodomie, dann wissen zumindest die Aufgeklärten Bescheid - aber eigentlich auch nicht so recht. Ja was nun? Die griechisch-römische Welt der Götter und Heroen ist schon kompliziert genug, was die wissenschaftliche Namensbildung anbelangt. Noch schwieriger, konkret: noch heikler wird es bei Geschichten und Gestalten aus der Heiligen Schrift. Denn das eine war der risikolose Stoff für hübsche Anekdoten, während die Verwendung biblischer Figuren in Gefahr gerät, Heiliges zu entweihen. Dem kann man am ehesten noch dadurch entgegen, dass man verwerfliche Gestalten heranzieht, oder ganze Städte, die offenbar moralisch verkommen gewesen sein sollen (der umständliche Stil spricht Bände). Das beste Beispiel dafür ist "Sodom und Gomorrha". Das kennen die meisten und wissen was es heißt: Lasterhaftigkeit, wenn nicht gar kriminell grenzwertige Ausschweifungen, vielleicht sogar Verbrechen. Im harmlosesten Falle: "Hier riecht es nach Unrat - moralisch gesprochen". Um das Problem des "biblischen Respekts" zu lösen, wird der Stammvater der Israeliten, Abraham und seine Familie, zum Opfer, nicht zum namens-gebenden Täter. Ihr Besuch in der verruchten Stadt Sodom und ihrer nicht minder berüchtigten Nachbarstadt Gomorrha hat in der Tat befremdliche Konsequenzen, man bedroht sie mit sexueller Gewaltanwendung. Das Ganze geht gerade noch gut aus, aber Gott hat genug. Es gibt nicht einmal die bekannte Mindestzahl an guten Menschen, um die vorgesehene Vernichtung abzuwenden. Das Strafgericht in Form von Schwefel und Feuer ist entsetzlich, eine offenbar nachweisbare Naturkatastrophe (auch für Lots Frau, die trotz Verbots auf die Katastrophe zurückblickt und zur Salzsäure erstarrt). Welche "himmelsschreiende Sünden" die Einwohner begangen haben, lässt das Alte Testament eigentlich im Dunkeln. Wahrscheinlich sind es heterosexuelle und vor allem homosexuelle Ausschweifung, von Tieren war jedenfalls damals noch nicht die Rede. Immerhin diente der Städtename "Sodom" über viele Jahrhunderte hinweg als Synonym für widernatürlich empfundene Variationen: heterosexuell, homosexuell, Mensch-Tier-Beziehungen. Beispiele: "Peccatum Sodomiticum" oder später die "Sünde von Sodom" im Sinne von männlicher Homoerotik. Später in der französischen und englischen Fassung und schließlich Deutsch auch als "artfremde Paarung" (5. Mose: "Verflucht, wer sich mit irgend einem Tier hinlegt"). Wie aus dem entsprechenden Beitrag über die Zoophilie (der heutige Begriff für den sexuellen Mensch-Tier-Kontakt) hervorgeht, führte die Sodomie insbesondere während der Zeit der Hexenverfolgungen meist in den (Verbrennungs-)Tod - und zwar nicht selten sowohl für Mensch als auch Tier (nachzulesen in manchen städtischen Archiven). Im Gegensatz zu dem wissenschaftlich bevorzugten Begriff "Zoophilie", der sich offenbar nur mühsam durchzusetzen vermag, bleibt die Sodomie nach wie vor im Verständnis der Mehrheit bis heute der sexuelle Mensch-Tier-Kontakt. Vom Lügenbaron Münchhausen und Goethes suizidalem Werther Neben Bibel und Antike gibt es noch zwei literarische Figuren, die es inzwischen als medizinische Fachbegriffe zu einer übrigens wachsenden Berühmtheit gebracht haben. Der eine aus Fleisch und Blut, der andere das literarische Produkt einer in dieser Phase selbst bekümmerten (oder gar suizidal bedrohten?) Dichter-Seele. - Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen lebte in der Tat kein langweiliges Leben und war später auch ein begehrter Causeur (unterhaltsamer Plauderer). Da er zwar einige reale, aber auch immer mehr erfundene Abenteuer-Geschichten zum Besten gab, wurde er bald berühmt und von fremder Seite systematisch ergänzt, die Lügendichtung oder "Münchhausiade" war geboren. Das kursierte - sonderbarerweise, aber bei Kenntnis der dortigen Wesensart auch wieder nicht übermäßig erstaunend - vor allem in England. Und wurde - wie so oft - ins Deutsche zurückübersetzt und von Fassung zu Fassung immer bunter. Zuletzt auch in zahlreichen Über- und Neubearbeitungen, in Roman-, Drama- und Film-Form, kurz: ein Renner, der Münchhausen selber einerseits erstaunt, andererseits sicher erfreut hätte. Ob das allerdings bei der medizinischen Verwendung seines Namens ebenfalls der Fall gewesen wäre, bleibt dahingestellt. Denn das Münchhausen-Syndrom, seit mehr als einem halben Jahrhundert in terminologischer Verwendung, ist eine schwerwiegende seelische Erkrankung. Für die Experten ist Münchhausen allerdings nur eine Unterform für eine Vielzahl von Begriffen, die allerdings alle das Gleiche (Unfassbare) schildern: vorgetäuschte Gesundheitsstörungen, selbstzugefügte oder selbstmanipulierte Krankheit, selbstschädigendes Verhalten, Artefakt-Krankheit, krankhafte Selbstbeschädigung, gesundheitliche Täuschungsversuche sowie Krankenhauswandern und die Krankenrolle als Lebensinhalt. Die beiden letzten Begriffe sind entscheidend und wer sich für das traurige Phänomen interessiert (das sogar die Kinder von "Münchhausen-Patientinnen" heimsuchen kann), sei auf das entsprechende Kapitel über Vorgetäuschte Gesundheitsstörungen in dieser Serie verwiesen. - Dass eine rein literarische Gestalt nicht nur zum "stehenden Begriff", sondern sogar zum verhängnisvollen Nachahmungs-Sog werden kann, beweist der "Werther effect", der, 200 Jahre nach Erscheinen des Briefromans von Johann Wolfgang von Goethe von einem US-amerikanischen Soziologen zur Diskussion gestellt wurde. Der traurige Inhalt geht aus einer Reihe von Synonymen hervor, wie sie in der Wissenschaft kursieren: Werther-Effekt, Werther-Fieber, medien-induzierte Selbsttötung, Nachahmungs-Suizid, Suizid-Epidemie, suizidaler Imitations-Effekt, Suizid-Induktion, medial vermittelter Suizid u. a. Heute ist dies ein Phänomen, das zwar selten sein soll, von alten Psychiatern mit jahrzehntelanger Erfahrung aber auch nicht in Abrede gestellt werden kann. Und das war schon zu Zeiten der Drucklegung des erstmalig anonym erschienenen, später mit Autoren-Namen versehenen Romans der Fall. Vielleicht war es nicht ganz so folgenschwer, wie man das heute darzustellen versucht - zahlenmäßig. Im Einzelfall aber handelt es sich hier um eine durchaus tragische Entwicklung. Das sah Goethe, der sich mit dem Werther quasi von eigenen Kümmernissen selbst-therapeutisch gleichsam frei-geschrieben hatte, ähnlich, wie er später in "Dichtung und Wahrheit" zugab: "Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt. (...) Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verhandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen; und was hier am Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum." Das sahen die damaligen Behörden, und zwar europaweit, übrigens ähnlich und setzten den "Werther" sogar auf ihren Index, d. h. verboten das Buch. Das hat aber nicht viel geholfen und explodierte am Schluss nicht nur in Werther-Nachdichtungen, -Parodien, -Pamphleten, -Kultfiguren, ja -Festen und -Feuerwerken, sondern sogar in einer eigenen Werther-Mode und Ende des 18. Jahrhunderts in einer regelrechten "Werther-Manie". Goethe hatte schon Recht: "groß, ja ungeheuer". Heute liest natürlich kein junger Mensch mehr Klassiker, also auch nicht den "Werther" - möchte man meinen. Aber das täuscht: Man kann, ja man muss im Einzelfall geradezu tragisch-groteske Züge mit erschütterndem Abschluss registrieren, bemerken die erwähnten alten Psychiater mit langer Berufserfahrung ("...und wurde mit dem Kopf auf dem "Werther" liegend aufgefunden, zu spät"). Dass hier (bestimmte) Medien als neue Form des "Literatur-Konsums" eine unheilvolle Rolle spielen (können), geht aus dem entsprechenden Beitrag in dieser Serie über "Selbstmord (Suizid) als Nachahmungstat" hervor. Adelige auf Abwegen? Denn Wort-Schöpfer kennt heute niemand mehr, seine terminologischen Opfer hingegen sind in aller Munde. Was ist gemeint? Zum einen Richard Freiherr von Krafft-Ebing (schon einmal gehört?), zum anderen Donatien-Alphonse-François de Sade (Sadismus) und Leopold Ritter von Sacher-Masoch (Masochismus). Krafft-Ebing war im 19. Jahrhundert ein bekannter Psychiater und Gerichtsmediziner, anfänglich Anstaltspsychiater in Illnau im Badischen, später Professor in Straßburg, Graz und Wien. Er förderte die Psychopathologie (psychiatrische Krankheitslehre) und Forensische Psychiatrie (die sich rechtskräftig verurteilten psychisch Kranken annimmt), wurde in Fachkreisen durch sein "Lehrbuch der Psychiatrie" (Stuttgart, 1869) und in der Allgemeinheit durch seine in zahlreichen Auflagen erschienene "Psychopathia sexualis" bekannt (Stuttgart, im Enke-Verlag bereits 1892 die 7., 1918 die 15. Auflage). Dort bot er nicht nur eine immense Fülle von Beobachtungen aus der Sexualpathologie an, sondern führte auch neue Begriffe ein bzw. brachte bestehende erst richtig in Umlauf. Kleinlich war er dabei nicht, was bei Verstorbenen vielleicht nicht so folgenschwer (de Sade), bei noch lebenden hingegen ein ordentliche Zumutung gewesen sein dürfte (Sacher-Masoch). Ganz "unschuldig" sind aber beide nicht zu dieser "Ehre" gekommen, auch wenn man de Sade nicht als eigentlichen Sadisten und Sacher-Masoch nicht als Masochisten bezeichnen kann. Entsprechende Neigungen waren allerdings nicht zu übersehen und wären auch gar nicht so publik geworden (Sadismus und Masochismus waren gerade zur damaligen Zeit durchaus en vogue, wenngleich meist gut getarnt und wohl auch erst einmal so richtig (wieder) in Mode kommend), wären sie nicht beide überaus schreibfreudig und PR-bewusst gewesen. - Einzelheiten zu Marquis de Sade bitten wir dem ausführlichen Kapitel in dieser Serie zu entnehmen. Dort wird auch klar, was A. Karenberg in seinem Buch zitierend anklingen lässt: In seinem umfassenden literarischen Werk "schuf der adelige Autor auf mehreren hundert Seiten voll ermüdender Wiederholungen eine Darstellungsform sexueller Grausamkeiten bis hin zu Folter und Lustmord, deren Realismus und Radikalität gleichwohl für die Epoche etwas Neues darstellten. Traditionelle Normen wurden ins Gegenteil verkehrt. Unter seinem Motto "Das Laster ist die wahre Tugend" entwickelte und lebte de Sade einen konsequenten Amoralismus, der Zeitgenossen und Nachwelt beeindruckte. Gerade das mechanistische Moment der Beschreibung und die Monotonie der Textorgien aber lassen Kulturtheoretiker heute im Marquis eher einen entschlossenen Sexualisierer des Schreibens als einen Revolutionär im Reich des Erotischen sehen" (J.-F. Ribon, 1974). Was auch immer de Sade gelebt (umstritten) und geschrieben (bewiesen) hat, er musste es bitter büßen. Seine Lebensgeschichte ist fast einmalig; es lohnt sich, sie zu studieren. Und dann kommt man auch wohl zu der Schlussfolgerung: Über die Verwertung oder den Missbrauch seines Namens in Sachen Sadismus würde er sich wahrscheinlich köstlich amüsieren, das passt zu seinem Lebensstil. Dies übrigens im Gegensatz zu - L. Sacher-Masoch: Er wurde rund 100 Jahre später wie de Sade geboren und bekam deshalb mit, was Krafft-Ebing mit ihm nomenklatorisch anstellte. Ganz unschuldig geriet er aber nicht in diesen zweifelhaften Ruf. Krafft-Ebing fehlte es aber wohl schon an Feinfühligkeit (wobei Spötter zu bemerken pflegen, dass man "ausgerechnet von einem Psychiater nicht unbedingt Feinfühligkeit erwarten sollte..."). Vielleicht - so andere - war es auch die späte Korrektur (Rache wäre wohl zu primitiv) des gleichen Universitäts-Angehörigen (Graz). Auch hier wollen Fakultäts-Mitglieder zumindest eine theoretische Verbindung nicht ausgeschlossen wissen, auch wenn die aktiven Hochschul-Zeiten der beiden nicht zusammenfielen, vielleicht aber doch ein kleines "Nachkarten"... (s. u.). Wie sieht es A. Karenberg in seinen Ausführungen? Bei seiner personen-bezogenen Wortschöpfung für die "Verbindung passiv erduldeter Grausamkeit und Gewalttätigkeit mit Wolllust" leitete Krafft-Ebing die Legitimität zunächst aus der rückwirkenden Pathologisierung ("Krankmachung") der Literatur ab, so wie sie vor allem Sacher-Masoch aus seiner Sicht repräsentiert hatte. Auch war wieder einmal (in diesem Fall die Literatur-)Kunst der Wissenschaft vorausgeeilt, um etwas darzustellen, was die damals noch junge Sexualpathologie noch gar nicht auf den Begriff gebracht hat. Also musste sich der Mediziner nur beim Dichter kundig machen und mit derartigem Rüstzeug versehen erklärte er anschließend Letzteren zum Perversen: "denn er war, so lange und so weit er sich nicht auf dem Boden seiner Perversion bewegte, ein sehr begabter Schriftsteller und hätte gewiss Bedeutendes geleistet, wenn er ein sexuell fühlender Mensch gewesen wäre" (Krafft-Ebing, 1918). Diese "moralische Hinrichtung" wurde aber nicht von jedermann geteilt, vor allem nicht von den Franzosen, die Sacher-Masoch's Bücher feierten und ihm sogar den Orden der Ehrenlegion verliehen. Aber eben nur die Franzosen (vielleicht im Rückblick auf ihren Landsmann de Sade, den die damaligen Behörden ja den größeren Teil seines Lebens ins Gefängnis oder in die Irrenanstalt steckten...). Sacher-Masoch hatte aber ohnehin eine ungewöhnliche Karriere (siehe auch die Pathographie über den Marquis de Sade (Sadismus) in dieser Serie mit einem Sonder-Kapitel über Sacher-Masoch). Er stammte aus Galizien (früher ein Teil von Österreich-Ungarn, heute Ukraine), er erlebte blutige Revolutionen (er war der Sohn eines leitenden Polizeibeamten!) und widmete sich zuerst der akademischen Laufbahn, d. h. Promotion und Habilitation für das Lehramt für Geschichte an der Universität Graz (s. o.). Auch wenn er das akademisch Leben in der nachbiedermeierlichen Zeit wohl zu monoton und auch zu intrigant empfand, schaffte er noch den Sprung zum Professor für Geschichte an der Universität Lemberg - dann aber hatte er offenbar genug. Denn er war schriftstellerisch ungeheuer produktiv, jedoch mit einem akademischen Pferdefuß: An seinen Werken hatten seine nicht-akademischen Leser mehr Freude als die (deutschsprachigen) Fachkollegen, für die er nicht "ernsthaft" genug schrieb (nämlich als Wissenschaftler in einer in Fachkreisen eher historisch-romanhaften Form abgetan). So quittierte er den Hochschuldienst und wurde zum Schriftsteller und Redakteur in Budapest, Leipzig, Paris, Mannheim, Venedig u. a. Sein erstaunliches uvre umfasst Erzählungen, Novellen, Feuilletons, Theaterstücke und historische Betrachtungen. Vor allem aber Romane mit überaus klangvollen Titeln, die dann in ihrer Deutlichkeit aber schon nichts zu wünschen übrig ließen. Deshalb ließ sich nach Ansicht mancher Experten der drohende "Masochismus" (der Zweit-Name stammte von der Mutter) letztlich wohl gar nicht abwenden. Beispiele: "Die Hyäne der Puszta", "Die Zarin der Lust", "Der weibliche Sultan", "Die Messalinen Wiens" und vor allem der berühmteste Roman, auch heute noch dem einen oder anderen ein Begriff: "Venus im Pelz". Das Ganze blühte allerdings auch auf dem Boden einer damals in der Tat "sadomasochistisch" gefärbten Subkultur (in Kontaktanzeigen wurde sogar sein Name als Erkennungssignal für derartige Praktiken benützt). Wie ging es weiter? Nicht so gut, zumal für einen ehemaligen Literatur-Professor. Seine Feder verdorrte und begann sich zu wiederholen, die Zeit ging über ihn hinweg, sein Ruhm verblasste, die literarischen Kritiken und sogar die Attacken häuften sich. Sacher-Masoch geriet nicht nur belletristisch, sondern auch gesellschaftlich in Bedrängnis, zumal er - und das scheint nun doch bewiesen - seine literarischen Vorstellungen auch in seinem Lebensstil unterzubringen suchte: "Schmerzlos bis hin zur Todessehnsucht und Selbstaufgabe als unentbehrliche Kennzeichen seiner erotischen Beziehungen, die er in zwei turbulenten Ehen und wechselnden Affären mit Schauspielerinnen und adeligen Damen auslebte. Glaubt man den Beschreibungen, soll er die Züchtigung durch seine Frau nicht nur als Liebes-, sondern auch als Schreibstimulans benötigt haben" (S.J. Breiner, 1994). Zuletzt starb er - wie der Marquis de Sade - verbittert, krank und verlassen in einem Irrenhaus. Im Gegensatz zu de Sade aber hat sich ihm die literarische Wissenschaft unserer Zeit bisher nur zögerlich genähert (z. B. die durchaus positive Kurzinformation im Literaturlexikon von Harenberg, 2001). Geblieben ist sein Name im Sadomasochismus, so dass er sich - hätte er die Möglichkeit eines Rückblicks - über diesen partiellen Nachruhm vielleicht doch nicht mehr so erregen würde. Wie sagen seine Spötter: "Wer so auf Ruhm und Anerkennung aus war, muss sich mit dem zufrieden geben, was die Nachwelt daraus macht". Es ist aber nicht auszuschließen, dass für de Sade und Sacher-Masoch in unserer für jede Überraschung bereiten Zeit und Gesellschaft eines Tages vielleicht doch noch die literarische Anerkennung blüht, und nicht nur Sadismus oder Masochismus oder gar beides zusammen. Woher - Warum - Wie lange noch? In seinem medizingeschichtlich fundierten, dabei kurzweilig und unterhaltsam geschriebenen Buch geht Professor Dr. Axel Karenberg noch auf einige Grundfragen seines Themas ein. Im Einzelnen: - Die zeitlichen Wurzeln der medizinischen Mythologie sind teils nicht mehr festlegbar, nicht einmal im Bereich von Jahrhunderten, teils doch erstaunlich exakt einzugrenzen. Die ältesten Fachbegriffe sind "Satyriasis" und "Priapismus". In der Renaissance kommen einige geläufige Bezeichnungen hinzu, doch erst nach 1700 nutzt man griechische und römische Gottheiten verstärkt, um mit einem einzigen Wort ein ggf. kompliziertes Leiden auszudrücken (s. u.). Höhepunkt dieser begriffsschöpferischen Mode sind das 19. und frühe 20. Jahrhundert, also auch die Zeit des explosionsartig wachsenden medizinischen Wissens generell. Es wuchs eben auch der Bedarf. Mitte des 20. Jahrhunderts gab es dann noch einige zaghafte Versuche - aber letztlich umsonst. Die Zeit dafür war offenbar vorbei, was sich auch im Schwund bisher leidlich etablierter Begriffe ausdrückte. Ob sich Neues anbietet, teils aus aktuellem Geschehen oder wieder zurück zu Antike und Bibel, wird sich zeigen. Immerhin sind die gängigsten Vorbilder nicht 2.000 Jahre alt, sondern erst 200. Es darf also noch gehofft werden. A. Karenberg schlüsselte die Herkunft heute noch aktiver Namenspatrone auf und fand eine 27 Köpfe starke Kerngruppe aus dem griechischen Sagenkreis, der römischen Götterwelt und des altägyptischen Pantheon - mit einem übrigens ansehnlichen Anteil weiblicher Vorbilder. Fügt man noch die biblischen Archetypen, Heiligen und Hauptdarsteller aus der neueren Literatur hinzu, kommt man auf rund 40 begriffs-prägende Gestalten. Das hört sich eindrucksvoll an, ist aber sozusagen ein Nichts, gemessen an den rund 80.000 Einträgen, die ein medizinisches Wörterbuch enthält. Oder in Prozent bzw. Promille: nur 0,05% poetische Ahnen oder eine von 2.000 Bezeichnungen mit literarisch-mythologischem Ursprung. Das ist aber nur die nackte Zahl, zugegebenermaßen nicht sehr eindrucksvoll. Wie steht es jetzt aber mit der Gebräuchlichkeit? Da sieht es schon besser aus, besonders wenn man "Morphin", "Kaiserschnitt" (Sectio caesarea) oder "Achilles-Sehne" heranzieht, gleichsam die klinischen Alltäglichkeiten. Andere wiederum sind nur noch in bestimmten Fachgebieten oder medizin-historisch von Bedeutung (wir verzichten auf Beispiele). - Wer oder was und vor allem warum wurde es aber zur gängigen Begrifflichkeit? "Im Allgemeinen sind fast ausschließlich solche mythologischen Sinnbilder zu wissenschaftlichen Schlagworten geworden, die ausgeprägte Fälle einer Normabweichung verkörpern", fasst A. Karenberg seine Untersuchung zusammen. Und weiter: "Allein ihre Anomalie befähigte diese literarisch-künstlerischen Existenzen, hervorragende Etiketten für Erscheinungen aus einem Wissensbereich zu liefern, die sich per Definition mit körperlichen und seelischen Störungen befasst. Hinzu kommt, dass diese imaginierten Symptomträger ihre Auffälligkeiten und Schwächen in überaus eindrucksvoller Form offenbaren (...). Mit dieser Demonstration erfüllen sie das aus jedem Lehrbuch bekannte Bedürfnis, Besonderheiten mit maximaler Deutlichkeit zu veranschaulichen." Oder mit eigenen banalen Worten: Es sind vor allem historische Gestalten in charakteristischer Notsituation, die die besten Namens-Beispiele liefern (auch wenn es bei genauer Prüfung gar nicht so exakt zutrifft). So sind es insbesondere auffällig geformte Organe, ein regelwidrig gebildeter Körperabschnitt oder die Gesamtgestalt, manchmal auch ein normales oder pathologisches Gebilde oder Attribut, dass das mythische Musterexemplar am Körper trägt oder mit sich führt. Den größten begriffs-bildenden Bedarf hat demnach die Anatomie und Teratologie (die sich mit Missbildungen beschäftigt). Noch häufiger aber besteht Bedarf an hervorstechenden Charakterzügen bzw. außergewöhnlichen bis krankhaften Verhaltensdispositionen. So bezeichnet etwa die Hälfte aller Ausdrücke psychologische oder psychopathologische Erscheinungen (des krankhaften Seelenlebens). Fast ebenso häufig sind es Phänomene, die im weitesten Sinne das Geschlechtsleben betreffen (oft auch noch vermischt mit einem grenzwertigen Seelenzustand). Der Rest bietet eine "bunte Mischung ohne erkennbaren Schwerpunkt". Wenn man das Ganze medizinischen Disziplinen zuordnet, dann dominieren Psychiatrie und Sexualwissenschaft, gefolgt von Pharmakologie und Toxikologie, innerer Medizin und Mikrobiologie. Doch die medizinische Fachsprache will nicht nur einprägsame Ähnlichkeiten kraftvoll veranschaulichen, sie will - vor allem dort, wo es sich um ein etwas peinlicheres Geschehen handelt -, auch einmal durch einen gleichsam mildtätigen Vergleich verhüllen. Beispiel: Syphilis klingt moderater als "Geschlechtskrankheit" oder gar "Lustseuche". Oder "Münchhausen-Syndrom" weckt heitere Erinnerungen an die Jugend-Lektüre, auch wenn es sich als Krankheitsbild um eine gnadenlose Selbstschädigung handelt, die sogar das eigene Kind mit einschließen kann. Allerdings hat das Ganze und damit vor allem die frühere "Begriffs-Gründer-Epoche" ihre Grenzen. Denn die moderne Wissenschaft will und muss exakt sein, auch in ihrer Terminologie. Vermutlich deshalb - so A. Karenberg - sind mythologische und auch spätere Kunstfiguren nicht zahlreicher in die Medizinsprache eingegangen, schon gar nicht heute, wo sich alles wissenschaftlich drei Stellen hinter dem Komma abspielt und eine klassische Vorbildung schon in der Schule nicht mehr gefragt ist. Dass aber der Ödipus-Komplex und der Sado-Masochismus noch immer so "fröhliche Urständ" feiern, liegt einerseits am faszinierenden Thema und andererseits daran, dass sich nur noch wenige unter den Namensgebern etwas vorstellen können. - Dabei könnte auch eine weitere Frage geklärt sein: Warum schafften die einen Begriffe den Durchbruch, andere wiederum nicht, sanken ins Dunkel ihres Ursprungs zurück? Waren sie glücklicher gewählt, hatten einen angenehmeren Klang, passten sie besser in ihre Zeit, war ihr Autor ein glänzender Selbstdarsteller - oder was? Auf einen vielleicht schlichten, aber wohl essentiellen Grund weist A. Karenberg hin, nämlich die pragmatische Kürze, die sich aus einem einzigen Wort oder höchstens zwei Worten ergibt. Davon war schon einleitend die Rede und es wird natürlich nicht nur beim Ödipus- und Werther-Komplex, bei Sadismus, Masochismus, Priapismus, Lesbiertum u. a. deutlich, alles Krankheitsbilder, mit denen man ja ganze Bücher füllen - oder sich mit einem einzigen Wort zufrieden geben kann, sofern man nur ausreichend darüber informiert ist. Noch deutlicher wird es ja beim "Atlas" (prima cervicis vertebra = der erste Halswirbel) oder gar beim "Cherubismus" (= familiär bedingte multilokuläre zystische Erkrankung der Kiefer). Also hier ist der kurze Fachbegriff schon hilfreich (wobei es natürlich nicht nur Wörter aus dem griechisch-römischen bzw. jüdisch-christlichen Kulturkreis sein müssen). Hilfreich übrigens auch bei grammatischen Kompositions-Möglichkeiten (caput medusae = Medusenhaupt) oder die zusammengesetzten Begriffe wie Nymphomanie, Aphrodisiaka, Venerologie u. a. Zuletzt auch die beschreibende Vielgestaltigkeit mit einem einzigen mythologischen Begriff oder in Anspielung auf eine Sagenfigur. Beispiel: "Atlas" nicht nur als Vorgang des Tragens (wie erwähnt, der ersten Halswirbel), sondern auch die relative Schwere der Last. Oder narzisstisch nicht nur Selbstliebe und Beziehungsunfähigkeit, sondern auch das darin enthaltene zwischenmenschliche Risiko. Dabei - so A. Karenberg - sind vor allem die historischen Wortschöpfungen dann doch dehnbar genug, um ggf. auch noch später etwas hinein zu interpretieren. - Schließlich noch eine Erklärung für die Dauerhaftigkeit alter Begriffe, die schon etwas für sich hat, besonders in unserer schnelllebigen Zeit. A. Karenberg nennt es "Helden ohne Pass", heute als "Global Players" bezeichnet. Die lateinisch geprägte Wissenskultur der letzten 700 Jahre ermöglichte auch "lupenreine Internationalismen", da gab es keine Konkurrenz, da wusste jeder, was gemeint war. Da drohten auch keine nationalen Prioritäten-Streitigkeiten (nehmen wir einen englischen, französischen, italienischen oder deutschen Forscher bzw. seinen Namen?). Deshalb hält sich die Zahl englischer Namen trotz der dominanten Amerikanisierung in diesem Punkt in Grenzen - bisher. Und vielleicht bleibt das so, denn ein Experte (abschätzig: "Fach-Idiot") ist sicher nützlich für sein Spezialgebiet, macht aber generell wenig Eindruck, auch heute noch, wenn da nicht ein wenig Allgemeinbildung durchschimmert. Und von dieser Einstellung gibt es immer noch einige Reste und die speisen sich dann durchaus auch einmal aus antiker Literatur und Kunst. Das hat sich zwar in den letzten Jahren in der Ärzteschaft etwas verflüchtigt, scheint aber wieder an Bedeutung zu gewinnen (Spezialisierung + Bürokratisierung = Nivellierung, also rechtzeitig etwas dagegen tun...). - Und zuletzt: Wissenschaftliche Aufklärung und sprachliche Verklärung scheinen bisweilen eng miteinander verknüpft zu sein, erklärte A. Karenberg: Eine Entzauberung durch die Forschung ging jedenfalls früher nicht selten Hand in Hand mit einer Verzauberung durch Wortschöpfung. Damit wurden die klassischen Sagen über viele Jahrhunderte hinweg eine nahezu unerschöpfliche Begriffsquelle für die Medizinsprache. Allerdings nur deshalb, weil sie der gesamten (generell gebildeten - s. o.) Fachwelt auch bekannt waren und mit bestimmten Erscheinungen problemlos in Verbindung gebracht werden konnten. Ein sinnvoller Ausbau der mythologischen Namensgebung würde also für die Zukunft voraussetzen, dass sich die angehenden Ärztinnen und Ärzte wieder etwas mehr mit den Sagen des klassischen Altertums vertraut machen. Ist das zu erwarten? Schlussfolgerung Dazu zum Abschluss noch einmal A. Karenberg - eher pessimistisch gestimmt: "Vermutlich stirbt in nicht allzu ferner Zukunft ein mehr oder weniger großer Teil des jetzigen Bestandes aus, da diese Begrifflichkeiten bei fehlender klassischer Bildung ihres semantischen Kerns beraubt und als vermeintlich inhaltsleerer Ballast aus dem Wortschatz entfernt werden. Einzelne Ausdrücke (...) werden in funktionalen Nischen der Fachsprache die Zeiten überdauern, sofern sie zum international akzeptieren Kernbereich der Terminologie gehören und nicht angemessen zu ersetzen sind. Allerdings wird man sich möglicherweise an die Herkunft (...) bald nicht mehr erinnern. Ähnlich wird es den biblischen Ausdrücken ergehen. (...) Derzeit drücken Akronyme, Anglizismen und Amerikanismen der medizinischen Fachsprache ihren Stempel auf. "So bestehen - nach A. Karenberg - "begründete Zweifel, ob die Gestalten des Altertums noch lange ein Teil der kulturellen Tradition sein werden, die im Wortschatz der Heilkunde gespeichert sind und über sie vermittelt werden. (...) Innerhalb der Medizin zumindest scheint das Interesse an den Grenzgängern zwischen der Welt der Poesie und der Welt der Wissenschaft zu erlöschen (...). Jenen Zauber, der einst von ihnen ausging, haben sie verloren." Der Pessimismus ist begründet. Wenn es nur um die bisherige medizinische Fachsprache ginge, könnte man vielleicht darüber hinwegsehen. Es trifft aber einen tieferen Kern mit ggf. folgenschweren Konsequenzen. So haben sich seit jeher die Kulturen abgelöst, ist die eine in die andere übergegangen und manchmal sogar die Nachfolgende in der Vorausgegangenen aufgegangen, sehr zu ihrem Vorteil. So muss es auch heute nicht anders verlaufen. Das wäre zu wünschen. Man muss nur immer wieder darauf hinweisen. Und zwar jede Disziplin für sich und dann auch für alle anderen. In der Medizin ist das Buch von A. Karenberg Amor, Äskulap & Co. ein empfehlenswertes Beispiel, wie man sich den Anforderungen der Zukunft stellt, ohne die Verbindung zur Vergangenheit zu verlieren. Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis endlich klar wird: Das eine wird ohne das andere auf Dauer nicht zu haben sein.
LITERATUR Karenberg, A.: Amor, Äskulap & Co. Klassische Mythologie in der Sprache der modernen Medizin. Schattauer-Verlag, Stuttgart-New York 2005 (dort auch ausführliches Literaturverzeichnis) |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |