Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln |
SUIZID-TERRORISMUS UND/ODER RELIGIÖSES MÄRTYRERTUMSelbstmord-Attentate und ihre Motive, Ursachen und Hintergründe
Fast täglich, zumindest aber wöchentlich lesen und hören wir von einem unfassbaren Terror-Anschlag und sehen anschließend die grauenhaften Bilder im Fernsehen. Gewiss: Zum einen gab es so etwas seit Menschengedenken und niemand weiß den Grund zu sagen, weshalb sich dies in unserer Zeit ändern soll. Die Menschen sind nicht menschlicher geworden, das behauptet ernsthaft wohl niemand. Da hilft weder Wunsch-Denken noch „zivilisierte Gesinnung“ noch politische Phrasen und persönliche Lippenbekenntnisse, das war so, das ist so, das bleibt so. Wer hier allzu hehre Vorstellungen von der Menschheit kultivieren sollte, muss sich – wie gesagt – fast täglich korrigieren lassen (und gerät in Gefahr, eine allzu blau-äugige bis naive Lebenseinstellung zu pflegen). Was einen aber immer wieder beschäftigt, ist die Frage: Was sind das für Menschen? Und im erweiterten Sinne: Was bewegt sie bzw. welches politische, religiöse oder sonstige System steht dahinter, um sie zu einem solchen Mord-Instrument machen zu können? Einzelheiten zu diesem wissenschaftlich durchaus vielfältig und aus allen Richtungen bearbeiteten Phänomen sind bekannt und können in einer wachsenden Zahl von Experten-Meinungen bzw. ihren Publikationen nachgelesen werden. Auch diese Serie bringt immer wieder Beiträge, die sich damit beschäftigen (z. B. Fanatismus, Gewaltverbrechen, Das Böse aus psychiatrischer Sicht u. a.). Eine detaillierte und gleichwohl alltags-bezogene (und damit hinreichend) allgemein-verständliche Darstellung bringt auch der Direktor der Klinik für Psychiatrie der Universität Graz, Professor Dr. Dr. Hans-Peter Kapfhammer in der Fachzeitschrift NeuroTransmitter 10/2008 unter dem Titel: Suizidterrorismus: Zwischen politstrategischem Kalkül und religiösem Märtyrertum. Nachfolgend eine kurzgefasste Übersicht: Ist der Mensch zu so etwas fähig? Terroristische Anschläge lassen niemand kalt, verwirren, ängstigen, führen zu Wut und Hass, je nach Betroffenheit (und übrigens auch Wesensart). Unfassbar, wer sich selber dabei tötet; eine Gemeinheit pur von niedrigstem Instinkt, wer sich einer Fern-Zündung bedient, denken die meisten. Am schwierigsten aber wird es, wenn die Täter gefasst oder zumindest bekannt sind, was Herkunft, Lebenslauf, Charakter, Ausbildung und Beruf, ja sogar Familienstand u. ä. anbelangt. Dann findet sich zum einen, was man sich ohnehin vorstellt: eine „Killer-Natur“. Aber auch Persönlichkeiten, denen man nie eine solche Tat zugetraut hätte. Deshalb sollten wir uns bewusst sein: „Es zeichnet vermutlich die menschliche Natur aus, unter ganz bestimmten Situations-Bedingungen selbst aus geringfügig erscheinenden Motiven heraus töten zu können“, so die einführenden Zeilen des Psychiaters H.-P. Kapfhammer. Denn „selbst in ihrem psychosozialen Werdegang sind ansonsten völlig unauffällige Personen in ihrer Autoritäts-Gläubigkeit erschreckend häufig bereit, in einem sogar experimentell von außen gesetzten Rahmen andere Mitmenschen grausam zu behandeln, obwohl sie in einer subjektiven Einschätzung ein solches Verhalten in ihrem privaten Leben als moralisch verwerflich weit von sich weisen würden“. Dafür gibt es wissenschaftliche Beweise, eines der bekanntesten ist das so genannte Milgram-Experiment 1974 (Einzelheiten dazu siehe der Beitrag „Das Böse aus psychiatrischer Sicht“ in dieser Serie). In offenen kriegerischen Auseinandersetzungen sind die Bedingungen ohnehin völlig anders (wobei es auch hier unterschiedliche Charaktere gibt, die beispielsweise Helden an der Front sind, nach Rückkehr im Zivilleben, aber mit unveränderter Einstellung plötzlich und unerwartet vor dem Richter stehen und oft nicht einmal fassen können, dass sie zu Hause mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, wo sie doch im Krieg…). Unter zivilen Bedingungen können wir uns hingegen überhaupt nicht vorstellen, was sich hier bisweilen abspielt. Gewiss ist der Alltag voller grenzwertiger Situationen, bis hin zu verachtenswerten oder unfassbaren Taten, bekannt oder unbekannt geblieben, angeklagt, verurteilt oder freigesprochen. Das Leben ist auch in unserer „zivilisierten“ Welt so, wie es ist (nämlich letztlich so wie vor tausenden von Jahren, obgleich für uns den „nackten Wilden“ so überlegen fühlen, dass wir an einen entsprechenden Vergleich keinen Gedanken verschwenden). So passiert praktisch jeden Tag etwas, dass uns ins Grübeln bringt. Und dann fahnden wir nach den wohl außergewöhnlichen Ursachen, die zumeist in „unserem zivilisierten und öffentlichen Selbstverständnis ungeheuerlich und mit eigenen persönlichen Werten und Normen völlig unvereinbar erscheinen“, so der Experte. Und weiter: „Nicht selten greifen wir dann auf Erklärungsmodelle zurück, in denen wir solche Taten als Ausdruck von Verrücktheit, krimineller Psychopathie (ein Krankheitsbild, das man heute Persönlichkeitsstörung nennt, weil es schon vom Begriff her diskriminiert), als psychotische Störung (Geisteskrankheit nach alter Lesart) oder Depression werten möchten. Doch diese Perspektive, dieser Erklärungsversuch ist in den meisten Fällen irreführend und wird dem vielschichtigen Sachverhalt nicht gerecht. Dies gilt sogar für den Suizid-Terrorismus. Was muss man beachten, einräumen, konzidieren, in sein Gesamturteil einfließen lassen? Der Suizid-Terrorismus historisch gesehen Die wissenschaftlichen Erkenntnisse um Selbst- und Fremd-Aggression bis hin zu Suizid bzw. Suizid-Terrorismus mit der gezielten Vernichtung unschuldiger Menschen (vom fremden Besitz einmal abgesehen, was noch hinzukommen kann und im Einzelfall durchaus ebenfalls existenz-vernichtend ist), diese Forschungs-Bemühungen haben in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht – greifen aber gerade beim Suizid-Terrorismus zu kurz. Was uns empört oder zumindest verwirrt ist vor allem die Entschlossenheit der Täter und ihr kalkulierter, selbst-gewollter Tod. Doch gerade in diesem Fall geht es um viel mehr, weshalb möglicherweise sogar der Begriff „Suizid-Terrorismus“ zu einseitig ist. Denn das, was uns suizidologisch begründet erscheint, ist in diesem Fall nur eine Dimension eines viel komplexeren Phänomens. Das wird schon aus der Geschichte deutlich. Der Suizid-Terrorismus hat frühe Wurzeln (und geht vermutlich noch weit über das hinaus, was uns überliefert und damit bekannt ist). Man denke nur an die jüdische Geschichte während der Besetzung Judäas durch die Römer, insbesondere was die Gruppierungen der Sicarii und der Zeloten anbelangt. Oder die christlichen Kreuzfahrer des 12. und 13. Jahrhunderts. Oder der islamische Orden der Assassinen im gleichen Zeitraum. Oder die russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts bis hin zu den japanischen Kamikaze-Fliegern während des II. Weltkriegs (Einzelheiten siehe die spezifische Literatur). Als modernes Phänomen taucht der Suizid-Terrorismus Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts auf, und hier vor allem im Nahen Osten, aber nicht nur dort. Auch auf Ceylon / Sri Lanka machen immer wieder die Tamil-Tigers von sich reden. Oder die Selbstmord-Anschläge in Beirut 1981 und 1983 durch die Hisbollah bzw. die zahlreichen Attacken durch die Hamas und die Palestinian Islamic Jihad (PIJ), die al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, die suizid-terroristischen Handlungen durch die PKK in der Türkei, durch die tschetschenischen Widerstandskämpfer in Russland, durch al Quaida inzwischen weltweit, durch den Anschlag vom 11. September 2001 in New York, das Attentat in Madrid 2004 und in London 2005, ganz zu schweigen von den fast nicht mehr überschaubaren Attacken in den Ländern des Nahen und Fernen Ostens und Nordafrikas, und zwar nicht nur gegen politische oder staatliche bzw. – noch am ehesten nachvollziehbar – militärische Einrichtungen, sondern häufig auch gegen touristische Zentren. Und das ist nicht nur eine begrenzte Aufzählung, denn es vergeht inzwischen wohl kein Tag ohne solche Anschläge, obgleich die Medien nur noch von den spektakulärsten Ereignissen berichten. Sie alle dokumentieren vor allem eines: Suizid-Terrorismus wird an vielen Orten auf der Welt und von sehr unterschiedlichen Gruppierungen und unter bestimmten historischen Bedingungen als eine strategische Waffe eingesetzt, so Professor H.-P. Kapfhammer. Nach einem Bericht des US-State-Department 2004 ist die Anzahl terroristischer Aktionen von 1986 mit 655 Anschlägen bis 2003 mit 190 Attacken zwar gesunken, die Zahl der suizid-terroristischen Anschläge hingegen im gleichen Zeitraum von 31 im Jahre 1980 auf 98 im Jahre 2003 gestiegen. Und das dürfte sich bis heute nicht geändert haben, im Gegenteil. Gesamthaft gesehen machen Selbstmord-Attentate zwar nur etwa 3% aller terroristischen Ereignisse aus. Doch sie verursachen fast die Hälfte aller Todesfälle. Und – wie erwähnt – es geht weiter. Die Eskalation scheint nicht mehr aufzuhalten. Denn in den Jahren 2004 und 2005 wurden inzwischen mehr suizid-terroristische Einsätze registriert als in der Zeitspanne von 1980 bis 2003 insgesamt. Dies hat auch zu einem wissenschaftlichen Schub geführt, die Zahl der Publikationen dazu ist nicht mehr überschaubar, selbst wenn man sich auf eine kursorische Darstellung beschränkt. Denn ein wesentliches Charakteristikum des Problems lautet: Die Eigendynamik des Suizid-Terrorismus hat sich innerhalb weniger Jahre unter den sich ständig wandelnden militärischen, politischen, sozio-kulturellen und globalen Bedingungen dramatisch verändert. Oder kurz: was früher galt, reicht nicht mehr zur Erklärung aus. Was aber ist nun der Suizid-Terrorismus heute? Suizid-Terrorismus heute Aus der Vielfalt der Experten-Meinungen und entsprechenden Veröffentlichungen stach vor allem das Buch von Robert Pepe: „Dying to win. The strategic logic of suicide terrorism“ (2005) heraus. Das ist noch nicht lange her – und doch schon ergänzungs- und in einigen Fällen korrektur-bedürftig. Der Experte hatte auf der Grundlage des damals verfügbaren Wissens betont, dass der Suizid-Terrorismus in der Regel polit-strategisch hochwirksam gegen eine überlegene feindliche Okkupations-Macht eingesetzt werden kann, durch rational kalkulierende Widerstands-Organisationen geplant und ausgeführt wird und in diesen Zielen vor allem von einer breiten sozialen Öffentlichkeit der Heimat-Region getragen ist. Weniger informativ waren die eher individuellen, d. h. psychologischen oder gar psychiatrischen Aspekte einschließlich Bildungsstand, soziale Schicht u. a. Auch lag der Schwerpunkt seiner Erkenntnisse im wissenschaftlichen Verständnis für die regionalen Konflikte im Nahen Osten. Und genau das bedarf einer Ergänzung. Denn es zeigt sich immer drängender, dass moderne terroristische Netzwerke eine transnationale, überregionale, ja globale Verteilungsform suizid-terroristischer Zellen darstellen, d. h. es kann sich im Grunde niemand mehr sicher fühlen. Auch inhaltlich spielen zwar nach wie vor (vor allem in den Medien) die nationalistischen oder kommunistischen Gruppierungen ohne besondere religiöse Begründung eine Rolle (z. B. Sri Lanka und die Kurden-Region in der Türkei), doch der wachsende Einfluss von religiös zumindest mit-vermittelten Motiven zum Suizid-Terrorismus ist nicht mehr übersehbar. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Welche Rolle spielt die Religion in dem vielschichtigen Bedingungsgefüge suizid-terroristischer Handlungsweisen? Und eine weitere Frage drängt sich in den Vordergrund: Gilt es auch vermehrt psychologische, psychodynamische (die einzelnen Persönlichkeitsanteile eines Menschen untereinander und in Beziehung zum Umfeld) und psychopathologische (seelisch-krankhafte) Aspekte zu beachten, wenn es darum geht, die nicht mehr überbietbare menschen-verachtende Entscheidung zu erklären, möglichst viele und in diesem Zusammenhang auch schließlich sich selber umzubringen – aus welchen (natürlich stets im Rampenlicht stehenden) Gründen auch immer. Oder kurz: Das Ursachen-, Bedingungs-, Handlungs- und Konsequenzen-Spektrum wird immer komplexer. Hier gibt es noch reichlich Forschungs-Bedarf. Vor allem dürfte es schwer sein, entsprechende Erkenntnisse durch gezielte Untersuchungen, wie sie ansonsten in der Wissenschaft weiterhelfen, zu gewinnen; man kann sich denken warum. Und doch gibt es einige Faktoren, die ganz offensichtlich eine Rolle spielen, vor allem was die Rekrutierung von Selbstmord-Attentätern anbelangt. Oder wiederum kurz: Wer fühlt sich in der Lage, wenn nicht gar berufen, eine solche Tat zu wagen? Deshalb konzentriert sich die Wissenschaft immer mehr auf den so genannten traumatologischen Hintergrund (schlicht gesprochen: gibt es seelische Verwundungen, die nicht verarbeitet werden konnten) in der biographischen (Lebens-)Entwicklung, insbesondere auch der aktuellen Lebenssituation? Und nicht zuletzt: Welche entwicklungs-psychologischen Besonderheiten sind in den entscheidenden Lebens-Abschnitten von Spät-Adoleszenz (Heranwachsenden) und jungem Erwachsenen-Alter registrierbar. Was weiß man darüber bis jetzt? Zur individuellen Vorgeschichte des Suizid-Terrorismus Suizid-Terrorismus wird zwar definitionsgemäß durch einzelne Individuen ausgeführt. Dahinter steht aber die operative Ebene einer Gruppen-Organisation. Und diese ist eingebettet in eine eigenständige soziokulturelle Umwelt. Wir haben also drei Ebenen, gibt Professor Kapfhammer zu bedenken: die individuelle, die uns als erste ratlos macht. Dahinter eine Gruppierung, aus der sich der selbst- und fremd-tötungswillige Attentäter rekrutiert. Und schließlich eine gesellschaftliche Grundlage mit ihren eigenen wirtschaftlichen und politischen, religiösen und militärischen Problemen. Diese drei Ebenen muss man aufeinanderbezogen sehen. Und dann wird auch klar, dass die für uns unfassbare Tat, die wir zumindest als „irrational“ oder gar psychopathologisch relevant („verrückt“) zu interpretieren pflegen, auf ganz andere Bedingungen zurückgeht. Oder kurz: Suizid-Terrorismus hat mit Terrorismus generell sehr viel mehr gemeinsam, als die augenscheinliche Selbst-Opferung oder das Märtyrertum eines Einzelnen nahe legen. Die Attacke kommt also von einer terroristischen Organisation, auch wenn sie von einem Einzelnen (oder wenigen) ausgeführt wird. Da versteht sich von selber, dass eine solche Konzeption taktische Vorteile bietet, eine gleichsam militärische Strategie, der man von Seiten der Obrigkeit (fast) nichts entgegen setzen kann. Suizid-terroristische Aktionen sind „billig“ und „einfach“, mit relativ geringen eigenen Verlusten verbunden, brauchen keine ausgeklügelten Flucht-Routen oder besonderen Rettungs-Maßnahmen und ermöglichen durch die exakte Bestimmung von Zeit und Ort des Anschlags eine hohe Verlust-Rate von (meist unschuldigen bzw. unbeteiligten) Opfern; vom Sachschaden gar nicht zu reden, der allerdings ebenfalls, wenn auch indirekt seine Opfer fordert. Auch besteht keine Gefahr, dass bei Verhaftungen und Verhören wichtige Informationen über heikle Daten bzw. weitere Pläne verraten werden können. Und was vielleicht das wichtigste, wenn auch nur selten in den Medien diskutierte (End-)Ergebnis ist: Es folgt so gut wie immer eine maximale Verunsicherung und lang anhaltende Traumatisierung in der Bevölkerung. Und nicht nur in den direkt betroffenen, auch weltweit werden die Medien dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen ratlos, wenn nicht gar verängstigt sind. Die „multimediale Präsenz“ sorgt für eine optimale Verbreitung der Terror-Motive. Und weil sich die betroffenen Organe (Politik, Polizei, Militär u. a.) zu Gegenmaßnahmen gedrängt fühlen, folgert daraus auch noch eine internatonale terroristische Solidarisierung. Professor Kapfhammer fasst die Ziele und Motive der operativen politischen oder religiös-politischen Gruppierungen noch einmal in einem langen inhaltsschweren Satz zusammen: „Es geht hier um das vorrangige Überleben der Gruppe, die Demonstration der eigenen Macht, die maximale Schwächung des gehassten Feindes, die Rivalität mit anderen Gruppierungen und die Anerkennung und Unterstützung durch die Bevölkerung, die Lenkung der internationalen Aufmerksamkeit auf das eigene politische Anliegen sowie die Solidarisierung mit dem ungerechten Opferstatus durch das Signal der selbst gewählten Märtyrer-Todes.“ Das ist ein eiskaltes strategisches Kalkül, das vor allem junge Menschen missbraucht. Denn der Experte weiter: „Kein Mitglied aus der Führungsriege einer Terrorgruppe würde sich jemals selbst für einen konkreten Suizidanschlag melden und sich konsequent für das politische Ziel opfern“ Grundlagen suizid-terroristischer Motivation Es gilt also seinen Blick verstärkt auf jene Faktoren zu richten, die als Anknüpfungspunkte für die persönliche Motivation zu solchen Strategien gelten. Dabei spielen sowohl ideologische als auch verstärkt religiöse Aspekte eine Rolle: Die Religion ist aus der Sicht der Experten nicht das eigentliche Problem. Aber sie wird problematisch, indem sie dem politischen Konflikt neue Gesichtspunkte hinzufügt, die sonst nicht vorhanden wären und das Ganze jetzt erst so richtig explosions-gefährlich machen. Wo liegen nun die wichtigsten, dramatischsten und vor allem folgenreichsten Beweggründe, eine religiös gefärbte ideologische Suizid-Mission anzustreben?
Dies alles aber muss eingebettet sein in eine nicht nur ideologische Fundierung von Zielen und Aktionen politisch-religiöser Ziele, sie muss auch die konkrete Erfahrungs-Welt der jeweiligen Bevölkerung widerspiegeln, muss also sozial anerkannt, ja gefördert werden, von der Allgemeinheit bis in die Familie hinein („der Attentäter, einer von uns“). Soziologisch gesehen ist dies möglich, wenn die Lebenserfahrung solcher Gesellschaften eine Geschichte von „Traumatisierungen über Generationen hinweg“ ist. Oder kurz: Ein kollektives Gefühl von ewiger historischer Ungerechtigkeit, politischer Unterwerfung, militärischer Unterdrückung, sozialer Demütigung u. a. Solche „gesellschaftlichen Verwundungen“ können sich über Generationen hinziehen, ständig wiederholen, gleichsam in ein kollektives Gedächtnis einfließen. Und vor allem über die Generationen hinweg zum bitteren Erinnerungsgut werden, das ständig weitererzählt wird, mit entsprechenden Folgen bei der Jugend. Dadurch entsteht das, was die Experten „eine Art Reservoir für rasch aktivierbare kollektive Affekte“ nennen. Oder kurz: Kollektive Traumata können zu kollektiven Affekten explodieren und damit Gewalt und Gegen-Gewalt auslösen bis hin zur Kultur des religiösen Märtyrertums, in säkularer (weltlicher) Variante des Heldentums. Wie aber ist dies mit der religiösen Grundeinstellung zu vereinbaren, die ja Gewalt ablehnt? Wenn sich eine solche „Kultur der Grausamkeit“ entwickelt, dann ist es nur deshalb möglich, weil aus dem reichen und vielschichtigen Fundus humanitär-religiöser Traditionen von den Extremisten nur solche Bilder und Metaphern (Übertragungen eines abstrakten Sachverhalts in eine bildhaften Ausdruck) ausgewählt werden, die sich damit stimmig in die neue Zielrichtung der Gewalt einordnen lassen. Dann kann das dadurch vermittelte Gottes-Bild auch Züge eines grausam verfolgenden Rächers annehmen, gespeist aus den schmerzlichen Gefühlen von Beschämung und Demütigung der Gläubigen und geblendet von einem starren, rücksichtslosen, unbeugsamen, ja gnadenlosen Moralismus. Dadurch entsteht – psychologisch gesprochen – ein gefährliches Identifikations-Objekt, das dann auch seine subjektiven Realisierer findet. Wer aber sind diese? Zur Psychologie der Suizid-Attentäter Wer sind diese Täter? Gibt es ein einheitliches Täter-Profil? Wie setzt sich eine solche Terror-Gruppe zusammen, die suizid-terroristische Aktionen plant und ausführt? Darüber gibt es inzwischen zahlreiche psychopathologische (Krankheitsbild), sozial-psychologische und psychodynamische Studien – und eine einheitliche Erkenntnis: Es gibt kein klassisches Täter-Profil. Natürlich wurde darüber schon viel wissenschaftlich diskutiert, kontrovers und mit einer Reihe von Theorien und Hypothesen. Doch bis heute gibt es keine Belege, dass ein solches Verhalten über eine so genannte relevante psychiatrische Morbidität gesteuert würde (auf Deutsch: es liegt keine dafür konkrete(!) seelische Störung vor). Natürlich kann man dies auch erweitert durchdenken, beispielsweise durch das Phänomen der induzierten seelischen Störung, bekannt durch den französischen Fachbegriff „folie à deux“, eine Art „Geisteskrankheit zu zweit“, bei der der Kranke den labilen Anderen gleichsam in seine kranke Welt hineinreißt – mit allen Konsequenzen (Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel in dieser Serie). Das Gleiche kann man sich nun als Gruppen-Indoktrination vorstellen, dann als „folie plusieurs“ genannt; also eine Gruppe von krankhaft Beeinträchtigten induziert das Gleiche bei einem Gesunden, der dann – schlicht gesprochen – dem allgemeinen Wahn zu Opfer fällt. Doch das ist wenig wahrscheinlich. Trotzdem sprechen die Experten – so Professor Kapfhammer – der so genannten gruppendynamischen Ausrichtung in einer Terror-Organisation eine grundlegende Bedeutung zu, vor allem was die psychologische und religiöse Schulung, die technische Vorbereitung und letztendlich die Übernahme des suizid-terroristischen Auftrags angeht. Und selbstverständlich kann man dies nicht mit jedem machen. Es muss schon eine entsprechende individual-psychologische Grundlage dieses Einzelnen gegeben sein. Gleichwohl erfolgt der Anschluss an eine solche Terror-Organisation nicht nach dem Zufalls-Prinzip. Nicht wenige Jugendliche in zahlreichen islamischen Ländern, nicht zuletzt in Palästina, befürworten offenbar Suizid-Attentate affektiv-kognitiv, wie dies die Experten nennen. Das heißt sowohl von der Wesensart und Gemütseinstellung als auch geistigen Strukturierung und Einstellung her. Und sie begrüßen dies vor allem als Ausdruck einer heroischen Selbst-Verwirklichung. Dabei erklärt sich ein zwar nicht klar abschätzbarer, vermutlich geringer, jedoch im Einzelfall dann eben doch bedeutsamer Prozentsatz prinzipiell bereit, sich auch persönlich in solchen suizidalen Anschlägen selber opfern zu wollen. Was sind das aber nun für Menschen, vor allem Heranwachsende oder gar Jugendliche? In der Tat ist die traumatisierte Entwicklung dieser späteren Attentäter nicht zu übersehen: Aufgewachsen in einer seit Jahrzehnten von politischer Gewalt beherrschten Region, entweder unmittelbar und persönlich solcher Gewalt-Traumatisierung ausgeliefert oder Zeugen davon geworden. Vielleicht sogar direkt betroffen, zumindest aber durch Mitglieder der eigenen Familie oder Personen aus der Nachbarschaft darauf gestoßen. Konkret: zahllose Schikanen, Demütigungen und Verluste im gesellschaftlichen Alltag erlitten. Das alles weist im Einzelfall auf die hohe Zahl an posttraumatischen Stress-Reaktionen und dissoziativen Störungen bei diesen jungen Erwachsenen hin, wie es die Experten nennen. Einzelheiten zu den Begriffen posttraumatische Belastungsstörung und dissoziative Störung siehe die entsprechenden Beiträge in dieser Serie. Das hat natürlich Auswirkungen, und zwar nicht nur am Ort des Geschehens. Es trifft offenbar auch nicht wenige Gleichaltrige, die unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen in fremden und fernen Ländern aufgewachsen sind und dabei ihre eigenen Entwicklungs-Probleme haben – bis hin zur Entfremdung von Familie oder Gesellschaft. Und die durch eine sekundäre Identifikation mit den Gleichaltrigen eines oft auch noch weitgehend unbekannten Landes eine Art Verbrüderung erleben. Und sich vielleicht sogar nach einem selbst-aufopfernden Heroismus sehnen. Während nun aber der suizid-terroristische Entwicklungsgang im eigenen Konflikt-Land über die regional operierenden Terror-Organisation gesteuert wird, erfolgt er bei den Jugendlichen in fremden Nationen in einer oft nur locker mit internationalen Terror-Gruppierungen vernetzten Zelle gleichgesinnter Brüder, die sich aber dennoch im religiösen Glauben und im ideologischen Ziel zur Tat entschließen. Das macht sie erst einmal nach außen unverdächtig, weil sich das Ganze weitgehend im eigenen Inneren entwickelt. Für die entsprechenden Abwehr-Behörden ist dieser Ablauf aber besonders schwer identifizierbar. Entwicklungs-psychologische Aspekte, politische Ausweglosigkeit und ihre Folgen Die Entwicklungs-Situation von der Pubertät bis zum Heranwachsenden hat ihre eigenen Bedingungen und Folgen, jeder kennt sie, denn jeder hat sie schon einmal durchgemacht. Das setzt allerdings auch ein Umfeld voraus, das diese alters-typischen Entwicklungs-Aufgaben in Angriff nehmen und bewältigen lässt, und zwar in einem möglichst ungestörten äußeren Rahmen, innerlich ist ja schon genügend Umwälzung zu bewältigen. Die Psychiater und Psychologen, vor allem mit psychotherapeutischen Aufgaben, nennen dies die entwicklungs-notwendige Erprobung von Lösungen für narzisstische, sexuelle, aggressive, psychosoziale und andere Aufgaben, die in der erwähnten Zeitspanne zu lösen sind. Das ist aber nur möglich, wenn – im übertragenen Sinne – „gesellschaftlich tolerante Übungsräume“ zur Verfügung stehen. Sind sie nicht gegeben, dann wird ein persönlicher Zukunfts-Entwurf, vor allem aber die Bildung einer tragfähigen und offenen psychosozialen Identität unmöglich, zumindest aber erschwert. Das heißt aber: Die sich erst entwickelnde „intellektuelle Reife“, die kognitiven (geistigen) und moralischen Beurteilungs-Möglichkeiten des Jugendlichen, seine psychobiologisch neuartige sexuelle und aggressive Ausstattung lassen ihn das familiäre und gesellschaftliche Dilemma seiner Heimat in einer ungewöhnlichen Schärfe wahrnehmen. Dies ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer möglicherweise verhängnisvollen Radikalisierung, geben die Experten zu bedenken. Denn ein Ausweg, der natürlich keiner ist, ihm aber als solcher angeboten wird und schließlich machbar erscheint, das ist beispielsweise der Anschluss an extremistische soziale Gruppierungen, die das Gefühl einer bedeutsamen sozialen Zugehörigkeit vermitteln, vielleicht sogar einer wertvollen Existenz, wenn bestimmte Aufgaben (s. u.) übernommen werden. Jetzt zeichnet sich eine ideologische und endlich zukunfts-orientierte Ausrichtung ab. Das Leben bekommt (s)einen Sinn. Strategien des suizid-terroristischen Sozialisations-Prozesses Der so spezifische Sozialisations-Prozess im Rahmen einer Terrorgruppe durchläuft mehrere Stadien, zitiert Professor Kapfhammer den derzeitigen Erkenntnisstand. Dazu gehören:
Dabei kommen nicht alle „Kandidaten“ zum Einsatz. An Freiwilligen fehlt es den meisten derzeit aktiven Terror-Gruppen nicht. Wer ausgewählt wird, hat die Vorteile, die von den Tätern im Hintergrund gefordert werden. Das sind zum einen die zum direkten Einsatz abkommandierten Täter an der Front (wo auch immer von den Organisatoren eine Front eröffnet wird), zum anderen aber – und das ist die weitaus größere Zahl – die Helfer im Rahmen eines internationalen Terror-Netzes, ob finanziell, logistisch, ideell oder wie auch immer. Das Ziel ist eine globalisierte Rekrutierung und Aktivierung, wobei die Tat an sich inzwischen weitgehend selbständig durchgeführt werden soll. Das ist vor allem psychologisch nicht ganz einfach. Denn auch für die Fern-Operierenden geht es um die Identität stiftende Loyalität zur eigenen internationalen Organisation, zu ihren Zielen und Werten, zu ihrer religiösen Legitimation u. a. Denn gruppen-psychologische Aspekte scheinen individual-psychologische Motive an Bedeutung zu übertreffen, zumindest was den Suizid-Terrorismus anbelangt. Darüber hinaus weisen die Experten auf einen weiteren Gesichtspunkt hin, ausgedrückt in den Fachbegriffen einer narzisstischen, vielleicht sogar paranoiden (wahnhaften) Regression (also einem Rückschritt in frühere Entwicklungsstufen) im Erleben der Gruppenmitglieder. Hier spielen dann beispielsweise
So beispielsweise der berühmte Psychotherapeut O. E. Kernberg, der sich vor allem mit der Erforschung des Narzissmus einen Namen gemacht hat (siehe die entsprechenden Beiträge in dieser Serie). Die Mobilisierung aggressiver Gefühle unter dem Diktat eines kollektiven Ideals, vielleicht noch unter dem Einfluss charismatischer Führerpersönlichkeiten und verstärkt durch äußere traumatische soziale Ereignisse, schieben Scham und Schuld beiseite und zielen hass-erfüllt auf minderwertige, moralisch zu verachtende Fremd-Gruppierungen, einen Feind, dem man keine Humanität schuldet. Leidenschaftliche Affektivität verringert reflexive Vernunft, wie es die Experten ausdrücken, d. h. rationale (Vernunft-)Gründe werden durch überschießende Gemütsreaktionen einfach überrollt. In diesem Zusammenhang verlieren sich auch rasch bestimmte Moral-Vorstellungen, die früher durchaus akzeptiert wurden. Was jetzt „richtig“ oder „falsch“ ist, wird durch die Ansprüche eines archaischen Kollektiv-Ideals ersetzt. Dabei spielt auch die „unbezwingbare Opfer-Bereitschaft früherer Mitglieder“ eine wichtige Rolle. Denn sie verpflichtet dazu, die glorreiche Utopie auch in Zukunft sicherzustellen. Konkrete politische Verhandlungen, möglicherweise noch mit Erfolgsaussichten, weil von beiden Seiten kompromissbereit getragen, sind geradezu eine Gefahr; sie würden zu einem Kollaps des Gruppen-Bestands führen. Den Verzicht auf den Opfer-Status kann sich eine terroristische Organisation nicht leisten. Selbst wenn terroristische Aktionen letztlich zum Scheitern verurteilt sind, was auch zumeist einkalkuliert wird, schreiben die spektakulären Attacken und der ruhmvolle Opfertod die masochistische Geschichte der Terror-Historie fort, garantiert sie doch die entsetzte Aufmerksamkeit der Welt-Öffentlichkeit. Diese Aspekte – so Professor Kapfhammer – sichern die ideologischen Voraussetzungen des Gruppen-Bestands. Sie garantieren und legitimieren die Abfolge von Terror und Gegenterror in der paranoiden (wahnhaften) Position. Psychologisch gesehen befriedigt die Selbst-Zerstörung im terroristischen Anschlag das unbewusste Schuldgefühl des Täters angesichts der Grausamkeit gegenüber den gehassten, in der Regel aber unschuldigen Opfern. In manchen Fällen mag es auch eine radikale Lösung des Entwicklungs-Konflikts des Jugendlichen im Prozess der Individuation (sprich Selbstwerdung) und Ablösung von der Ursprungs-Familie sein. Denn der Anschluss an eine terroristische Vereinigung und der nachfolgende Opfertod garantiert, dass Ehre, Ruhm, aber auch existenzielle Unterstützung auf die Ursprungs-Familie zurückfallen. Diese radikale Lösung bekräftigt dann die familiäre Loyalität und verhindert im Übrigen auch die notwendige Trauer über die Folgen dieser „Wahnsinnstat“. Schlussfolgerung Professor Dr. H. P. Kapfhammer von der Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Graz versucht in seinem Beitrag über den Suizid-Terrorismus möglichst viel Erkenntnisse und Überlegungen namhafter Experten zusammenzutragen, um ein scheinbar zeitgenössisches Problem halbwegs verständlich zu machen, das aber seit jeher unfassbare Vorläufer hatte. Er verschweigt nicht, dass es fast nicht möglich ist, die komplexe Sachlage auch nur annähernd nachvollziehbar zu erklären. Trotzdem vermittelt er einen guten Überblick über die vielschichtigen Hintergründe der Selbstmord-Attentate. Vor allem liefern sie so manche ernüchternde Erkenntnisse, um diese Täter nicht vorschnell als „Verrückte“ oder „reine Kriminelle“ abzutun. Wer sich näher mit diesem Thema beschäftigen will, der sei auf den umfangreichen Beitrag über den Fanatismus in dieser Serie hingewiesen. Was nach jeder Tat jedoch bleibt, ist Unverständnis, Trauer, Fassungslosigkeit, ja Wut und Hass. Doch gerade deshalb muss man sich möglichst umfassend informieren. Denn der Suizid-Terrorismus mag so alt sein wie die Menschheit, aber wohl auch niemals ein Ende finden, wie uns die Geschichte lehrt – und mahnt. Denn es gibt schon auch ernstzunehmende Motive, Hintergründe und vor allem politische Konstellationen, die sie bahnen. Hier bieten sich zumindest Ansätze einer verstehenden, ausgleichenden, korrigierenden, vielleicht sogar erfolgreich vermittelnden Strategie an. Der Menschheit, vor allem den Opfern, wäre es ein Segen. Literatur Zunehmend wachsende, dabei in der Regel sehr spezielle Fach-Literatur mit zumeist englischsprachigen Publikationen. Einzelheiten dazu siehe auch der zitierte Beitrag. |
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Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise. |