Start Psychiatrie heute Seelisch Kranke Impressum

Antje Bohne:
TRICHOTILLOMANIE
Hogrefe-Verlag, Göttingen-Bern-Wien 2009, 108 S., € 19,95.
ISBN 978-3-8017-1996-8

Download als PDF

Trichotillomanie – ein sonderbarer Fachbegriff. Und ein noch merkwürdigeres Leidensbild: wiederholtes Ausreißen des eigenen Haares zum Vergnügen, zur Befriedigung oder zur Entspannung, was zu einem merklichen Haarausfall führt. So die Definition nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen – DSM-IV-TR der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA).

Die Trichotillomanie gehört zu den Störungen der Impulskontrolle, d. h. dem Versagen, einem Impuls, Trieb oder der Versuchung zu widerstehen, eine Handlung auszuführen, die für die Person selber oder für andere schädlich ist. Beispiele: Intermittierende Explosible Störung (Episoden von aggressiven Impulsen bis zu schweren Gewalttaten oder Zerstörung von Eigentum), Pyromanie (wiederholtes Feuerlegen zum Vergnügen, zur Befriedigung oder zur Entspannung), pathologisches Spielen (wiederholtes und andauernd fehl-angepasstes Glückspiel-Verhalten) sowie Kleptomanie (wiederholtes Stehlen von Gegen­ständen, die nicht für den persönlichen Bedarf oder wegen ihres Geldwertes benötigt werden).

Man sieht: Die Impulsstörungen sind ein schockierendes, aber irgendwie auch faszinierendes Phänomen. Was geht hier vor: seelisch, geistig, psychosozial? Vielleicht sogar organisch, wo doch die modernen neurobiologischen Untersuchungsmethoden immer häufiger Störungen von Gehirnfunktion, ja sogar Gehirnsubstanz bei Krankheitsbildern feststellen, die man früher „lediglich“ unter „Unart, Charakter-Defizit oder kriminelle Wesensart“ subsumierte.

Die Trichotillomanie, das wiederholte Ausreißen des eigenen Haares aufgrund eines unwiderstehlichen Dranges gehört zu den harmlosesten Störungen der Impulskontrolle, weil es nur den „Täter“ selber schädigt. Gleichwohl ist es ein sehr unangenehmes bis zumindest ästhetisch negatives Phänomen, von der seelischen Not und ihren psychosozialen Konsequenzen ganz zu schweigen. Ist es selten? Man kann es sich denken: Selten erkannt, schwer zu objektivieren (und deshalb auch statistisch zu erfassen), wahrscheinlich aber häufiger als angenommen (und von vielen überhaupt noch nie gesehen). Man schätzt zwischen 0,5 und 2,5%, d. h. in Deutschland mindestens eine halbe Million, die irgendwann in ihrem Leben davon betroffen sind. Frauen scheinen häufiger als Männer ihre Haare auszureißen (3:1 bis 9:1). Ob das stimmt, ist umstritten. Männer haben mehr Möglichkeiten, einen Haarverlust zu kaschieren (z. B. Rasur oder männliche Glatzenbildung). Das „leidvolle Versteck-Spiel“ ist ohnehin ein interessanter Teil-Aspekt. Für die Experten noch wichtiger aber ist die Differenzialdiagnose (was könnte es sonst noch sein?), vor allem körperliche Erkrankungen mit umschriebenem Haarverlust, Tic- und Zwangsstörungen, die körperdysmorphe Störung (einen scheinbaren Makel beheben), psychotische Reaktionen (auch Sinnestäuschungen, Wahnideen) sowie Simulation und vorgetäuschte Störung.

Über die Trichotillomanie gib es nicht wenig Fach-Literatur, vor allem englisch-, aber auch deutsch-sprachig. Es gibt sogar Bücher, die sich um Allgemeinverständlichkeit bemühen. Ein themen-komprimierter Band zur Diagnose und Therapie von rund 100 Seiten bietet jetzt der Hogrefe-Verlag an: Trichotillomanie von Dr. Antje Bohne, einer psychologischen Psychotherapeutin, wissenschaftlichen Mitarbeiterin an der Universität Münster, die sich u. a. auf dieses Leidensbild spezialisiert hat. Das Buch ist empfehlenswert, ein Fachbuch, das natürlich entsprechende Voraussetzungen erfordert, aber auch dem interessierten Laien einen gut verständlichen Überblick vermitteln kann. Das betrifft vor allem die erste Hälfte, die diese Störung beschreibt (Auslösebedingungen, Verhaltensmerkmale, Konsequenzen, Häufigkeit, Verlauf und Heilungsaussichten u. a.), die entsprechende Auslöser, Motive und sonstigen Bedingungen skizziert, vor allem was die begünstigende und auslöse-riskante Faktoren anbelangt. Der zweite Teil, die heutigen Behandlungs-Möglichkeiten, interessiert naturgemäß mehr den Arzt und Psychologen, wobei auch die besonderen Therapie-Bedingungen bei Kindern und Jugendlichen nicht vergessen werden. Nützlich: weiterführende und Fach-Literatur (wie erwähnt: auch deutschsprachig), informative Web-Seiten, ein Erhebungsbogen sowie Beobachtungsprotokoll zum Haare-Ausreißen (leider aber kein Sachwortverzeichnis).

Insgesamt eine für den Alltag in Praxis und Ambulanz (seltener Klinik) informative Hilfe, die vor allem den Blick auf ein mehr oder weniger geschickt, aber doch notvoll verstecktes Phänomen zu lenken vermag, das offenbar häufiger ist, als erwartet. Die Reaktion auf eine solche Entdeckung, als Laie allemal, aber auch Arzt und Psychologe, ist nicht immer adäquat, auf jeden Fall konstruktiv, was Erkennen, Verstehen und im Bedarfsfall Behandeln anbelangt. Hier kann die Trichotillomanie der Psychologin Dr. A. Bohne gezielt weiterhelfen (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).