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A. Marneros:
INITIMIZID – Die Tötung des Intimpartners
Ursachen, Tatsituationen und forensische Beurteilung
Schattauer Verlag, Stuttgar-New York 2008. 348 S., € 69,00.
ISBN 978-3-7945-2414-3

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„Entweder Du bleibst bei mir oder ich bring Dich um!“. Das ist die ausdrückliche oder unausgesprochene Drohung, die entweder „befolgt“ wird oder zur Tötung des Intimpartners führen kann. Eine schaurige Konstellation. Denn wie es im Vorwort des informativen Fachbuchs von Professor Dr. Andreas Marneros formuliert wird: Zwei Menschen lieben sich, empfinden Zuneigung füreinander und entscheiden sich für eine gemeinsame Lebensperspektive. Oder sie mögen sich einfach und beschließen, gemeinsam schöne Dinge zu erleben. Und dann, irgendwann, nach vielen Jahren oder auch – in seltenen Fällen – kurz nach der Begegnung, tötet der eine den anderen. Er begeht das schlimmste aller Verbrechen: die Vernichtung menschlichen Lebens. Aber nicht irgendeines Lebens, sondern das Leben des Intimpartners. Welche Abgründe erstrecken sich zwischen der Schönheit der ersten Begegnung und dem apokalyptischen Moment, in dem das Böse den Vorhang der gemeinsamen Bühne schließt.

Denn – so die weiteren Ausführungen des Direktors der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universität Halle-Wittenberg – zwischen dem Schönen und dem Bösen liegt ein ganzes Bündel von Emotionen, Prozessen, Handlungen, Traumatisierungen, Hoffnungen und Interaktionen zwischen beiden Intimpartnern. Und nun?

Das Buch dürfte ein Standardwerk werden, wenngleich für ein mehr als schockierendes Thema:„Tragödien antiken Ausmaßes“. Aber durchaus nicht so selten, wie man sich gerne vormachen würde. Und deshalb haben schon früher manche Experten ihr schauriges Wissen wissenschaftlich aufgearbeitet und publiziert. Doch im Verlauf der Zeit wurde jedem Autor klar, dass Ursachen und Hintergründe dieser Tragödien nicht immer die gleichen sind, sondern abhängig von epochal bedingten Faktoren wurden: von Veränderungen der gesellschaftlichen Attitüden, von Entwicklungen in den Beziehungen der Geschlechter, von Gleichstellung, Autonomie und Autarkie der jeweiligen Partner, von Liberalitäts-Entwicklungen und zeit-geistiger Permissivität u. a., so der Experte, der seine neue Konzeption erörtert. Denn das, was von verdienstvollen Vorgängern erarbeitet wurde, ist inzwischen nur noch teilweise aktuell und damit diagnostisch, therapeutisch und vor allem juristisch verwertbar.

Fachbegriffe:

  • Intimizid: Tötung des Intimpartners, d.h. des Sexualpartners, unabhängig von der Dauer und Art der intimen Beziehung (von A. Marneros eingeführte Wortneubildung).
  • Homizid: Tötung eines Menschen
  • Filizid: Tötung des eigenen Kindes
  • Neonatizid: Tötung des Neugeborenen
  • Infantizid: Tötung des Kleinkindes
  • Genozid: Völkermord
  • Uxorizid: Tötung der Gattin, also eine besondere Form des
  • Feminizids: Tötung einer Frau

u. a. m.

Das Fachbuch zeichnet sich durch eine konstruktive Gliederung aus (wie übrigens bei allen Büchern von A. Marneros), die sich wie folgt darstellt: Definitionen und Typologisierungsversuche, Typen und Korrelate von Intimiziden (neu definiert), d. h. Delinquenz im Allgemeinen und Intimizid im Speziellen, Narzissmus und narzisstische Kränkung sowie Eifersucht in prä-intimizidalen Situationen, Rache, Aggression, Feindseligkeit und Impulsivität, Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen. Danach der Intimizid in etablierten Partnerschaften. Also: Intimizid aus Erschütterung der Selbst-Definition des Täters. Beispiele: durch den asthenischeren, persistent narzisstisch gekränkten oder lebens-bankrotten Intimpartner, durch den malignen Narzissten, durch den sich in seiner Lebensordnung als bedroht erlebenden Intimpartner, als autoprotektive Reaktion, als Emanzipations- und Befreiungsausbruch, in emotional etablierten homosexuellen Beziehungen, als Alternativ-Tötung zum Intimizid.

Dann der Intimizid im Rahmen von psychotischen Störungen und psychose-ähnlichen Zuständen, d. h. psychotisch determinierte Intimizide und solche als erweiterter Suizid. Nicht zu vergessen der Intimizid als Hindernis-Elimination und Profit-Akquisition, wie die „bein-harten“ Formulierungen lauten, die aber sehr wohl ihre realen, wenngleich unfassbaren Beispiele haben.

Schließlich der Intimizid in (noch) nicht etablierten, ephemeren oder sporadischen intimen Beziehungen: Intimizid aus sexuell-dynamischen Konstellationen mit erläuternden Anmerkungen zu Sexualität und Gewalt, zu Paraphilien bzw. sexuellen Perversionen als Bestandteil sexueller dynamischer intimizidaler Konstellationen mit entsprechenden Formen. Der Intimizid aus nicht sexuell-dynamischen Konstellationen in (noch) nicht oder sporadischen Intim-Beziehungen. Schließlich der eher akzidentelle Intimizid im Alkohol-, Drogen- und depraviert-dissozialen Milieu bzw. durch Intelligenz-Geminderte.

Wer bisher schon erstaunt bis fassungslos reagiert haben sollte, muss sich aber noch mit weiteren Aspekten beschäftigen, will er dieses tragische Phänomen (halbwegs) begreifen: Dazu gehört die Geschlechts-Spezifität des Intimizids. Beispiele: Gewalt von Frauen gegen Männer (denn auch das gibt es), die Rolle des Stalkings (mit Typologien und spezifischen Merkmalen, insbesondere auch in häuslicher Gewalt).

Ein spezifisches Problem, das nicht nur spezifische Berufsgruppen betrifft, ist die Beurteilung der Schuldfähigkeit beim Intimizid (krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewusstseinsstörung, Schwachsinn oder schwere andere seelische Abartigkeit). Und die Frage: Affekttaten bzw. Impulstaten? Dabei eine neue Definition von Affekt-Delikten mit Unterschieden zwischen Impuls- und Affekttaten, dazu fachliche Überlegungen zu prä-homizidalen Konstellationen, zur forensischen Beurteilung von Affekttaten und Impulstaten, zum Schuldfähigkeits-Trilemma u. a.

In einem hilfreichen Anhang werden die Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 und DSM IV kurz skizziert, die wichtigsten Aspekte der §§ 20, 21 und 57 StGB wiederholt und neben dem ausführlichen Literatur- und Sachverzeichnis ein Glossar der wichtigsten Begriffe und Definitionen angefügt.

Dieses Buch ist nicht jedermanns Sache, man kann es sich denken. Auch nicht jeder Facharzt will es lesen (müssen). Denn es beschäftigt sich notgedrungen mit einem Thema, das nach Befriedigung einer kurzer (Sensations-)Überraschung niemand weiter verfolgen will. Und doch müssen sich gar nicht so wenige Berufsgruppen damit befassen, und zwar so exakt und auf dem neusten wissenschaftlichen Erkenntnisstand wie möglich. Einer muss auch ihre Arbeit machen. Und dass dies nach den neuesten Erkenntnissen geschieht, dazu verhilft dieses lobenswerte Fachbuch mit einem neuen Fach-Begriff, der sich – so der Wunsch aller – zwar fachlich einbürgern, aber dann so selten wie möglich ereignen möge. Das Fachbuch jedenfalls ist eine wertvolle Orientierungshilfe auf der Basis langjähriger Erfahrungen und – wie erwähnt – in beispielhafter Lehrbuch-Ausführung (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).