H.-L. Kröber, D. Dölling, N. Leygraf, H. Sass (Hrsg.):
HANDBUCH DER FORENSISCHEN PSYCHIATRIE
Band 4: Kriminologie und Forensische Psychiatrie
Steinkopff-Verkag / Springer Science & Business Media, Heidelberg 2009. 700 S., 70 Abb., € 9,95.
ISBN 978-3-7985-1448-5
Download als PDF
Muss man sich als Nicht-Fachmann mit forensischen Fragen beschäftigen? Man muss nicht – allerdings bis zu dem Punkt, wo man vielleicht doch muss, gezwungen von der beunruhigenden bis erschreckenden Realität, wie sie auch der Alltag bereithalten kann.
Das hört sich bedrohlich an, vor allem wenn man sich die Definition von Forensische Psychiatrie verinnerlicht: Teilgebiet der Psychiatrie, das sich mit den juristischen Fragen befasst, die sich im Zusammenhang mit seelisch kranken Menschen stellen. Die Forensische Psychiatrie bedient in erster Linie drei Rechtsgebiete: Das Sozialrecht, wenn es z. B. um Fragen der Berentung, das Zivilrecht, wenn es um die Geschäftsfähigkeit und das Betreuungsrecht geht sowie das Strafrecht, das sich mit der Beurteilung von Schuldfähigkeit und Legalprognose eines Straftäters befasst. Außerdem der Maßregelvollzug. Maßregeln zur Besserung und Sicherung sind die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt und entsprechenden Sicherungsverwahrung. Einrichtungen des Maßregelvollzugs sind Fachkliniken mit hohen Sicherheitsvorkehrungen, in denen seelisch kranke und gestörte sowie suchtmittelabhängige Menschen behandelt werden (müssen). Ziel ist die Wiedereingliederung in die Gesellschaft und ein straf-freies Leben.
Nach diesen beunruhigenden Definitionen stellt sich natürlich nochmals die Frage: Muss man sich damit beschäftigen, wenn man nicht unbedingt zum Kreis der Involvierten gehört? Die Experten selbstverständlich ja. In diesen Rezensionen geht es aber auch um Laien, sicherlich mit entsprechender Bildungs-Voraussetzung, aber mehr oder weniger forensik-fremden Berufs-Gruppierungen.
Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich nur einmal die ein bis zwei Stunden vor Augen halten, die man mindestens täglich mit den Medien verbringt, und zwar nur in puncto Informationen. Und wenn man die einmal analysiert, dann bleibt nach Abzug von Politik, Sport, Wirtschaft und etwas Kultur ein Bereich übrig, der 1. wenig Freude macht und 2. zuzunehmen scheint: gemeint sind grenzwertige Pläne und Taten, Prozesse, Wiedereingliederungs-Bemühungen und Präventions-Maßnahmen, die zum Themenbereich Kriminologie und Forensische Psychiatrie zählen. Und da die meisten Informationen eher oberflächlich gehalten sind, den Rezipienten aber trotzdem beunruhigen, zumindest eine ungute Neugier mobilisieren, in den herkömmlichen Medien-Quellen dazu aber oft nur dürftige oder gar fachlich-unverständliche Erklärungen verfügbar sind, stellt sich erneut die Frage: Könnte hier ein entsprechendes Fachbuch weiterhelfen?
Es könnte. Und es müsste auch nicht unbedingt ein hoch angesiedeltes Handbuch für Experten sein. Es gibt aber eine Informations-Quelle, die beispielsweise als Handbuch der Forensischen Psychiatrie in deutscher Sprache vom Informations-Wert kaum mehr zu überbieten ist. Dass es dabei fachlich zugeht, ist jenen Berufsgruppen geschuldet, die zumindest indirekt mit solchen Problemen zu tun haben (z. B. bestimmte Fachärzte und Psychologen, Sozialarbeiter, Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte, Kriminalbeamten u.a.m.). Trotzdem ist der Informations-Wert auch für Laien erstaunlich, was nicht zuletzt an dem umfangreichen Inhalts-Angebot liegt. Manches, vielleicht sogar das Meiste hat man noch nie gehört, jedenfalls nicht in dieser detail-reichen Darstellung. Anderes stößt einem im Medien-Alltag immer wieder auf, ohne dass man sich ein rechtes Bild davon machen konnte (vielleicht auch nicht wollte). Wieder anderes zeigt sich von einer überaus spannenden Seite, wenn historische Aspekte erläutert werden: wie man es früher sah, unter den jeweiligen gesellschaftlichen und vor allen Erfahrungs-Bedingungen, und wie man es heute einstuft im Sinne von Erkennen, Verstehen, Verhindern, Behandeln – und juristisch Be- und Verurteilen.
Der 4. Sammelband des Handbuchs der Forensischen Psychiatrie mit den Schwerpunkten Kriminologie und Forensische Psychiatrie basiert auf den Beiträgen von zwei Dutzend Experten aus deutschen Instituten für Forensische Psychiatrie, Kriminologie, Kriminalwissenschaft, Strafrechtswissenschaften, den Spezialabteilungen von juristischen Universitäts-Fakultäten, psychologischen Instituten, psychiatrischen Kliniken, Lehrstühlen für Kriminologie und Strafrecht, Sucht-Abteilungen, den Hochschulen für Öffentliche Verwaltung sowie Polizei usw. Die Themen gehören – wie erwähnt – zum möglichen Alltag, aber auch mit hoher, zumindest theoretischer sozialer Sprengkraft. Grundlage sind Kriminalität und Kriminalitäts-Kontrolle in Deutschland, die interessanten und oft nachdenklich stimmenden Kapitel über Delinquenz im Lebensverlauf, Delinquenz und Geschlecht, Delinquenz in der Gruppe, Delinquenz und Zuwanderer u. a. Dann das für die Betroffenen leidens-intensive Fachgebiet der Viktimologie, der „Opfer-Kunde“, die seelischen und psychosozialen Folgeschäden bei Delinquenz-Opfern, die entsprechenden Erklärungs-Modelle und vor allem Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz. Sowohl beunruhigend als auch faszinierend das Kapitel über Kriminologie und Psychopathologie, d. h. Gewalt-Delinquenz, Sexual-Delinquenz, Eigentums- und Vermögens-Delinquenz, das weite Feld der Drogen-Delinquenz, die offenbar immer bedeutender werdenden Probleme in der Straßenverkehrs- und politisch-motivierten Delinquenz. Am Schluss entsprechende Beiträge zur Soziologie und Psychologie des Strafverfahrens (Stichworte: Anzeigeverhalten, Einflusse von Richter- und Täter-Merkmalen, Art der Präsentation von Informationen, Glaubwürdigkeits-Probleme, sekundäre Viktimisierung, Re-Traumatisierung u. a.).
Alle Großkapitel haben ein ausführliches Literatur-Verzeichnis. Das Sachverzeichnis lässt keine Wünsche offen (VF).
|