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Aglaja Stirn, Aylin Thiel, Silvia Oddo (Hrsg.):
BODY INTEGRITY IDENTITY DISORDER (BIID)
Störungsbild, Diagnostik, Therapieansätze
Beltz-Verlag, Weinheim-Basel 2010. 192 S., € 39,95.
ISBN 978-3-621-27761-7

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Jeder Mensch ist froh, wenn er noch alle (hoffentlich gesunde) Glieder hat. Jeder? Nein, es gibt – unverständlich oder gar unfassbar – Ausnahmen, und zwar nicht so selten, wie man glaubt. Jeder weiß: Der Körper vermag auch die seelische Befindlichkeit auszudrücken und ist auf diese Weise ein Mittel der Kommunikation. Die Gestaltung des Körpers bietet vielfältige Möglichkeiten, sich selbst darzustellen. Das beginnt mit Mimik und Körperhaltung und endet noch lange nicht mit der Kleiderwahl – aber auch gezielten Eingriffen. So gibt es Körper-Modifikationen, die inzwischen weitgehend akzeptiert sind. Beispiele: Rasur, Tätowierungen, Piercings und Schönheits-Operationen. Auch hier gibt es mitunter Berührungspunkte zwischen Mainstream-Normalität und grenzwertigen Eingriffen. Das kann allerdings noch zu kontroversen Diskussionen führen. Weniger akzeptiert bzw. als Krankheit angesehen und zu erleiden sind körperdysmorphe Störungen (Dysmorphophobie = Entstellungsangst), Ess-Stö­rungen, Transsexualität sowie selbstverletzendes Verhalten.

Eine extreme Form des Wunsches nach Körperschema-Veränderungen aber ist die Body Integrity Identity Disorder (BIID). Die deutsche Übersetzung „Körper-Integritäts-Identitäts-Störung“ hat sich bei uns offenbar noch nicht durchgesetzt. Hierbei wünschen die Betroffenen sehnsüchtig, vor allem hartnäckig und das ganze Leben beeinträchtigend, dass ein oder mehrere gesunde(!) Körperglieder abgetrennt werden. So etwas kann sich niemand recht vorstellen. Doch was für die meisten Menschen eine extrem beeinträchtigende Erkrankungs-Folge wäre, stellt sich für die BIID-Betroffenen als große Erfüllung und erhoffte Erleichterung dar, wie das Experten- und Herausgeber-Team PD Dr. A. Stirn, Dr. A. Thiel und Dr. S. Oddo von der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Frankfurt im Vorwort des wohl ersten deutschsprachigen Fachbuchs zu diesem Thema ausführen.

Denn dieses unbegreifliche Krankheits-Phänomen ist bisher weitgehend unerforscht. Doch die in der Regel seit Kindheit fortdauernde Phantasie eines „anderen“ Körperschemas kann im Laufe des Lebens so extreme Züge annehmen, dass das Leben nur noch nach Entlastung, d. h. Amputation lebenswert erscheint. Ansonsten ist für viele Betroffene der Leidensdruck fast nicht mehr aushaltbar und kann sogar zu – meist folgenreichen – Selbst-Amputations-Versuchen führen (in den Augen dieser Patienten zur Selbst-Amputation zwingen).

In der Fachpresse wird dieses Phänomen seit etwa 10 Jahren diskutiert und hat auch schon zu realen „Umsetzungen“ geführt, was natürlich nicht nur Psychiater, Psychologen, Chirurgen, sondern auch Ethiker, Theologen, Soziologen und nicht zuletzt Juristen auf den Plan ruft. Inzwischen gibt es auch Internet-Foren, die von den Betroffenen selber eingerichtet und gepflegt werden. Dennoch existieren bislang nur wenige wissenschaftliche Studien dazu, weshalb die Aufgabe des in diesem Punkt erfahrenen Herausgeber-Teams besonders bedenkens- und dankenswert ist.

Es beginnt mit einer sehr gut lesbaren Einführung in das Störungsbild, von der historischen Entwicklung über die Erst-Manifestation, Definitions- und Klassifikations-Kriterien, konkrete Merkmale, Phänomenologie und Verlauf sowie Sexualität, setzt sich mit einem sehr sorgfältigen diagnostischen, differential-diagnostischen und die Co-Morbi­ditäten berücksichtigenden Kapitel fort (hier wird die Erfahrung der Autoren besonders deutlich) und mündet schließlich in entsprechende Erklärungs-Ansätze (kognitiv-verhaltenstherapeutisch, psychodynamisch, neurobiologisch u. a.).

Ebenfalls wieder auf praktischer Erfahrung basierend der Therapie-Teil: Das reicht von Einzelfall-Beschreibungen über kognitiv-verhaltenstherapeutische, psychodynamische und sonstige Therapieansätze: z. B. Gruppentherapie, katathym-imaginatives Bilderleben, Entspannungsverfahren, Körperpsychotherapie, Gestalttherapie, funktionelle Entspannung, konzentrative Bewegungstherapie, analytische Bewegungs- und Tanztherapie, Hypnotherapie, imaginatives Resonanz-Training sowie Vegeto-Therapie (spezifische Massagen und Körper-Übungen). Den Abschluss bildet das Kapitel über ethische Aspekte und interessante Argumente für und gegen eine Amputation als einzige Lösung (schließlich handelt es sich hier um eine leidvolle Krankheit, wenn auch dem Gesunden weitgehend unverständlich). Eine Diskussion fasst noch einmal alle bedeutsamen Punkte zusammen.

Das Literaturverzeichnis ist dann doch erstaunlich umfangreich, das Sachwortverzeichnis ausreichend.

Die Körper-Integritäts-Identitäts-Störung ist sicher ein extrem ungewöhnliches und weitgehend unbekanntes Phänomen. Es dürfte nicht viel Nervenärzte, Psychiater, psychotherapeutisch Tätige und Psychologen geben, die mit einer solchen Bitte schon einmal konfrontiert wurden. Diejenigen aber, die es erleben mussten (der Be­griff „erleben“ wurde hier bewusst gewählt), können bestätigen, dass es sich hier um keine „verrückte Effekt-Hascherei“ (je abstruser, desto prestige-trächtiger) handelt, sondern um eine echte seelische Notlage, basierend auf einem „anderen“, für den Laien einfach abnormen Körperschema. Bis vor noch nicht langer Zeit war dies eine deshalb verschämte Gruppe, die sich mit ihren bizarren Wünschen nur ganz vorsichtig an bestimmte Experten herantraute – mit immer dem gleichen Ergebnis. Jetzt aber gibt es das Internet – und damit die Möglichkeit, eine schockierte Gesellschaft auf etwas aufmerksam zu machen, das der nüchternen Diagnose und mitfühlenden, aber konsequenten Psychotherapie auf verschiedenen Ebenen bedarf.

Hierzu einen Beitrag geleistet zu haben, ist das Verdienst der Autoren als Experten. Und zwar mit einem trotz des irritierenden Themas gut lesbaren Fachbuch (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).