Katharina Bennefeld-Kersten:
AUSGESCHIEDEN DURCH SUIZID - SELBSTÖTUNGEN IM GEFÄNGNIS
Verlag Pabst Science Publishers, Lengerich 2009. 257 S., zahlreiche Abb. und Tab., € 30.-.
ISBN 978-3-89967-535-1
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Verbrechen, insbesondere Gewalt, stoßen uns ab und machen uns hilflos. Da sind wir froh, dass Ordnungskräfte und Justiz ihre Aufgaben erfüllen – zumeist effektiv und ohne großes Echo, wenn es sich nicht gerade um einen spektakulären Fall handelt (den wir aber auch bald vergessen). Denn wir vergessen oder verdrängen gerne vor allem den dritten Faktor in dieser Kette von Ordnung, Recht und vielleicht sogar Gerechtigkeit, das Gefängnis, heute Justizvollzug genannt.
Nun gibt es viele Varianten, eine Strafe abzusitzen. Die meisten sind „draußen“ gar nicht bekannt. Und was hinter den Mauern geschieht, will man ohnehin nicht wissen. Dass es dort eine „eigene Welt“, zumindest aber eigene Gesellschaft(sstruktur) geben mag, ist zwar jedem klar, will aber weder bedacht, noch diskutiert werden. Manchmal aber beschleicht einen schon die Frage, wie man als Mitmensch (und das sind auch die im Vollzug, in Staaten des Unrechts oder gar in Terror-Regimen kann man auch als unschuldiger Bürger plötzlich dazu gehören), wie man also in einem solch spezifischen Umfeld lebt, wie es einen prägt, ob man ein anderer wird, vielleicht sogar seelische und psychosoziale Folgen nie mehr los wird. Und ob es in besonders verzweifelt gelagerten Fällen zum Tod durch eigene Hand, zum Suizid kommt.
Das ist ein ohnehin ungern gestreiftes Kapitel, wenn man es auch nicht verleugnen kann: nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geschieht weltweit in jeder Minute ein Suizid, in Deutschland rund 10.000 Personen jährlich – und in den Gefängnissen Deutschlands durchschnittlich hundert Gefangene.
Ausgelöst durch ein tragisches Ereignis, bei dem nicht nur der Täter, sondern auch Vollzugsbeamte getötet oder schwer verletzt worden waren, hat sich Frau Katharina Bennefeld-Kersten vom Kriminologischen Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Vollzuges die Aufgabe gemacht, das wissenschaftlich kaum beforschte Gebiet von Suizidfällen durch Gefangene im Strafvollzug zu untersuchen. Diese sicher nicht einfache Arbeit hat in Fachkreisen, vor allem der Suizidologie, ein positives Echo gefunden. Sie schließt eine Lücke, die wohl auch nur aus dem Engagement, vor allem aber dem spezifischen Wissen einer ehemaligen Anstaltsleiterin und Wissenschaftlerin zugleich möglich ist. Das eine kennt die Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren aus eigener Erfahrung, das andere garantiert den hohen Anspruch eines Forschers, der auch zu unbequemen Antworten auf Grund seiner Forschungsarbeit bereit ist.
So wird die Eingangsfrage, ob das Gefängnis-System etwas Entscheidendes dazu beiträgt, das Gefangene veranlasst, sich das Leben zu nehmen, mit einem kurzen „Ja“ beantwortet. Denn viele Gefangene bringen bei ihrer Inhaftierung bereits ein erhöhtes Maß an Vulnerabilität (in diesem Fall seelische Verwundbarkeit) mit, das durch den Status des Gefangenen und Straftäters noch wachsen kann. Außerdem sind die mit der Inhaftierung einher gehenden Ereignisse quantitativ eine Bedrohung der Bewältigungs-Ressourcen und erfüllen in der Regel qualitativ die Kriterien der so genannten „kritischen Lebensereignisse“. Schließlich mangelt es gerade in der Haftzeit an gewohnter sozialer Unterstützung, so dass entsprechende Ereignisse noch häufiger und schneller (lebens-)kritisch werden können.
An der seelischen Verwundbarkeit hat das Gefängnis keinen Anteil. Das bringt der Betreffende mit, oft schon als Kind benachteiligt. Und das hat sich dann auch im späteren Leben kaum geändert. Das äußert sich schon darin, dass Gefangene, die sich selber das Leben nehmen, tendenziell eher zu den Älteren, vom Partner Getrennten und dazu noch Wohnungslosen gehören. Und natürlich deutlich mehr Gewalttäter (von der Fremd- zur Selbst-Aggression). Mehr als die Hälfte der Suizid-Gefangenen waren wegen „Delikten gegen die Person“ inhaftiert worden, vor allem also Totschlags- und Beziehungs-Delikte. Da es sich gerade bei dieser Art häufig um Affekt-Taten handelt, überrascht es auch nicht, dass der Affekt dann auch selber das Leben kosten kann. Ähnliches gilt für seelische Störungen generell, vor allem Suchtkrankheiten.
Wenn man so ausgeprägt verwundbar ist, bräuchte man eine gewisse Gelassenheit, um damit besser fertig zu werden. Nun ist aber das Leben eines Gefangenen zwar eintönig, aber nicht arm an Ereignissen, im Gegenteil, vor allem zu Haft-Beginn. Das lässt sich zwar im Erlebensfall schwer nachvollziehen, registrieren bzw. (auch rückwirkend) beweisen, aber einsichtig ist es schon – und oft in Abschiedsbriefen entsprechend artikuliert (kränkende Ereignisse im Rahmen der Inhaftierung, das Selbstwert-Gefüge erschütternd und dann noch von intensiven Emotionen belastet). Und natürlich der Umstand, dass vertraute soziale Unterstützungs-Möglichkeiten vor allem in der ersten Haftzeit und insbesondere bei Untersuchungs-Gefangenen nicht zur Verfügung stehen. Darüber hinaus sind ihnen Entscheidungen weitgehend abgenommen, ihr Aktionsraum ist beschnitten und damit auch die Möglichkeit für so genannte „selbstwert-stärkende Aktionen“ zur Regulation negativer Affekte kaum gegeben. Hier baut sich dann eine riskante Verbitterung auf.
Das Buch von K. Bennefeld-Kersten ist nicht nur vom Thema, sondern auch vom – sicher belastenden und mühseligen – methodischen Aufwand her beispielhaft. Es sollte und wird hoffentlich auch ein Grundlagen-Werk für alle, die sich mit dieser ja unerfreulichen Materie wissenschaftlich, insbesondere aber praktisch zu beschäftigen haben. Nun lassen sich vielleicht auch die Konsequenzen für die Praxis eher realisieren, die da lauten:
Suizidale Entwicklungen sind sehr schwer zu erkennen, generell und in der Haft-Situation besonders. Hier tut der regelmäßige Austausch aller mit den Gefangenen (Neuzugänge) befassten Bediensteten Not, vor allem in den Aufnahme-Abteilungen. Der psychiatrische und psychologische Dienst mag zwar das bessere diagnostische „Handwerkszeug“ haben, bekommt aber von den Ereignissen, insbesondere vom Anpassungsprozess der Gefangenen wenig(er) mit. Die Bediensteten vor Ort wissen in der Regel mehr, sind eher auf dem aktuellen Stand, bräuchten aber ggf. auch mehr Kontakt und fachliche Unterstützung. Sie sind auch noch die Haupt-Personen für die soziale Unterstützung der Gefangenen, zumal die Angehörigen in der Regel zu Haftbeginn nicht zur Verfügung stehen. Auch Mitgefangene können hilfreich sein. Sogar das Internet, immer häufiger für die Allgemeinheit eine Quelle der Information (auch immer fachlich solider aufgemacht), wäre ggf. für manche konkrete Ratschläge und psychosoziale Unterstützungs-Maßnahmen „hinter der Mauer“ nützlich. Da hier spezifische Bedingungen berücksichtigt werden müssen, würde sich dann eher das Intranet (Internet „innen“) anbieten. Es würde dann in einer Art speziellem E-Mail-Verkehr auch zu später Stunde Kontakt und Austausch ermöglichen – und damit die drohende und zermürbende Isolation mildern. Den älteren Gefangenen, die dazu noch weniger technische Erfahrung sammeln konnten, könnte zudem eine spezielle Telefonverbindung, eine Art Telefonseelsorge helfen.
Bekannt, praktiziert und in ihrem hilfreichen Effekt objektivierbar sind die Versuche, Gefangenen mit Sport- und Arbeitsangeboten Gelegenheit zu körperlicher Bewegung, zur Beschäftigung und vor allem sozialen Kontakten zu geben. Problematisch ist bei Einzel-Unterbringung die lange Nacht des Alleinseins (in einigen Anstalten bereits ab 18.00 Uhr). Hier hilft das Fernsehgerät im Haftraum die Zeit bis zum Einschlafen zu vertreiben. Fortbildung, Sport, Freizeitbeschäftigungen handwerklicher oder künstlerischer Art lösen zwar keine Probleme, vermitteln aber das Gefühl, etwas getan, geleistet zu haben und werden - wenn überhaupt – aber eben auch nicht zu Zeiten des Nacht-Einschlusses angeboten. Daran sollte man etwas ändern, denn gerade für Gefangene, die sich in einer Einzelzelle untergebracht mit Gedanken an Suizid beschäftigen, ist eine solche Nacht wahrscheinlich recht bedrohlich. Man weiß: Mehr als die Hälfte der untersuchten Suizide von Gefangenen in Einzel-Unterbringung wurden in der Zeit zwischen 5.00 und 8.00 Uhr morgens nach dem Aufschluss entdeckt.
Auch E-Learning oder andere Fortbildungs- und Beschäftigungs-Aufgaben sowie Computer-Spiele können gemeinsam mit Mitgefangenen, jedoch auch allein im Haftraum für Abwechslung, ja Weiterbildung sorgen. Denn anders als das Fernsehgerät hat diese Art der Beschäftigung einen stärkeren Bezug zur eigenen Person und kann somit zur Stabilisierung beitragen.
Doch welche Maßnahmen auch immer ergriffen werden, die Bediensteten müssen ihre Erkenntnisse kommunizieren, um ein möglichst umfassendes Bild einer drohenden Suizidgefahr zu erhalten, weiterzugeben und zu neutralisieren. Das Spektrum an Möglichkeiten sozialer Unterstützung und angemessener Beschäftigungsformen sollte gerade für Neuzugänge breit angelegt und konsequent durchgezogen werden.
Und – so am Schluss des empfehlenswerten Buches – sei noch auf den großen Forschungsbedarf hingewiesen, der gerade in dieser Hinsicht noch abzuarbeiten wäre. Denn „wenn wir die Erwartung haben, dass ein Gefangener in der Strafanstalt Gelegenheit haben soll, über das Unrechtmäßige seiner Tat nachzudenken, sollten wir selber darüber nachdenken, inwieweit unser Vergeltungs-Bedürfnis befriedigt wird, wenn sich Judas nach seinem Verrat erhängte. Könnte dies eine mögliche Ursache sein, dass den hohen Suizidraten in den Gefängnissen bisher nur wenig Beachtung geschenkt wurde...?“ Das Forschungs-Projekt von Frau K. Bennefeld-Kersten und ihr Buch über Selbsttötungen im Gefängnis (ausgeschieden durch Suizid) wird uns helfen, konkrete Konsequenzen zu ziehen und damit eine für die ganze Gesellschaft nützliche Resozialisierung zu fördern (VF).
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