Start Psychiatrie heute Seelisch Kranke Impressum

Anita Rieder, Brigitte Lohff (Hrsg.):
GENDER-MEDIZIN
Geschlechtsspezifische Aspekte für die klinische Praxis
Springer-Verlag, Wien-New York 2004. 443 S., 59 Abb., € 59,80.
ISBN 3-211-00766-0

Ein neuer Begriff etabliert sich in der Fachpresse und auch in den Massenmedien: Gender. Ausgehend von zuerst universitären und später auch administrativen (ja ministeriellen) Anregungen und Richtlinien ("Gender mainstreaming") beginnt er sich jetzt generell einzubürgern. Genaues aber weiß man nicht, wenn man konkret nachfragt. Zumindest wird sehr unterschiedliches damit verbunden. Am ehesten neigt man dazu Gender mit "Geschlecht" zu verbinden, was allerdings nur bedingt zutrifft.

Denn der englische Ausdruck Gender bedeutet sprachwissenschaftlich sowohl das grammatische als auch das biologische Geschlecht in Einzahl und Mehrzahl. Auch kann damit das soziale Geschlecht gemeint sein.

Die Verwirrung wird aber dadurch noch größer, weil sich auch andere Fachtermini etablieren: Gender dimorphism (Geschlechtsunterschiede), gender-free (geschlechtsneutral), Genderrights (bezogen auf Homosexuelle, Lesben und Transsexuelle), Gender-Studies (Frauen- und Geschlechterforschung) und schließlich Gender-gap (die Kluft zwischen den Geschlechtern) und Gender-imbalance (das Ungleichgewicht der Geschlechter). Kurz: Aufklärung tut not.

Das findet sich nun wissenschaftlich fundiert in dem Sammelband Gender-Medizin, herausgegeben von zwei Wissenschaftlerinnen, nämlich Frau Prof. Dr. Anita Rieder, Medizinische Universität Wien, Institut für Sozialmedizin sowie Frau Prof. Dr. Brigitte Lohff, Medizinische Hochschule Hannover, Abteilung Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin. Sie brachten mehr als drei Dutzend Experten (beiderlei Geschlechts!) dazu, einen umfassenden Überblick zu vermitteln, der von den Stoffwechselstörungen über alltags-relevante geschlechtsspezifische Fragen bis zu krankenkassen-spezifischen Aspekten reicht. Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Einleitung zu den Grundbegriffen und - wie könnte es anders sein in dieser Serie - ein Überblick über geschlechtsspezifische psychiatrische Erkenntnisse.

Der Begriff Gender und seine Bedeutung

Gender ist also ein Begriff, der zwar auf biologischen Funktionen basiert, die Prägung "Mann" und "Frau" aber als etwas begreift, das vornehmlich durch die Umwelt, das soziale Umfeld und die Erfahrungen des einzelnen Individuums entwickelt wird. "Sex" meint hingegen die biologische Ausrichtung des Lebewesens von den Chromosomen bis zu den Reproduktions-Organen und deren männliche und weibliche Funktionen.

Dabei lassen sich bestimmte Untertypen differenzieren, nämlich genetisches oder Kerngeschlecht, gonadales, genitales, psychisches und soziales Geschlecht. Hier weisen die Herausgeberinnen aber auch auf die Gefahr hin, dass sowohl das biologische, wie das soziale Geschlecht durch die historische Entwicklung verzerrt sein dürfte, die primär maskulin gestaltet und aus einem androzentrischen Blickwinkel geprägt ist. Was unterscheidet nun die frühere Sichtweise von den heutigen Forschungsansätzen?

In der früher (vermeintlich geschlechts-spezifischen) Forschung hat man sich besonders auf das reproduktive System konzentriert, also auf Deutsch: Grundlagen der Vermehrung. Alles andere wurde sogar als unwissenschaftlich abgetan. So wurde die Erfassung von Geschlechts-Unterschieden oftmals nur ein Nebenprodukt von Studien, in denen lediglich auffiel, dass auch Frauen gewöhnlich häufig beteiligt waren, z. B. Schlaganfall-Folgen und deren Rehabilitation.

Die heutige Gender-Medizin entwickelte sich vor allem aus der feministisch orientierten Sozial- und Gesundheitswissenschaft und der Public Health-Forschung. Der Feminismus zentrierte also die Aufmerksamkeit auf die bisher unbeachtet gebliebenen diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweisen bei der Frau im Vergleich zum Mann (wobei auch hier ideologische Konflikte nicht ausbleiben konnten). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat deshalb mit ihrer "Gender Working Group" (1996) die Thematik etwas zu versachlichen und thematisch auszuweiten versucht.

Inzwischen betrachten Gender-Forschung und Gender-Praxis das Geschlecht nicht nur geschlechtsspezifisch, sondern beschreiben zugleich Unterschiede und Gemeinsamkeiten, um daraus konkrete Empfehlungen ableiten zu können. Das betrifft vor allem das Public Health-Konzept, das davon ausgeht, dass Krankheiten und Gesundheitsprobleme durch physische und psychosoziale Faktoren sowie durch das soziale und gesundheitspolitische Umfeld beeinflusst werden.

Damit nimmt die Gender-Medizin in gewisser Hinsicht auch eine Vermittlerrolle ein und entwickelt vor allem ganz konkrete Aufgabenstellungen. Beispiele: Die Männer-Gesundheit als spezifische Zielgruppe präventiv-medizinischer Maßnahmen; da hat das männliche Geschlecht bekanntermaßen ein problematisches Defizit, was sich nicht zuletzt in der männlichen Lebens- und Gesundheits-Erwartung niederschlägt, beunruhigend negativ.

So wird in den nächsten Jahrzehnten allein durch die demographische Entwicklung der ältere Mann viel stärker ins Gewicht fallen. Ältere Frauen dagegen sind vor allem von Armut, Alleinleben und chronischer Krankheit bedroht. Ein besonderes Problem sind auch die so genannten sozio-ökonomischen Risiko-Gruppen, die bisher schwer erreichbar (und damit teuer) waren.

Vom historischen Rückblick zur Zukunfts-Perspektive

"Am meisten lernt man aus der Vergangenheit", indem man die dortigen Erkenntnisse, Möglichkeiten, aber auch Fehler zu rekapitulieren versucht. Wie steht es hierzu mit der Gender-Forschung?

Das Problem der früheren Jahrhunderte war schon allein der Zugang zur wissenschaftlichen Ausbildung, der der Frau ja bekanntlich verwehrt war (bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts). Obwohl die "scientific lady" durchaus ein Produkt der naturwissenschaftlichen Revolution war, blieb die studierte Ärztin bis ins 20. Jahrhundert die große Ausnahme. Es gab zwar berühmte Einzelfälle, beispielsweise im 18. Jahrhundert die erste "weibliche Doktorarbeit", aber dabei blieb es. Damit waren Frauen nicht nur ausgeschlossen, sondern auch generell entmutigt und es zog sich hin, bis sie ihre wissenschaftliche Position regelrecht erringen konnten.

Das zweite Problem war die bekannte humoral-pathologische Denkweise früherer Generationen. So dauerte es recht lange, bis die Wissenschaft akzeptierte, dass die Hysterie nicht eine Erkrankung des Uterus, sondern des Nervensystems und hier vor allem des Seelenlebens ist. Und es dauerte noch länger, bis die "vorurteilsfreien" Beobachtungen der Krankheitsverläufe "geschlechtsneutral" registriert wurden, vor allem auf kasuistischer Ebene (also Einzelfall-Darstellungen). Heute geht es um einen weiteren Schritt in der Konkretisierung folgender Fragestellungen:

- Welche Geschlechtsunterschiede und Gemeinsamkeiten sind bekannt?
- Welche wissenschaftliche Bedeutung und klinischen Erfahrungen liegen vor?
- Sind diese bereits auf den klinischen Alltag, also Diagnose, Therapie und zuvor Prävention und danach Rehabilitation ausgeweitet worden?
- Lassen sich konkrete Empfehlungen für den Praxis-Alltag ableiten und wenn ja, welche, wann, wo, wie?

Der erste Schritt ist natürlich die Lehre, also die Ausbildung, später die Weiterbildung zum Facharzt und die Fortbildung der Spezialisten. Das soll die Wahrnehmung schärfen, was bisher nicht adäquat Berücksichtigung fand. Und es soll die Wahrnehmung nicht nur geschlechtsspezifischer, sondern auch geschlechtsspezifischer psychosozialer und sozio-ökonomischer Aspekte von Gesundheit und Krankheit verbessern. Es gilt auch die Auswirkungen geschlechts-spezifischer Effekte auf das jeweilige Risko-Verhalten und seine gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen abzuwägen, und zwar schon in der alltäglichen Praxis. Und dort gilt es dann die Kluft zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Gesundheitsförderung, Vorbeugung, Rehabilitation und Behandlung zu überbrücken. Und schließlich damit die Lebensqualität der einzelnen Patienten verbessern helfen (was - wie erwähnt - nicht nur ein Problem für die Frau, sondern zunehmend auch für den "älteren" Mann sein dürfte - vor allem in Zukunft). Oder mit einem Gedanken aus dem Geleitwort des Buches: die Gender-Medizin in die ärztliche Routine-Tätigkeit eindringen lassen.

GENDER-MEDIZIN UND PSYCHIATRIE

Um es vorweg zu nehmen: Obgleich sich Deutschland, Österreich und die Schweiz dem "Gender mainstreaming" verpflichtet haben, verwundert die bisherige mangelhafte Umsetzung der Gleichbehandlung von Mann und Frau. Dies betrifft sowohl das biologische (sex) als auch das psychosoziale (gender) Geschlecht von Patientinnen und Patienten. Dies geht nicht zuletzt auf eine unzureichende Datenlage zurück, oder konkret: auf kaum vorhandene Forschungs- und Therapieansätze in der Psychiatrie der Geschlechter. Das lässt nebenbei auch die Psychopharmaka-Forschung nicht unberührt, in der kaum Studien existieren, die den unterschiedlichen Einfluss der weiblichen hormonellen Situation von jener der Männer getrennt beurteilen, ganz abgesehen von einer völlig anderen prozentualen Körperfett- und Wassergehalts-Verteilung im Organismus mit entsprechend unterschiedlicher Konzentration und Effektivität von Medikamenten.

Auffällig in der Psychiatrie sind auf jeden Fall große geschlechtsspezifische Unterschiede. So sind Frauen bis zu zwei Mal so oft von affektiven Störungen (Depressionen und manische Hochstimmung) betroffen. Bei Essstörungen seien rund 90% weiblichen Geschlechts. Bei Medikamentenabhängigen sind es bis zu 70% Frauen, bei den Alkohol- und Rauschdrogenabhängigen bis zu 75% Männer. Bei der Schizophrenie findet man eine annähernd gleich häufige Verteilung, allerdings mit deutlich unterschiedlicher Geschlechtsspezifität je nach Alter.

Nachvollziehbar ist die Erkenntnis, dass Frauen und Männer unterschiedliche biologische Risiken aufweisen: genetisch, hormonell sowie Arbeits- und sonstige Umweltfaktoren. Auch die zunehmende Überalterung und ihre Geschlechts-Schwerpunkte sind hier in Zukunft einzurechnen. Und die Verarmung speziell von Frauen in entsprechenden Risiko-Populationen (z. B. Ruheständlerinnen, alleinerziehende Mütter). Durch ihre Doppel- und Dreifachbelastung geraten sie hier in eine besonders riskante Situation (Burnout, Mobbing, Depression, Medikamentenabhängigkeit). Eine hilfreiche Statistik wird auch dadurch erschwert, dass große Geschlechtsunterschiede in der Frage bestehen, welche medizinische Anlaufstellung primär aufgesucht wird: Während Männer eher Fachärzte beiderlei Geschlechts und Spezialeinrichtungen bevorzugen, konsultieren Frauen öfter Hausärzte, deren Erkenntnisse natürlich weniger in die Statistik eingehen.

Nachfolgend nun eine Übersicht, wie sie die Autoren des entsprechenden Kapitels vorstellen, nämlich Frau Dr. Nina Ebner und Frau Prof. Dr. Gabriel Fischer von der Universitätsklinik für Psychiatrie in Wien.

  • Depressionen

Die Depression kommt doppelt so häufig bei Frauen wie Männern vor. Dies zeigt sich bereits bei Minderjährigen. Bei Frauen besteht eine so genannte Lebenszeitprävalenz von 21%, für Männer von 13%.

Die höheren weiblichen Depressionsraten entstehen im frühen Erwachsenenalter, erklären die Autorinnen. Sie erreichen einen Gipfel im mittleren Lebensalter und sinken in der postmenopausalen Phase (nach den Wechseljahren) wieder ab. In Kindheit und höheren Lebensalter werden kaum Geschlechtsunterschiede festgestellt, und wenn, dann oft sogar mit einem höherem Risiko für das männliche Geschlecht. Das spricht für einen verstärkten endokrinologischen Einfluss. Stichworte: Östrogene, Progesteron, dadurch indirekt Glucocorticoide, Neurotransmitter (Botenstoffe wie Serotonin, Dopamin) u. a. Allerdings darf man es sich nicht so einfach machen. Dass Östrogene mit psychischem Wohlbefinden in Verbindung stehen, heißt noch nicht, dass sie beim Abfall mit Depressionen bezahlt werden müssen. So zeigen entsprechende Untersuchungen, dass Depressionen während und nach der Menopause sogar seltener auftreten, einschließlich Suizidgefahr.

Dass es nicht nur biologische Faktoren, sondern auch psychosoziale sind, wird auch durch folgende Erkenntnisse untermauert: Verheiratete Frauen scheinen eine höhere Rate von seelischen Erkrankungen aufzuweisen als Ehemänner. In der Gruppe der ledigen, geschiedenen und verwitweten Personen findet sich hingegen kein Geschlechtsunterschied. Die Ehe scheint also vor allem für Männer einen besseren Schutz vor depressiven Störungen zu bieten. Allerdings spielen auch die Qualität von Partnerschaft, Sozialstatus und die Verfügbarkeit sozialer Unterstützungen eine Rolle.

Auf jeden Fall scheinen ein besonders hohes Risiko junge verheiratete Frauen aufzuweisen, die für Vorschulkinder sorgen müssen.

Außerdem gibt es Unterschiede in den verschiedenen Kulturen. Dort kehrt sich das Risiko für verheiratete Frauen sogar um. Auch senkt generell die Berufstätigkeit sowohl bei Männern als auch Frauen in allen Zivilstands-Kategorien die Depressionsraten. Zusätzliche Belastung kann dies aber wieder verändern. Die Vorteile der Berufstätigkeit für verheiratete Frauen sind dann deutlich geringer, wenn sie gleichzeitig für Vorschulkinder sorgen müssen.

Schlussfolgerung: Die höhere weibliche Depressionsrate scheint nicht nur auf endokrinologische oder genetische Einflüsse zurückführbar. Soziale und vor allem psychosoziale Faktoren sind wahrscheinlich bedeutsamer. Dies gilt vor allem für die "typischen" Formen der Depression und auch für die häufigsten.

  • Spezielle Aspekte von Depression und Suizidalität

In letzter Zeit hat man sich verstärkt mit der Depression beim Mann beschäftigt. So fand man, dass Aufklärungsprogramme zwar die Suizidrate bei Frauen, nicht aber bei Männern senken. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass die Depression beim Mann nur selten rechtzeitig bzw. überhaupt nicht erkannt wird.

Eine mögliche Erklärung besteht darin, dass sich das Depressionsmuster beim Mann anders äußert wie bei der Frau. Beim Mann stehen im Vordergrund Symptome wie geringe Stress-Toleranz, erhöhte Risikobereitschaft, ein Ausagieren (also entsprechende Gefühle gleichsam nach außen abführen bzw. durchbrechen lassen), was u. a. auch zu Wut-Aktionen führen kann. Wut aber heißt auch geringere Impulskontrolle und damit Suizidgefahr. Und das Ganze unterlegt durch eine ständige innere Unruhe, Nervosität, Anspannung, leichte Irritierbarkeit und permanente Unzufriedenheit.

Nun finden sich zwar auch beim Mann depressive Denkinhalte (Freudlosigkeit, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle u. a.), doch die müssen regelrecht herausgearbeitet werden, die depressive "Fassade" wird von obigem Beschwerdebild beherrscht. Und das täuscht natürlich, zumindest sehr lange.

Vor allem die Wut-Attacken geben zu denken. Sie ähneln - zumindest im begleitenden Beschwerdebild - den bekannten Panikattacken mit Schwitzen, Erröten, Engegefühl im Brustraum, Herzrasen usw. Und - erfreuliche Erkenntnis - sie sprechen gut auf die Antidepressiva vom Typ der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) an. Auch atypische Antipsychotika der neueren Generation sind (zusätzlich?) erfolgreich.

Das Problem mit den Wut-Attacken drückt sich auch in der Wahl der Suizidart aus. Frauen neigen eher zur Medikamenten-Vergiftung, Männer tendieren häufiger zu gewaltvolleren Suizidversuchen wie Erhängen oder Erschießen. Bei Frauen findet sich (deshalb?) öfters ein Suizidversuch, bei Männern endet es eher tödlich.

  • Depression und körperliche Erkrankung am Beispiel des Herzinfarktes

Depressionen sind auch ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das ist eine alte Erkenntnis, die sich sogar physiologisch erklären lässt. Nun würde man sagen, Herzinfarkte sind eine rein männliche Domäne, doch das täuscht, wie man heute weiß. Frauen haben in diesem Punkt nicht nur aufgeholt, sie liegen inzwischen in Führung. Der Herzinfarkt ist mit dem Mamma-Carcinom zusammen die häufigste Todesursache beim weiblichen Geschlecht.

Dabei zeigt sich im Beschwerdebild etwas, das an die Depressions-Symptomatik bei Männern und Frauen erinnert, nämlich ungleiche Schwerpunkte. Oder kurz: Der Herzinfarkt bei Frauen ist meist so untypisch, jedenfalls was das bisher "übliche" Beschwerdebild (der Männer) anbelangt, dass er auch noch viel zu selten und vor allem rechtzeitig registriert wird. Eine doppelte Belastung, wenn man an das Phänomen Herzinfarkt und Depression bzw. umgekehrt denkt.

  • Posttraumatische Belastungsstörungen

Nach dem Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen wurde 2000 weltweit jede dritte Frau in ihrem Leben geschlagen, vergewaltigt oder in einer anderen Form missbraucht. In Deutschland ist dies jede siebte Frau, für Österreich und die Schweiz gibt es dazu keine konkreten Untersuchungen. Die Folge solcher Gewalterfahrungen sind posttraumatische Stress-Störungen. Diese können bekanntlich zu Depressionen und Sucht führen.

Laut N. Ebner und G. Fischer sollen 75% der Frauen davon berichten, einmal in ihrem Leben Opfer eines Verbrechens geworden zu sein. 25 bis 50% sprechen von Vergewaltigung. Sexueller Missbrauch in der Kindheit wird auf bis zu 25% bei Mädchen und 20% bei Knaben geschätzt.

Die Lebenszeitprävalenz der posttraumatischen Belastungsstörung soll zwischen ein und 14% in der Allgemeinbevölkerung und zwischen 3 und 58% für Risiko-Populationen betragen. Nach Kampfeinsätzen, Folter und sexuellen Traumata liege sie sogar bei 30 bis 80%, laut den Autorinnen.

Bei Frauen ist diese Prävalenz mit 10% doppelt so hoch wie bei Männern. Die höchste Rate wird bei vergewaltigten Frauen gefunden: 57%.

60 bis 80% der Personen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung weisen als Folge eines Traumas einen so genannten Substanzmissbrauch auf, also Alkohol, Rauschdrogen, Medikamente und/oder Nikotin.

Posttraumatische Belastungsstörungen sind zwar ein neues Forschungsgebiet und deshalb immer in Gefahr, aus verschiedenen Gründen (wissenschaftlich, gesellschaftlich, politisch u. a.) überbewertet zu werden. Das sollte man allerdings nicht, denn das Problem mag zwar so alt sein wie die Menschheit, ist aber auf jeden Fall ernst zu nehmen. An Beispielen mangelt es nicht, ob im näheren Umfeld oder in den fernsten Regionen, durch die Medien (endlich) offenkundig gemacht. Was bei den vorliegenden Zahlen - und in obigem Falle drängt sich das leider ebenfalls auf -, konkreter dargestellt werden sollte, ist die Frage, welche Klientel wann, von wem und wie methodisch untersucht worden ist. Sonst verliert der unbefangene Leser das Vertrauen in die Statistik (der er ja ohnehin nur bedingt traut), auch auf epidemiologischem Gebiet (also der Wissenschaft vom Auftreten und der Verteilung spezifischer Krankheiten).

  • Schizophrenie

Frauen wie Männer weisen ein gleiches Lebenszeitrisiko für Schizophrenie auf, nämlich rund 1%. Das klingt nach wenig, kommt aber über die gesamte Erde verteilt auf rund 60 Millionen Betroffene. Bedeutsam ist dabei ein unterschiedliches Erst-Erkrankungsrisiko, für das vielerlei Erklärungen diskutiert werden. Frauen erkranken durchschnittlich um vier bis fünf Jahre später als Männer und weisen - wenn es sich um Patientinnen vor der Menopause handelt - einen tendenziell günstigeren Krankheitsverlauf auf. Ein zweiter, allerdings kleinerer Erkrankungsgipfel wurde beim weiblichen Geschlecht nach dem 40. Lebensjahr festgestellt, die so genannte "Spät-Schizophrenie". Die ist dann jedoch durch ein schwereres Krankheitsbild charakterisiert. Außerdem erkranken in diesem Zeitabschnitt Frauen doppelt so häufig wie Männer. Sie kommen aber meist in den Genuss einer besseren sozialen Integration, trotz ihres doch ggf. auffälligen Leidens.

Das hat einerseits soziale Gründe (s. o.). Eine häufige Erklärung ist aber auch das weibliche Sexualhormon Östradiol, das eine gewisse Schutzwirkung vor den Wechseljahren auszuüben scheint. Möglicherweise noch wichtiger aber ist die so genannte positive Familien-Anamnese, weniger oft Geburtskomplikationen und seltener krankhafte neurologische Befunde bezüglich ihres eigenen Lebens. Frauen werden deshalb auch kürzer und seltener stationär aufgenommen, nehmen aber häufiger ambulante Hilfe in Anspruch. Dabei gibt es Hinweise, dass Frauen auch eine "andere" Behandlung zuteil wird: Sie bevorzugen eher eine psychotherapeutische Unterstützung, während bei Männern eher rehabilitative Schritte empfohlen werden.

Frauen reagieren auch besser auf sozio- und familientherapeutische Maßnahmen. Sie sollen auch günstiger auf antipsychotische Medikamente (Neuroleptika) ansprechen und (damit?) weniger hohe Dosen erfordern. Und sie weisen eine bessere Compliance auf, d. h. Therapietreue und vor allem Einnahme-Zuverlässigkeit.

Das weibliche Geschlecht ist aber auch - nicht zuletzt wegen seines späteren Erkrankungsbeginns - in einer günstigeren sozialen Position. Frauen sind nicht nur besser angepasst, trotz ihres bisweilen alle, einschließlich sie selber verwirrenden Leidensbildes, sie weisen auch mehr soziale Bindungen auf und können bei Krankheitsausbruch meist auf eine feste Beziehung zurückgreifen. Es konnten zwar keine Hinweise dafür gefunden werden, so die Autorinnen, dass eine Partnerschaft den Ausbruch der Erkrankung hinauszögern würde; wer jedoch schizophren erkrankt ist und noch eine Partnerin oder einen Partner sucht, wird dies durch seine (vor allem schizophrene!) Erkrankung besonders schwer haben, das leuchtet ein.

Das alles erklärt obige Erkenntnis, nämlich dass es in der Therapie der Schizophrenie bei Frauen viel mehr um den Wiedergewinn bzw. Erhalt bestimmter gesellschaftlicher Rollen geht (Partnerin, Mutter), während man beim Mann fast an einen gesellschaftlichen Neuanfang bzw. -aufbau denken muss. Da liegen natürlich für die Heilungsaussichten Welten dazwischen, insbesondere in soziale Hinsicht.

Im Weiteren wurde auch festgestellt, dass schizophrene Frauen ein anderes Krankheitsverhalten, ja zumindest andere Schwerpunkte im Beschwerdebild aufweisen. Frauen leiden generell unter einer stärker ausgeprägten Positiv-Symptomatik, wie man das heute nennt, oder konkret: Halluzinationen (Sinnestäuschungen auf allen Gebieten, vor allem natürlich akustisch = Stimmen), Wahnideen und formalen Denkstörungen. (Inhaltliche Denkstörungen sind - wie der Name schon sagt - Störungen des Inhalts, also was krankhaft gedacht wird, z. B. wahnhaft; formale Denkstörungen sind Störungen der Form, also wie etwas krankhaft gedacht wird: Gedankenabreißen, Gedankenentzug, Gedankeneingebung oder -lenkung, Denkzerfahrenheit und weitere Störungen des Denkens u. a.)

Das erschreckt natürlich zuerst, hat aber wenigstens eindeutigen "Krankheits-Charakter" und entschuldigt damit vieles. Umgekehrt sind die gefürchteten Negativ-Symptome bei ihnen seltener, und die irritieren vor allem durch ihre zwar befremdlichen, aber wenig eindeutigen Beschwerden wie Gemütsverflachung, emotionale Isolationsneigung (Rückzug), stereotype Denkmuster u. a.

Auch ist die Ko-Morbidität (wenn eine Krankheit zur anderen kommt) bei schizophrenen Männern wesentlich höher als bei Frauen. Dies betrifft vor allem die beim männlichen Geschlecht mitunter zusätzlich dramatisch belastenden Alkohol- und Rauschdrogen-Probleme. Auch das Sterblichkeits-Risiko ist beim Mann deutlich höher (wenngleich gegenüber der Allgemeinheit bei beiden Geschlechtern erhöht).

Auch hier wird das Östrogen als einflussreiches Hormon diskutiert, diesmal zum Schutz des weiblichen Geschlechts. Dafür sprechen auch eine Reihe von gezielten Untersuchungen, die durch eine Supplementation (Ergänzung) von Östrogenen eine Besserung des Beschwerdebildes erzielen konnten, auch und vor allem nach den Wechseljahren.

  • Ess-Störungen

Über Ess-Störungen kann man sich heute überall in den Medien ausführlich informieren: Fernsehen, Radio, Zeitungen, Magazine, Vorträge, Sachbücher u. a. Am häufigsten fallen die Begriffe:

- Anorexie: Unfähigkeit zu essen ohne eigentliche Appetitlosigkeit, Weigerung, ein Mindestgewicht zu halten, große Angst vor Gewichtszunahme, schließlich auch heimliches Erbrechen, vor allem aber auch vielfach Tätigkeitsdrang bis hin zur rastlosen Aktivität, Missbrauch von Abführmitteln u. a. sowie

- Bulimie: "Fress-Attacken" mit Kontrollverlust, selbst-induziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, Fasten, übermäßige Betätigung, im Unterschied zur Anorexia vor allem das zusätzliche selbst-induzierte und schließlich fast "automatenhafte" Erbrechen.

Die beiden Ess-Störungen sind allerdings nur die bekanntesten. Es gibt noch eine große Zahl weiterer Ess- und Gewichtsstörungen, die von der extremen Unterernährung bis zur starken Fettleibigkeit reicht (weltweit gibt es etwa 250 Millionen Adipöse).

In Europa sind etwa 15 bis 25% der Frauen und 10 bis 20% der Männer fettleibig. Die Zahl nimmt zu (in den USA liegt sie bei einem mehrfachen davon).

Kernproblem beider Krankheitsbilder ist die so genannte Körperschema-Störung. Insbesondere magersüchtige Patienten überschätzen ihren Körperumfang und halten sich trotz Untergewicht für zu dick. Hier machen sie sich vor allem an charakteristischen Körperpartien der weiblichen Fettverteilung fest (Oberschenkel, Hüfte, Bauch). Meist unterliegt diese "Gewichts-Phobie" einer falschen Wahrnehmung hinsichtlich des Körpers, seien es Umfang oder Körperformen. Durch diesen negativen Einfluss auf das Selbstwertgefühl entwickeln sie strenge Essens-Regeln und -Rituale - und das erwähnte Fehlverhalten.

Von der Anorexie sind hauptsächlich junge Frauen betroffen. Dabei scheint es zwei Erkrankungsgipfel zu geben, nämlich um das 14. und das 18. Lebensjahr. Bei jungen Frauen zwischen 15 und 25 liegt die Prävalenz um ein Prozent. Einzelne Symptome einer Ess-Störung findet man allerdings bis zu 20%. Die Bulimie ist bei jungen Frauen mit drei Prozent deutlich häufiger (zusätzlich einer hohen Dunkelziffer nicht erkannter Fälle). Der Erkrankungsgipfel liegt bei 18 Jahren.

Beide Ess-Störungen betreffen also zumeist Frauen. Männer sind nur in fünf bis zehn Prozent aller Ess-Störungen betroffen.

Die Ursache ist vielschichtig (und deshalb wissenschaftlich auch schwer exakt zu beforschen und damit darzustellen). Es beeinflussen sich gegenseitig psychologische, soziologische, biologische, ja historische und vor allem gesellschafts-typische Faktoren. Zwillings-Untersuchungen sprechen von 50% gleichzeitiger Erkrankung bei eineiigen Zwillingen. In der Familien-Vorgeschichte häufen sich Magersüchtige, aber auch Alkoholismus und Depressionen.

Über die gesellschaftlichen Zwänge muss hier nicht weiter diskutiert werden. Es reicht bereits der Hinweis, dass es Magersüchtige im krankhaften Sinne in den Entwicklungsländern so gut wie nicht, in den hoch-industrialisierten Gesellschaften mit ihrem Nahrungsüberschuss hingegen immer häufiger gibt. Schlankheit = Selbstkontrolle, Erfolg, Kompetenz und vor allem Schönheit. Das setzt besonders Frauen unter Druck, die auch generell deutlich unzufriedener mit ihrer Figur und ihrem Äußeren sind.

Ess-Störungen neigen zur Chronifizierung. Die Gefahr eines vorzeitigen tödlichen Ausgangs liegt um das 12-fache höher als in der Allgemeinheit. Ess-Gestörte sterben auch früher als Patienten mit anderen seelischen Erkrankungen. Mehr als die Hälfte durch direkte Folge der Erkrankung, mehr als ein Viertel durch Suizid und der Rest aus anderen Ursachen. Dies betrifft vor allem die Anorexie, weniger die Bulimie.

Die Ko-Morbidität ist ebenfalls ein großes Problem. Ess-Störungen sind nicht selten kombiniert mit zwanghaften und perfektionistischen Persönlichkeitszügen. Die Betroffenen gelten als erfolgs-orientiert, äußert kritisch sich selber gegenüber, aber auch als gemütsstark, jedoch kontaktgestört mit Neigung zur sozialen Isolierung und zum Verlust der emotionalen Ausdrucksfähigkeit. Häufig sind auch hier - wie in der Vorgeschichte der Angehörigen - Depressionen, Alkohol-, Medikamenten- und Rauschdrogenkonsum, impulsive Verhaltensweisen wie Stehlen, häufiger Geschlechtsverkehr, Kaufsucht, Sozialphobie (krankhafte Angst vor dem anderen schlechthin) sowie Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Selbstverletzungs-Neigung.

  • Suchtkrankheiten

In den letzten drei Jahrzehnten wurden zahlreiche Untersuchungen zum Thema Substanzabhängigkeit (wie Suchtkrankheiten heute genannt werden) und Geschlecht durchgeführt. Trotzdem ist der Ertrag nicht sehr ergiebig, stellen N. Ebner und G. Fischer fest. Immerhin bestätigen sich schon alte Erkenntnisse hinsichtlich Häufigkeit, Mehrfach-Erkrankungen, gesundheitsbezogenen Verhaltens und Krankheitsverlaufs.

So sind Frauen offenbar stärker von einer Suchterkrankung gefährdet, wenn gleichzeitig oder vorausgehend Depressionen, Angststörung und posttraumatische Belastungsstörungen vorliegen. Im Einzelnen:

- Die Alkoholabhängigkeit ist am besten erforscht. Ihre Ursache ist bekannt, nämlich "multi-faktoriell". Das heißt sozio-ökonomisch, Kindheitserlebnisse, psychische und physische (häufig sexuelle) Belastungen, prädisponierende Persönlichkeitsmerkmale, positive Familienanamnese (Erbbelastung), Peergroup-Phänomene (bezüglich der gleichen Altersstufe), schlechtere Ausbildung, Armut, Isolation (z. B. Arbeitslosigkeit, Witwenschaft) sowie bestimmte Merkmale von Auftreten und Verlauf der Erkrankung.

Für Männer gibt es einen Vorteil, den sie erst einmal gar nicht als solchen sehen dürften. Durch ihre breitere Integration in den Arbeitsprozess fallen sie frühzeitiger und vor allem immer wieder auf, wenn sie sich auf der "schiefen Bahn" befinden. Dadurch können (wenn auch nicht wollen) sie eher in eine Behandlung gehen. Und genau das unterscheidet sie von alkohol-gefährdeten oder -abhängigen Frauen, bei denen man eher von einer "stillen Sucht" spricht.

Viel bedeutsamer als früher geglaubt sind auch die genetischen Belastungen. So erkranken bei eineiigen Zwillingen mehr als die Hälfte gemeinsam, was allerdings für beide Geschlechter zutrifft. Bezüglich der körperlichen Folgen ist man sich uneins. Einige Studien sprechen von geringeren Gehirnschäden bei Frauen, was man auf den gefäß-schützenden Effekt der Östrogene zurückführt. Andere finden das Gegenteil bis hin zur Hirnatrophie. Was die Frau jedenfalls häufiger, stärker und folgenschwerer trifft sind toxische Leberschädigungen durch Alkohol.

Bei beiden Geschlechtern findet sich auch eine verzögerte Spermio- und Ovo-Genese (körpereigene Produktion von Samen- und Eizellen). Die Folgen sind Unfruchtbarkeit. Bei der Frau kann es auch zu erhöhten Früh- und Fehlgeburts-Raten kommen. In der Literatur findet man immer wieder Hinweise auf untergewichtige Neugeborene, eine erhöhte Sterberate um die Geburt herum und das so genannte fötale Alkoholsyndrom (körperliche Veränderungen bis hin zu abnormen Entwicklungen im zentralen Nervensystem).

Eine weitere Abhängigkeit, die meist mit dem Alkoholismus verbunden ist und im Übrigen auch die häufigste Todesursache bei Alkoholabhängigen darstellt, ist das gemeinsame Auftreten von Alkohol- und Nikotinsucht. Das leitet zum nächsten Kapitel über, nämlich

- Nikotin-Abhängigkeit: Jährlich sterben etwa zwei Millionen Menschen an den Folgen des Rauchens. Bisher waren das vor allem Männer, in letzter Zeit immer mehr Frauen. Während Männer offenbar zur Vernunft kommen (von 52 auf 28% gesunken), fällt diese gesundheitlich zwingende Reduktion bei Frauen in den letzten Jahren viel mäßiger aus, nämlich von 34 auf 23%. Besorgnis erregend ist der Zigarettenkonsum unter Gymnasialschülern und hier vor allem bei Mädchen. Offenbar haben die weltweit angelegten Präventionskampagnen versagt, oder man hat die geschlechtsspezifische Berücksichtigung versäumt. Wenn man es vereinfacht betrachtet, dann scheint sich bei Männern mehr eine Art biologische Abhängigkeit in den Vordergrund zu schieben, während es bei nikotinabhängigen Frauen eher oder zumindest zusätzlich bedeutsam psychosoziale Faktoren sind, die dann auch die Therapie erschweren.

Für beide Geschlechter sind die körperlichen Folgen gleich problematisch (wobei der Gewichtsverlust Frauen natürlich eher entgegen kommt), doch haben Frauen mehr organische Angriffspunkte als Männer, vor allem was Krebs anbelangt. Außerdem die verfrühten Wechseljahre, die erhöhte Gefährdung durch Osteoporose und nicht zuletzt die Risiken in der Schwangerschaft für das Ungeborene.

Was die Rückfallgefahr anbelangt, sind Männer offenbar mehr durch "entspannte" und Frauen eher durch belastende Situationen gefährdet.

- Die Rauschdrogen müssen differenzierter gesehen werden, generell und was die Geschlechts-Belastung anbelangt:

- - Interessanterweise liegt bei Kokain das Alter des Erstkonsums bei Frauen niedriger, und zwar im Unterschied zu allen anderen Rauschdrogen. Gilt es dabei auch biologische Aspekte zu berücksichtigen? Offenbar sind auch hier hormonelle Aspekte bedeutsam, insbesondere wiederum die Östrogene. Unterschiede gibt es auch auf neuropsychologischer Ebene. Hier scheinen Frauen eher auf die psychomotorische Aktivierung, Männer mehr auf die euphorisierende Komponente des Kokains anzusprechen. Was die Mehrfach-Erkrankungen anbelangt, fällt bei Frauen vor allem die hohe Zahl an ess-gestörten Kokainsüchtigen auf (wobei Patienten mit einer Ess-Störung ohnehin verstärkt sucht-anfällig sind). Umgekehrt finden sich bei kokain-abhängigen Männern gehäuft dissoziale Persönlichkeitsstörungen mit dann natürlich verstärkten Impulsdurchbrüchen bis hin zu gehäuften Inhaftierungen. Auch kombinieren Männer eher Kokain und Alkohol, was seine eigenen Gefahren entwickelt.

- - Opioide zeigen schon historisch eine gewisse Affinität (Nähe) zum "weiblichen Missbrauch". Dies bezieht sich vor allem auf opiat-haltige Medikamente und hier besonders in einer Zeit, als diese Substanzen noch nicht verschreibungspflichtig, geschweige denn durch eine Betäubungsmittel-Verschreibungsordnung gesteuert waren. Als dies geschah, holten die Männer auf und überflügelten schließlich das weibliche Geschlecht, was Missbrauch und Sucht der Opioide anbelangt. Das hat sich bis heute nicht geändert und basiert vor allem auf der verheerenden Heroin-Abhängigkeit.

Wesentliche Unterschiede auf seelischem, körperlichem und psychosozialem Gebiet sind in geschlechtsspezifischer Hinsicht nicht bekannt geworden. Die Behandlung opioid-abhängiger Frauen ist allerdings ein Problem, vor allem wenn noch andere (seelische) Krankheiten hinzukommen. Die höhere Behandlungs-Abbruchrate bei Frauen scheint aber auch auf deren familiäre Situation (kleine Kinder - wenig Zeit) und die hohe soziale Stigmatisierung von opioid-abhängigen Frauen zurückzugehen.

ABSCHLIEßENDE HINWEISE FÜR DIE PRAXIS

Zum Abschluss geben Frau Dr. N. Ebner und Frau Prof. Dr. G. Fischer von der Universitätsklinik für Psychiatrie in Wien noch einmal konkrete Hinweise für den Alltag, was aus psychiatrischer Sicht zu beachten ist:

- Geschlechts-Unterschiede nur biologisch zu sehen, zu werten und sich in der praktischen Arbeit danach zu richten, ist wenig ergiebig. Es gilt auch soziale und ökonomische Faktoren zu berücksichtigen. Das bedeutet zwar mehr Aufwand, lohnt aber; der Erfolg wird Recht geben.

- In der Ursachen-Forschung und sogar in der Erprobung neuer Therapieansätze einschließlich Psychopharmaka orientieren wir uns immer noch zu oft an rein männlichen Gesichtspunkten. Das hat sich als Irrtum erwiesen, den es zu korrigieren gilt. Und dies nicht nur im Sinne der weiblichen Betroffenen, auch im Sinne des erwähnten Behandlungs-Erfolges, was ja auch den Therapeuten zu Gute kommt.

- Bei den einzelnen Krankheitsbildern fallen zum Teil erhebliche Geschlechts-Schwerpunkte auf. Dazu gehören beispielsweise

- - die Depressionen, die Frauen doppelt so häufig heimsuchen. Dabei sind sowohl endokrinologische und genetische als auch psychosoziale Einflüsse zu berücksichtigen. Hier können vor allem Männer durch das Diagnose-Netz fallen, weil sich ihr spezifisches Beschwerdebild oft nicht mit dem deckt, was man gemeinhin als depressive Stimmung erachten würde.

- - Posttraumatische Belastungsstörungen sind meist Folge von Gewalt-Erfahrungen: Kriege, Naturkatastrophen, in der westlichen Welt vor allem sexueller Missbrauch, Vergewaltigung u. a. Frauen sind doppelt so häufig heimgesucht und laufen ohne professionelle Unterstützung Gefahr, sich zusätzlich in Depressionen zu verlieren oder in Suchterkrankungen zu verstricken.

- - Bei der Schizophrenie sind zwar beide Geschlechter gleich stark betroffen, doch erkranken Frauen meist später, d. h. sind bereits besser sozial integriert. Sie nehmen auch häufiger ambulante Hilfe in Anspruch, was beides zusammen eine günstigere Prognose ergibt. Psychosozial kann man es auf einen Nenner bringen: Frauen sollten beim Wiedergewinn bestimmter Rollen unterstützt werden, Männern muss beim Neuaufbau geholfen werden.

- - Die Anorexie ist bei Frauen nach wie vor häufiger, Männer ziehen allerdings nach. Die oft normal gewichtigen Bulimie-Patienten sind besonders schwer zu erkennen, was sich für die (meist verspätete) Diagnose und damit Therapie negativ auswirkt.

- - Die Alkoholabhängigkeit ist bei genetischer Vorbelastung für beide Geschlechter problematisch; man achte deshalb auf Kinder und Jugendliche aus Alkoholiker-Familien. Zwei Drittel sind Männer, aber meist offenkundig. Das hat nicht nur Nachteile. Denn bei Frauen bleibt die Alkoholabhängigkeit häufiger und länger unerkannt oder verschwiegen ("stille Sucht"). Das hat allerdings auch mit den psychosozialen Konsequenzen der Alkoholkrankheit zu tun, die besonders beim weiblichen Geschlecht mit ausgeprägter gesellschaftlicher Stigmatisierung einhergeht. Die Gefahr des Suizids ist allerdings bei Männern größer.

- - Rauschdrogen schienen bisher eine Männer-Domäne zu sein, doch bleiben Frauen nicht verschont, vor allem, wenn sie zusätzlich Depressionen oder Angststörungen haben (entgleiste Selbstbehandlungsversuche?). Auch Gewalterfahrungen, besonders sexueller Missbrauch sind oft beteiligt. Bei der Medikamenten-Abhängigkeit war zumindest früher die Frau überdurchschnittlich häufig bedroht.

SCHLUSSFOLGERUNG ZUM BUCH

Der Gender-Medizin gehört die Zukunft. Das ist gut so. In Forschung und Lehre (?) des universitären Bereichs ist sie inzwischen fest etabliert. Außerhalb dürfte es noch eine Weile dauern, bis sie befriedigend in Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation Eingang gefunden hat. "Gender-Medizin muss gelebt werden", schreibt der Rektor der Medizinischen Universität Wien in seinem Geleitwort. Dieses Buch ist das erste seiner Art im deutschen Sprachraum, das sich so intensiv und ausführlich mit diesem Thema beschäftigt, schließt sich der Vorstand des Instituts für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Wien in seinem Vorwort an. Das ist sein großer Vorteil: Wegbereiter, wissenschaftliches Stimulans, Diskussions-Förderer, Leitfaden für Klinik und Praxis.

Einen Sammelband aus einem Guss gibt es nicht. Das weiß jeder und das findet man auch in diesem Buch bestätigt. Sich hier jetzt kritisch zu verlieren hieße nur, die eigentliche Aufgabe des Werkes an eine nachgeordnete Stelle zu rücken. Das aber genau sollte man vermeiden, denn hier geht es um mehr: Die Erweiterung eines der bedeutsamsten Themen menschlichen Lebens, nämlich vom biologischen zum sozialen Geschlecht (Gender). Damit erfüllt das Buch seinen Pionier-Auftrag und zieht hoffentlich weitere Werke gleichen Themas nach sich (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).