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J. Hurth:
ANGEWANDTE HANDELSPSYCHOLOGIE
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2006. 260 S., zahlreiche Abb. u. Tab., € 30,00.
ISBN 3-17-019485-2

Die Seelenkunde, heute Psychologie genannt, imponierte gegenüber ihrer älteren "Psycho-Schwester", der Seelenheilkunde, der jetzigen Psychiatrie, schon immer als thematisch beweglicher, innovativer, durchaus PR-aktiver (was kein Manko ist, heutzutage schon gar nicht).

Man muss allerdings auch zugeben, dass ihr dies leichter gemacht wird. Es ist schon ein Unterschied, ob man sich "hauptamtlich" mit so ggf. schweren, langfristigen und vor allem psychosozial beeinträchtigenden Krankheiten wie Schizophrenie, Alkoholismus, Rauschdrogensucht, Medikamentenabhängigkeit, Depressionen, Alzheimer, sonstige Demenzen, auch mit den gesellschaftlich etwas weniger stigmatisierenden Angststörungen, Erschöpfungsreaktionen, posttraumatischen Belastungsstörungen, mit Burnout oder den inzwischen diagnostisch und therapeutisch "explodierenden" Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen beschäftigen muss. Oder mit so "spannenden" Bereichen bzw. Arbeitsgebieten wie die Entwicklungs-, differentielle- (Persönlichkeitsforschung), Tier-, vergleichende, Sozial-, Völker-, Kultur-, politische, Religions-, Arbeits-, Berufs-, pädagogische, Interventions-(Psychotherapie), klinische, medizinische, forensische, Pharmako-, Sport-, Wehr-, ökologische, Medien-, Ernährungs-, Erziehungs-, Instruktions- sowie Sozialisations-Psychologie u.a.m. Das ist nur ein Ausschnitt aus einer Klassifikation, wie sie die American Psychological Association (APA) vorstellt, derzeit über 30 Hauptgebiete, in Zukunft noch mehr und dazu reichlich Nebengebiete, Sub-Disziplinen usw.

Eine der interessantesten psychologischen Forschung- und Beratungs-Bereiche ist die Wirtschaftspsychologie, zu der auch die Betriebs- und Werbepsychologie gehören. Und die so genannte Handels-Psychologie.

Sie basiert auf der immer noch reichlich unbekannten Erkenntnis, dass die Menschen bei weitem nicht so rational sind wie sie glauben. Das ist übrigens die Einleitung des Buches Angewandte Handelspsychologie von Professor Dr. Joachim Hurth von der Fachhochschule Braunschweig-Wolfenbüttel, Fachbereich Handelsbetriebslehre in Wolfsburg.

Ziel seines Buches - im Übrigen nicht das erste und sicher auch nicht das letzte dieser Art - ist es, "der rationalen, instrumentellen Herangehensweise an praktische Fragestellungen des Handels das hinzuzufügen, worum es wirklich geht: den Menschen". Die Wissenschaft habe sich inzwischen zunehmend vom "Homo oeconomicus" verabschiedet. Denn - so die psychologischen Erkenntnisse - der Mensch kann sich mit seiner beschränkten Auffassungsgabe immer nur um einen kleinen Ausschnitt der Realität kümmern. Man versucht ein paar Alternativen, wägt kurz ab und trifft seine Wahl. Unsere Entscheidungen - so der Autor - beruhen nicht auf komplizierten Rechnungen, sondern auf "Daumen-Regeln". Das Urteilen wird durch Emotionen beeinflusst und durch Vorurteile (Schemata) bestimmt sowie von intuitiven Schlüssen gefolgt. Der Konsument neigt dazu, Merkmale, über die entsprechende Informationen fehlen (und das tun sie in einer komplexen Welt wie der unseren fast immer), so zu beurteilen, dass die auf der Basis der verfügbaren Informationen beste Alternative ausgewertet wird. Man redet sich also ein, dass diese Alternative, die man bevorzugt, die beste sei. Ja, die Psychologen gehen sogar noch weiter: Im Grunde urteilen wir stets so, wie wir aufgrund unserer Gefühle urteilen möchten.

Das ist an sich nachvollziehbar, denn menschliche Entscheidungsprozesse beruhen nun einmal auf der begrenzten Kapazität und Motivation, Information aufzunehmen und zu verarbeiten. Der durchschnittliche Konsument benutzt zur Entscheidungsfindung nur einen geringen Teil der angebotenen Informationen (konkret - so die Psychologen - nur etwa 7 gleichzeitig, das können wir verarbeiten). Werden wir gezwungen, noch mehr Informationen aufzunehmen, führt das zu keinem Gewinn, sondern kann sogar die Effizienz der Entscheidung reduzieren.

Tatsächlich sollen 95% unseres Denkens im Unbewussten (hier leider wieder der alte terminologische Fehlgriff, in dem sogar ein Psychologe von "Unterbewusstsein" spricht, was es aber nur im Volksmund gibt, der Fachbegriff lautet nun mal unbewusst bzw. das Unbewusste), tatsächlich sollen also nur etwa 0,004% der aufgenommenen Informationen in das Bewusstsein gelangen. Genau genommen sind es aber nur die Endprodukte unbewusster Prozesse in diesem unserem Bewusstsein. So glauben wir zwar, dass wir unsere Handlungen wissentlich steuern, aber das ist eine Illusion. Schon deshalb ist es unmöglich, unser Verhalten in toto vorherzusehen. Wir müssten - eine originelle Formulierung - ansonsten "unser eigenes Denken überholen".

Das gilt übrigens auch für die Vergangenheit und unsere Erinnerung daran. Unser Bewusstsein gibt unseren Aktionen im Nachhinein einen Sinn: "Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun" (W. Prinz).

So gibt es immer wieder große Abweichungen zwischen Kauf-Absicht und tatsächlichem Kauf-Verhalten. Das hat auch mit der Marke, ihrer gesellschaftlichen Position bzw. - noch trockener formuliert - mit ihrem Werbe-Effekt zu tun. Das betrifft nicht nur den ganz banalen Alltags-Handel, das betrifft auch die Wahl von Medikamenten oder sonstigen Heilmitteln, wenn der Kunde/Patient einen Einfluss darauf hat, zumindest aber gefragt wird.

Die Alltags-Sprache ist übrigens ein empfindlicher Gradmesser solcher Entwicklungen. So fällt beispielsweise auf, dass vormals objektive Gegebenheiten jetzt zunehmend "subjektiviert" werden. So verweist beispielsweise der Wetterbericht auf "gefühlte" Temperaturen, die von der gemessenen Gradzahl deutlich abweichen können. Und es gibt sogar den "gefühlten" Donnerstag, wenn ein verlängertes Wochenende mit freiem Freitag bevorsteht.

Kurz: Es ist spannend und wir sollten uns hier etwas mehr einlesen, nicht zuletzt zu unserem eigenen Vorteil. Und selbst wenn uns das Unbewusste weiterhin in seinem Sinne steuert, bis hin zum "irrationalen Griff in die Regale", so ist es doch amüsant zu hören, was sich hier alles abspielt und vor allem: was mit uns gemacht wird.

Dem dient die Angewandte Handelspsychologie von Joachim Hurth. Sie beschränkt sich zwar auf das Wesentliche, kommt dann aber auch auf über 250 kleingedruckte Seiten, allerdings durch zahlreiche Tabellen und Abbildungen aufgelockert. Auch ist sie flüssig zu lesen, wenn auch das theoretische Fundament nicht vernachlässigt wurde. Man spürt aber in allen Kapiteln, dass sich hier ein Fachhochschul-Professor der praxis-orientierten Forschung und Lehre verpflichtet fühlt.

Angesprochen sind vor allem Studenten der Handelsbetriebslehre und des Marketings. Doch es können auch Kunden, d. h. wir alle Einblick in die Abläufe "da draußen" gewinnen. "Im Grunde ist jeder ein kleiner Psychologe", meint der Autor, weil wir tatsächlich oft (wenn auch nicht ständig) wissen wollen, was sich da alles abspielt, mit uns, unseren Wünschen, Befürchtungen, Sehnsüchten, Vorurteilen, kurz mit unserer Seele und hier vor allem mit dem erwähnten Unbewussten.

Was wird geboten? In der Sparte Grundlagen Themen wie Konsumentenverhalten und Marktpsychologie, Handelsmarketing und -psychologie, Käuferverhalten (was will der Kunde, warum zögert er, wofür interessiert er sich, was beeinflusst ihn und wo kauft er ein). Im Kapitel Preispolitik die Preis-Optik und -Strategien, die "Geschenke", die natürlich nicht umsonst sind und das Knappheits-Prinzip. Spannend die Werbung: Strategie und Technik, verhaltenswissenschaftliche Grundlagen, sozialtechnische Gestaltung einschließlich Prospekte, Handzettel u. a. Aufschlussreich auch das Kapitel über Laden-Gestaltung, Warenpräsentation und Sortiment (von der Atmosphäre und dem Erlebniskauf zur kundenorientierten Warenplatzierung). Und nachdenklich stimmend die Kapitel Persönlichkeit und Motivation der Verkäufer mit den Schwerpunkten Verkaufsprozess, Selbstbedienung, Service-Irrtümer. Am Schluss das psychologische Marketing-Mix von der Kundenzufriedenheit über die Kundenbindung bis zu konkreten Beispielen psychologisch betrachtet.

Muss man so etwas studieren? Nur die, die es müssen. Kann es nützen? Ja, und es kann sogar Spaß machen, sich kopfschüttelnd vor Augen zu halten, was mit uns alles angestellt wird, im Sinne von: "Wir wollen nur Ihr Bestes - nämlich ihr Geld...". Aber Spaß beiseite, es ist eine erfrischende Lektüre, gut geschrieben, wissenschaftlich fundiert und hilfreich für den Alltag, auch wenn uns das Unbewusste immer wieder an der (eigenen) Nase herumführt (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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