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Stephanie Bauer, H. Kordy (Hrsg.):
E-MENTAL-HEALTH
Neue Medien in der psychosozialen Versorgung
Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2008. 350 S., 52 Abb., € 34,95
ISBN: 978-3-540-75735-1

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Wir sind fasziniert von den elektronischen Möglichkeiten unserer Zeit – und beunruhigt sind wir auch. Was sich da in den letzten Jahren rein technisch bewegt hat, was da praktisch Monat für Monat an Innovationen vorgestellt wird, übersteigt den Verständnis-Bereich der meisten bei weitem. Einige – technisch versiert und manche schon gierig – stürzen sich förmlich auf die neuen Möglichkeiten. Einige halten sich ebenfalls nicht zurück, und zwar mit Kritik und gehen in Abwehr-Position. Die meisten warten ab. Schließlich erinnert man sich mit Schmunzeln an die entsprechenden Reaktionen von Telefon, Radio u. ä. und wartet geduldig, bis sich der Spreu vom Weizen trennt. Denn es geht schließlich nicht nur um die technische Perfektion, die sich ohnehin über unsere Köpfe hinweg abspielt, es geht auch um die Machbarkeit, ein gesundes Verhältnis zwischen Aufwand, Ziel und Ergebnis. Und im psychosozialen Bereich darf auch noch die Frage diskutiert werden, ob sich hier in einer immer kälter, unpersönlicher und hektischer werdenden Welt nicht noch mehr „entseelende Momente“ einschleichen. Kurz: abwarten.

Abwarten ja, aber mit Interesse, mit konstruktiver Neugier, mit der Bereitschaft die Vorteile zu sehen, umzusetzen – und die damit notwendigerweise verbundenen Nachteile vernünftig abzuwägen. Diese Entwicklung heißt E-Mental-Health: Neue Medien in der psychosozialen Versorgung. Was bedeutet das konkret? Das Inhaltsverzeichnis gibt Aufschluss und nennt beispielsweise:

Computervermittelte Kommunikationen der psychosozialen Versorgung, wobei Technik-Entwicklung, Datenschutz und Datensicherheit genauso beachtet werden müssen wie das Fern-Behandlungsverbot als rechtliche Grenze im Einsatz neuer Medien. Dazu konkrete Anwendungsbeispiele: Förderung der Tabak-Abstinenz durch neue Kommunikations-Medien und Expertensysteme, beispielsweise durch kontinuier­liche(!) Experten-Unterstützung von Verhaltensänderungen; die internet-gestützte Intervention zur Prävention von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Patienten mit körperlichen Verletzungen; die internet-basierte Kommunikation im Kompetenz-Netz „Depression und Suizidalität“; die internet-basierte Prävention bei Ess-Störungen (ES(S)PRIT); vom Telefon zum Internet: Online-Beratung durch Telefonseelsorge; die internet-basierte Psychotherapie „Interapy“; Verbesserung der Lebensqualität für krebskranke Kinder und Jugendliche mittels Internet (Onko-Kids-Online); die Expositions-Behandlung von Flug-Phobie mit Hilfe virtueller Realität (VRET); die virtuelle Realität in der psychologischen Behandlung (EMMA); SMS-basierte Nachsorgeprogramme; Nachsorge nach stationärer Psychotherapie mittels Chat- und E-Mail-Brücken; Online-Nachsorge nach stationärer multimodaler Schmerztherapie u. a.

Und was sagen die Teilnehmer und Therapeuten? Dazu entsprechende Kapitel, die nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch Grenzen ausleuchten (Online-Nachsorge-Schwierigkeiten einer Fernbeziehung). Und was nicht fehlen darf: Ausblick mittels Forschungs-Perspektiven vom computer-gestützten Feedback einschließlich Behandlungsplanung bis zur Optimierung der Kommunikations-Technologien in der Gesundheitsversorgung einschließlich Zugänglichkeit und Erreichbarkeit von Gesundheitsleistungen usw. usf.

Wer diese Überschriften gelesen hat, muss erst einmal tief durchatmen, auf jeden Fall wenn er sich zu den bisher konventionellen Therapeuten oder potentiellen Klienten zählt. Das ist allen Beteiligten einschließlich Befürwortern mit praktischer Erfahrung klar. Doch sie fragen sich auch: Wie neu sind eigentlich die „Neuen Medien“ noch? Kann man erwarten, dass sich der wichtigste Bereich des menschlichen Lebens, nämlich die Gesundheit, aus dieser Entwicklung raushalten lässt? Ist alleinige Skepsis und kritische Distanz ausreichend, um Neuerungen adäquat zu prüfen? Würde man sich bei reiner Verweigerung nicht schuldig machen, weil sich da oder dort ein echter Fortschritt, vielleicht sogar Durchbruch abzeichnet? Muss man nicht auch der E-Health-Entwicklung eine Entwicklungs- bzw. Irrtums-Phase einräumen, bis schließlich Möglichkeiten und Grenzen ausgelotet sind? Unkenntnis, Unwilligkeit, grundsätzliche Opposition gegenüber allem Neuen ist jedenfalls kein Argument, auch nicht in verkleideter, vielleicht sogar beredter Form. In der Tat gibt es sogar Krankheitsbilder, die auf diese Weise eher erreicht werden können als im Alltag von Praxis, Ambulanz oder gar Klinik (z. B. die Soziale Phobie, die in ihrer beschämten Verschwiegenheit und Rückzugs-Neigung häufiger ist, als man denkt).

Erkennen (d. h. mühselig studieren), akzeptieren (vorerst nach ausreichendem Pro und Contra) und schließlich in vertretbarem Maße nutzen, das gilt nicht nur für die Technologien von früher, deren Fehlen wir uns überhaupt nicht mehr vorstellen können, das gilt auch für Internet und Mobiltelefon in der psychotherapeutischen Beratung (ggf. sogar Verlaufs-Behandlung) und gilt für die moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), die Stellung, Verbreitung und Austausch von beispielsweise gesundheitlich relevanten Informationen ermöglichen. Und zwar anpassbar, rasch anpassbar, was heute angesichts wachsender Mobilität und Migration sogar die Grundlage effektiver Arbeit ist, nicht zuletzt im psychosozialen Bereich.

Das Potential ist also gewaltig, aber auch die Unwissenheit und damit Ungewissheit sind derzeit noch groß, geben die Experten zu bedenken. „Der Grat zwischen Mut und Übermut ist schmal. Neugier und Mut sind aber genauso vonnöten wie umsichtige Vorbereitung“, so die Herausgeber. Nur eine solide, selbstkritische und nachhaltige Forschung wird uns auch erfolgreiche Werkzeuge der Zukunft an die Hand geben. Dazwischen aber liegt die Weitergabe erarbeiteten Wissens. Und das gehört immer mehr in den Bereich der erwähnten neuen Kommunikations-Technologien, aber auch des „alten“, solide abgesicherten, stets physikalisch greifbaren und Sicherheit vermittelnden Fachbuches.

Ein solches ist der Sammelband von Dr. Stephanie Bauer und Dr. Hans Kordy von der Forschungsstelle für Psychotherapie des Universitätsklinikums Heidelberg: E-Mental-Health – Neue Medien in der psychosozialen Versorgung. Ein interessantes Buch, besonders für Skeptiker, die sich aber ein großes Herz bewahrt haben, und zwar nicht nur für den technologischen Fortschritt, sondern auch für eine erst einmal begrenzte, später sicher wachsende und bei sorgfältig abgewogenem Einsatz nutzbringende Vorsorge (Aufklärung!) und Nachsorge, von den geradezu ungeheuerlichen Informationsmöglichkeiten interessierter Laien, Betroffenen und auch Fachleuten ganz zu schweigen.

Ein interessantes Buch, dem sicher viele folgen werden, was beweist: E-Mental-Health ist nicht aufhaltbar, dafür aber selektiv nutzbar (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).